Ahmed Bey von Eminönü

Es ist schon Jahre her, damals in Istanbul. Es war dort wieder mal Winter. Wir stapften vom Galaterturm durch die engen Kopfsteinpflaster-gassen, über die Brücke, hinüber in Richtung Eminönü. Der Wind blies eiskalt ins Gesicht. Ich bedeckte den Kopf mit dem Tuch, um dieser Kälte zu entgehen. Da passierte es. Ich stolperte. Der Absatz bricht ab.
Was tun? In ein Schuhgeschäft? Aber wo? "Wieso denn das? Wir sind doch gleich in Eminönü", erklären mir meine Begleiter. "Dort sind die Ayakkabı boyacısı, die Schuhputzer, die reparieren auch". Ja, da sitzen sie, damals wie heute, nebeneinander aufgereiht, mit ihren blitzblanken Messingkisten, die Schuhputzer und warten auf Kundschaft.

Bei Ahmed bleibe ich stehen. Er lächelt, lässt einen Stuhl holen und schickt den Jungen nach Tee. "Ver onu!" - gib her - befiehlt er mir und macht sich an die Arbeit. Sorgfältig entfernt er den Schmutz am Stiefel, feilt ein bißchen an den Kanten, sucht nach einem passenden Lederstück, schneidet es zurecht, nagelt es vorsichtig, hält den Kopf schief, guckt kritisch und zieht einen Nagel wieder heraus. "İyi değil" - nicht gut - erklärt er und nagelt erneut. Er schneidet die Ecken, passt alles an und betrachtet dann sein Werk. Er ist zufrieden. Ich bin es auch und will die Stiefel nun anziehen, denn es ist kalt. Doch falsch gedacht. Er wickelt meine Füsse in eine Decke und beginnt nun noch sein Putzritual.


Und irgendwann sind sie dann wieder wie neu, meine Stiefel. Er strahlt.  Das Ritual des Zahlens beginnt. Wie immer. Er benennt einen Preis. Mir ist das zu wenig. Er will es nicht annehmen. Er ziert sich ein bißchen. Doch dann steckt die Lira erfreut in seine Hosentasche. Mein Weg zurück hoch zum Galaterturm beginnt. Die Füsse werden wieder warm. Ich bin zufrieden. Doch irgendetwas ist schief. Im Hotel angekommen merke ich es - eine der Einlagen für das bequeme Laufen ist weg. Das ist sehr ärgerlich, denn ich laufe viel. Ich entferne die andere und bin böse mit mir, weil ich mal wieder nicht genug aufpasse. Und am nächsten Tag ist es dann auch etwas unbequem, denn ich laufe viel in Istanbul. Wir haben einen Termin ganz in der Nähe und ich will doch noch einmal bei Ahmed vorbeischauen. Es ist nicht zu glauben! Er erkennt mich zuerst, hält die Hand hoch, hat die Sohle in der Hand und ruft laut "Abla!". Wir passen sie an und ich laufe den Rest des Tages wieder schief, dafür aber glücklich. So ist Ahmed, einer der Schuhputzer von Eminönü, den ich nicht vergessen werde.

10 Jahre später bin ich wieder auf der Brücke auf dem Weg nach Eminönü. Diesmal ist es April und der Wind bläst wieder. Das erinnert mich an Ahmet. Ob ich ihn wieder finden werde? Aus der Entfernung mustere ich die Gruppe der Schuhputzer. Nein. Er ist nicht da. Das wäre auch ein zu großes Glück gewesen, ihn 10 Jahre später wieder an derselben Stelle zu entdecken. Ich sehe mir einen Stand nach dem anderen an. Er wird es aufgegeben haben, das Schuhputzen. Ich kann das verstehen. Jeden Tag, bei jedem Wind und Wetter, zwar ein bißchen geschützt, aber dennoch der Witterung ausgesetzt. Da ist dann vielleicht doch irgendwann Schluss mit diesem Beruf. Andere haben seinen Platz eingenommen, warten auf Kundschaft. Alles ist wie immer. Nur eines hat sich verändert. Das Transistorradio ist dem Smartphone gewichen. Sie telefonieren, spielen oder hören einfach nur Musik - und warten auf Kundschaft.

Doch HALT! Ist er das etwa doch? Ja das ist er! Ich gehe auf ihn zu. "Schuhputzen?" fragt er mich höflich? "Nee, jetzt noch nicht," antworte ich und krame in meinem Rucksack. Ich hocke mich vor ihn hin und hole meinen redMac raus. Ich heb doch alles auf, denke ich, da muss ich sie doch noch haben, diese Bilder von damals. Ahmed betrachtet mich amüsiert. "Was machst du da, abla", fragt er verwundert. "Gleich hab ichs, warte", antworte ich und lege den Mac in seine Hände. "Guck." Er guckt und guckt, sagt nix und guckt und guckt. Eine ganze Zeit lang. "Das bin ich," ruft er plötzlich aufgeregt. Er steht auf, nimmt den Rechner und rennt rum. "Das bin ich, guck!" erklärt er der Losverkäuferin, die ein paar Meter weiter steht. Und dann geht er weiter. "Das bin ich!" Jeder Kollege muss sich das anschauen. "Ja das bin ich" murmelt er immer wieder und guckt mich dabei strahlend an.

Irgendwann klappt er den Rechner zu, gibt ihn zurück, ruft seinem Kollegen etwas zu, nimmt meine Hand und schiebt mich in ein Café.
"Das feiern wir. Möchtest Du Tee?" Und er sitzt mir gegenüber und strahlt und erzählt und erzählt. Und wieder mal versteh ich kaum etwas, alles geht so schnell. "Ich komm zurück", verspreche ich beim Abschied, "dann bringe ich Dir das Bild. Und ich bringe Selçuk mit. Er versteht Deine Sprache besser als ich. Dann können wir reden." "Das musst Du mir versprechen" gibt er mir mit auf den Weg. "Ich werde warten. Du weisst ja, wo ich bin." 
Ja, in Eminönü. Auch ihr könnt ihn dort finden.



Irgendwie ist das Leben manchmal doch schön! ...
 ... Irgendwie ist das Leben manchmal doch schön!


Danke Ahmed bey!




Lasertag – (K)ein Spiel für Kids?

"Wir feiern morgen bei Lasertag!" ruft Mike fröhlich. "Ihr feiert wo??" frage ich erstaunt. 12 Jahre wird er alt. Da werden Geburtstage nicht mehr mit Topfschlagen und Luftballonzerpieksen in der eigenen Wohnung gefeiert. Es geht raus. Bei Kindergeburtstagen tobt man im Schwimmbad, geht ins Dinosaurier- oder ins Postmuseum, auf eine Bowlingbahn oder auch mal zu McDonalds.
Aber zu Lasertag? Ich kenne einige dieser Arenen. Es sind dunkle Räume mit futuristisch gestalteten Neonlandschaften mit verwirrenden Nebelwolken, in denen Teams zu laut tönender Musik gegeneinander spielen. Sie versuchen, die Personen des anderen Teams mit Phasern zu markieren, um als der Punkte-Sieger aus dem Spiel hervorzugehen. Hierzu muss man schnell und wendig sein, sich aber auch immer wieder mit der eigenen Gruppe eine Strategie ausdenken, um das andere Team zu schlagen. Das ist doch eher etwas für Ältere, denke ich und frage verdutzt: "Ist euch da wirklich GARNIX anderes eingefallen?" "Wir gehn alle! Papa, Mama und Mona geht auch mit," bekomme ich zur Antwort. Mona? Mona ist ungefähr 8 Jahre alt!

Kids spielen Lasertag? Das will ich mir ansehen. Ich verabrede mich mit einer Studiengruppe bei LaserZone in Frankfurt. Es ist Wochenende. Da ist die Arena für Kindergeburtstage reserviert. Die Studiengruppe hat zwei verschiedene Beobachtungsfolien, die wir der Wikipedia Beschreibung zu Lasertag entnommen haben:
"Lasertag ist ein Räuber und Gendarm Spiel."
"Lasertag ist ein Kriegsspiel." 
Die Gruppen beobachten die Kinder, ordnen ihre Beobachtung den jeweiligen Beschreibungen zu und begründen ihre Wahl. So ist unser Plan.

Doch wir müssen umdenken, denn bereits der Eingang zur Arena unterscheidet sich von den bisher besuchten Arenen. Es ist kein dunkler, durch bunte Neonbeleuchtung futuristisch anmutender Raum, der in eine geheimnisvolle Welt führt. Uns erwartet eine helle, bunte große Eingangshalle mit verschiedenen elektronischen Spielgeräten, einer Theke und daneben der Eingang zur eigentlichen Arena. Tische und Bänke sind aufgestellt. Überall sausen grössere aber auch 'etwas kleinere' Kinder durch die Halle. Sie spielen an den Geräten, sitzen auf Barhockern, albern rum oder stehen an den Anzeigetafeln und vergleichen ihre Ergebnisse, Papa an der Hand. Die Mütter sind beschäftigt. Sie richten die Geburtstagstafeln. Kuchen und Gebäck werden hereingebracht, aus großen Körben Geschirr, Besteck und Servietten hervorgeholt. Es sieht weder nach den Vorbereitungen zu einem Räuber und Gendarmspiel aus, noch nach denen zu einem Kriegsspiel. Es sind fröhliche Runden, die gemeinsam Spaß haben, die Kinder, aber auch die Erwachsenen. Geburtstagsfeiern eben. 
Wir befragen die Eltern warum sie den Geburtstag bei LaserZone feiern. "Naja, alle seine Freunde feiern hier. Ich konnte ihm das nicht abschlagen," erklärt eine der Mütter, während sie weiter den Tisch deckt. "Es ist völlig anders, als ich mir das vorgestellt habe," fährt sie fort, "ich denke, es war eine gute Entscheidung hierher zukommen. Jeder findet hier etwas, auch die Kleinen, die können wir ja nicht einfach zu Hause lassen. Und es ist einfacher, alle zu beaufsichtigen. Als wir im Schwimmbad waren, da war das für mich viel chaotischer." "Dürfen die Kleinen denn mit in die Spielarena?" "Nein, das nicht", wird uns erklärt, "aber es gibt genügend Möglichkeiten im Vorraum für sie. Es sind so viele Kinder hier. Sie finden schnell jemanden, mit dem sie etwas zusammen machen können. Sie fühlen sich wohl und sind mit dabei." 




Wir betreten den Vorraum zur Arena, in dem die Westen und Phaser aufgereiht nebeneinander hängen. Erwartungsvoll steht bzw. zappelt eine Gruppe herum, um endlich hineingelassen zu werden. Die Erwachsenen helfen in die Westen und erklären noch einmal den Phaser. Überall blinkt es in zwei verschiedene Farben, damit die Gruppen sich auseinanderhalten können und nicht aus Versehen die falschen markieren.
"Auf gehts," erklärt ein Vater. Die Tür öffnet sich. Die Kids sausen los. Nach 12 Minuten kommen sie wieder, diesmal nicht so stürmisch, eher etwas erschöpft, mit roten Backen und verschwitzten Haaren. "Geil war das," bekommen wir zu hören, und zu den Erwachsenen "Können wir nochmal?" So richtig interessiert die Punktezahl erst einmal noch gar nicht. Die Getränke sind wichtiger und das Reden miteinander. Der Lautstärken-Pegel im Raum schwillt an, wenn eine Gruppe aus der Arena kommt. Einige rennen rum, gucken, was die anderen machen, andere ruhen sich aus. Und es gibt ein Gruppenfoto. Aber dann geht es doch zur Anschlagtafel mit den Ergebnissen.
"Wie war es da drin", fragen wir einen Vater. "Naja, es ging," kommt die Antwort etwas gedehnt. "Es hat also nicht gefallen?" wollen wir wissen. "Den Kids schon, die sind herumgesaust, nur für mich war das etwas langweilig. Die haben ja überhaupt nicht strategisch überlegt, wie sie die anderen fangen können. Die sind alle etwas ziellos um die Hindernisse herum und haben geschrien und gelacht. Nix von mal überlegen, was man zusammen tun könnte, um die andere Mannschaft zu finden und zu treffen. Nix, nur Rumgerenne." Er lacht. "Aber für die Kids ist das schon irgendwie toll. Die sind alle begeistert."

"Was macht ihr da drin?" fragen wir einige der Kinder? Die meisten von ihnen sind zwischen 10 und 12 Jahre alt. "Du gehst da rein und dann sind da so Gänge und du musst die suchen." "Ja, aber du musst dich auch verstecken, sonst finden sie dich" "Wen müsst ihr suchen?" fragen wir. Jetzt wird es lebhafter und die Gruppe versucht uns Erwachsenen zu erklären, wie ein "Spiel" in der Arena verläuft. Jeder erzählt etwas. Alle reden gleichzeitig. Irgendwie scheint der Eindruck des Vaters zu stimmen: Sie haben sich versteckt, sind suchend rumgelaufen, haben geschrien und gelacht und hatten Spaß.
Offensichtlich haben wir uns bei der Beobachtung der Kleinen auf falsche Beobachtungsfolien verständigt. Die Beschreibungen der Kinder ähneln weniger eine Räuber und Gendarm Spiel noch einem Kriegs-Spiel. Sie spielen einfach Fangen und haben Spaß dabei.

Ganz anders als bei den Älteren, den 12-,13-,14-Jährigen. Ihnen geht es eher um die Punkte-Jagd, um das Gewinnen der Mannschaft. Nach dem Kennenlernen der Spielmodi beginnen sie sich abzusprechen, wie man sich wo am besten zusammentut oder sich zuruft, um die andere Gruppe ausfindig zu machen.
Wir schlüpfen mit einer älteren Gruppe in die Arena und versuchen, das Ganze zu beobachten. Kommt es wirklich zu Absprachen, zu eigenen Regeln, wie man vorgeht? Es ist beides, ein Rumrennen und strategische Absprache. Hier merkt man nun, dass es um den Punktegewinn geht, um den Sieg der Mannschaft. Dreiergüppchen stehen um in die Wand eingelassene neutrale Punktestationen  – sogenannte Targets. Hier ist die Punktezahl höher und man versucht daher, gleichzeitig mit drei Personen über dieses Ziel zu punkten. Ob die Kleineren diese Möglichkeiten auch schon kannten und genutzt haben, hatten wir nicht nachgefragt.

Wir schauen uns weiter um. An einer Pinnwand posieren Erwachsene nach ihrem Spiel. "Das geht aber gar nicht", sagen die Studierenden. "Was halten Sie von diesem Bild" fragen wir eine Mutter. "Naja, nicht gerade super, ich hatte die hier gar nicht gesehen. Sie sind in der Ecke hinten und fallen nicht sofort ins Auge. Ich denke, es ist schwer für Betreiber, eine Arena so zu gestalten, dass es für alle Altersstufen passt. Für uns ist es gut so, wie es ist. Das eine Bild, ich denke, es ist nicht wichtig." "Und das Spiel, was ist es für Sie? Was spielen die Kinder in der Arena?" "Das ist nicht meine Welt" bekommen wir zur Antwort. "Mein Mann geht mit der Gruppe spielen. Fragen Sie ihn." Der Eindruck entsteht, Mütter sind für den Ablauf im Vorraum und die Geburtstagstafel zuständig und die Väter interessieren sich für das Spiel und den Ablauf des Spiels.

Die Studierendengruppe beendet ihre Beobachtungen und reflektiert ihre Erfahrungen. Unsere Frage, ob Lasertag eher als Räuber-und-Gendarm Spiel oder als Kriegsspiel von den Anwesenden wahrgenommen wird, war offensichtlich ein falscher Ansatz. Ganz andere Fragen haben sich ergeben. "Sicherlich ist das hier eine tolle Sache für die Kids" sagen die Einen, "Einiges müsste sich hier aber ändern", sagen die anderen.  Zu einer Bewertung reichen die Erfahrungen noch nicht. Eine Studierendengruppe beschliesst, bei den Eltern genauer nachzuforschen, nach Müttern und Vätern zu differenzieren und hierzu eine Befragung durchzuführen. [1] Eine andere Gruppe wertet die Gruppenfotos nach den verschiedenen Altersstufen inhaltsanalytisch aus. [2] Eine dritte Gruppe differenziert aus der Perspektive der Entwicklungspsychologie die Entwicklungsphasen im Alter zwischen 10 und 14, da hier entscheidende Entwicklungsschritte zu verzeichnen sind. Und dann? Naja, dann gehen sie spielen, die Studierenden. Sie möchten schliesslich nicht nur beobachten, sondern noch genauer wissen, worüber sie nachforschen sollen, sagen sie mir.
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1) Die Auswertung erscheint in Kürze.
2) Die Inhaltsanalyse erscheint in Kürze.




Der Putsch und das Danach nach dem Nach-Putsch - Ein Gespräch mit Selçuk Salih Caydı


Seit dem Putschversuch hat sich viel ereignet. Das Bild, das die Türkei gegenwärtig von sich zeichnet, verwirrt zum Teil mehr, als dass es zu Transparenz und Klärung beiträgt. Zum Teil ist das verständlich, denn das Geschehen war dramatisch. Manche Reaktionen und Ereignisse sind aus externer Beobachtersicht unverständlich und einfach nicht nachvollziehbar. Hinzu kommen Entlassungen, Verhaftungen und Inhaftierungen sowie die Gleichschaltung der Medien. Dadurch sind wohlbekannte und geschätzte Informanten plötzlich nicht mehr verfügbar, oder selbst in die Rolle des Beobachters und ausser Landes gedrängt worden. Es ist also nicht einfach, an erklärende Informationen zu gelangen.

Ja es war und ist eine aufregende, nicht einfache Zeit. Und ich denke, es wird auch noch eine Weile dauern, bis sich die Anspannung im Land etwas legt.

Zum Putschhintergrund hat es verschiedene Erklärungen gegeben und diverse Verschwörungstheorien wurden entworfen. Mittlerweile setzt sich die Sichtweise durch, dass die Gülenisten das Land durch diesen Putsch verändern wollten. Wie kam man zu dieser Einschätzung? Welche Nachweise gibt es hierzu?

Dieser Militär-Putsch oder Putsch-Versuch ist im Grunde der Abschluss einer Entwicklung, die in den letzten 40 Jahren sehr systematisch vorangetrieben wurde. Der Grundgedanke bzw. das Ziel der Gülen-Bewegung ist in der Tat, den Staat zu übernehmen, um ihn in einen islamischen Staat umzuwandeln. Man hat das auch gewusst. Fetullah Gülen hat in seinen Predigten ab 1999 diese Idee bereits ganz klar beschrieben. Man solle sich in alle Institutionen des Staatsgebildes möglichst unbemerkt und gut eingliedern. Wenn dies gelungen und alle Schlüsselpositionen besetzt seien, dann werde man gegen das herrschende Regime putschen und die Macht selbst übernehmen. Das war der Grundgedanke. Mit der Umsetzung dieser Idee wurde bereits in den 1970'er Jahren begonnen. Das geschah sehr subtil. Man pflegte zu den jeweils regierenden Parteien gute Beziehungen und hat sich so unbemerkt in diese hineingeflochten. Das kann man bis in die Regierungszeit der Ecevit Partei zurück verfolgen und es blieb so, gleichgültig welche Partei danach an die Macht kam. Diese Bewegung hat es geschafft, bei Regierungswechseln nicht nur die gewonnenen Positionen zu behalten, sondern diese sogar kontinuierlich auszubauen. Als die AKP 2002 an die Macht kam, ergab sich für die Gülenisten dann eine große Chance. Sie konnten nun mit einer regierungsunerfahren Partei zusammenarbeiten und dadurch die eigene Macht noch mehr stärken. Denn da die AKP sich insbesondere um den Einfluss der Kemalisten sorgte, ging sie ohne weiteres ein Bündnis mit den Gülenisten ein.

Die AKP ist religiös ausgerichtet. Die Gülenisten ebenfalls. Also haben sie an einem Strang gezogen gegen die säkularen Kemalisten. Das ist erst einmal einleuchtend. Doch warum kam es dann zum Bruch? Hätte man nicht eigentlich erwartet, dass die Gesellschaft Zug um Zug von ihnen gemeinsam umgestaltet wird, so wie das gegenwärtig durch Erdoğan nun im Alleingang zu geschehen scheint?

Ja, beide Richtungen sind Islamisten, aber dennoch müssen wir hier unterscheiden. Erdoğan und seine Leute kommen von der Erbakan-Linie, d.h. der Millî-Görüş-Bewegung. Die Gülenisten hingegen stehen in der religiösen Tradition der Nurculuk und deren Führer Said Nursî nahe. Das sind zwei sehr unterschiedliche Ausrichtungen. Die Gülenisten agieren mehr nationalistisch und am "Türkentum" ausgerichtet, während sich die Erbakanisten eher am Islamismus orientieren.

Aber die AKP ist doch ebenfalls sehr nationalistisch ausgerichtet, oder?

Ja, mittlerweile, das stimmt. Aber nur, weil die AKP bemerkt hat, dass sie mit dem Islamismus allein nicht weiterkommt. Die AKP und ihre Führung sind bekannt dafür, dass ihr Pragmatismus keine Grenzen kennt, wenn es darum geht, an der Macht zu bleiben.

Und es kommt noch etwas anderes hinzu, warum es zu diesem Bruch kam, und das ist ein Machtkampf zwischen den beiden Führern. Eine Zeitlang sind sie den Weg zwar gemeinsam gegangen. Doch jeder von ihnen wusste, dass das irgendwann ein Ende hat. Politischer Islamismus ist hierarchisch gedacht mit einer Ein-Mann-Spitze. Und jede Partei oder Bewegung glaubt, dass sie die Einzige ist, die auf Erden im Besitz der Heiligen Wahrheit ist und von daher das Recht auf die alleinige Führung hat. Und so kommt es immer wieder zum Streit der islamischen Richtungen um die Alleinherrschaft und zu Säuberungsaktionen, als heilige Reinigung sozusagen.

Und dieser Zeitpunkt war für die Gülen Bewegung gekommen?

Ja. Sie haben sich nicht nur sehr stark gefühlt, sie waren es auch. Es ist unglaublich, wie gut sie sich organisiert hatten. Verheerend, dass so etwas in einem modernen Land überhaupt noch in dieser verdeckten Art und Weise möglich war.
Nehmen wir die türkische Armee. 50 % der Spitze des Militärs bestand inzwischen aus Gülen Leuten. Sie hatten die wichtigsten Ämter inne. Bei der Polizei waren es sogar 70 bis fast 80 %.
Den Geheimdienst hatten sie infiltriert, das Erziehungsministerium ... überall hatten sie die wichtigsten Posten besetzt. Sie hatten ihre eigenen Leute wie Schläfer überall verdeckt untergebracht. Man konnte sie nicht identifizieren. Das war ihre Strategie. Denn sie können Alkohol trinken, brauchen keine Kopfbedeckung, all das ist ihnen als Muslime erlaubt, jedoch nur, damit sie nicht auffallen. Und somit konnte auch nicht bemerkt werden, wie weit ihre Strategie schon aufgegangen war, und sie den Umsturz planen konnten. Das war vor ungefähr zwei Jahren.
Damals haben sie geglaubt, die benötigte Stärke erreicht zu haben, um den Umsturz wagen zu könnnen. Das hat Erdoğan aber bemerkt. Denn die ursprüngliche Absprache zwischen Erdoğanisten und Gülenisten  war, dass nach der Säuberung von den Kemalisten, auch die Gülenisten im Staatsapparat nicht weiter expandieren würden. Doch an diese Absprache haben diese sich nicht gehalten und ihre Leute weiterhin in allen wichtigen Stellen des Staates untergebracht.

Damals der Ergenekon Prozeß, die Zerschlagung des wirklichen oder angeblichen "tiefen Staates" mit der ersten Verhaftungswelle von Nationalisten im Jahr 2007 und dann in der Folge der Balyoz Prozess im Jahr 2010 gegen hohe Militärfunktionäre, das waren dann doch willkommene Möglichkeiten für die Gülenisten, viele der vakant gewordenen relevanten Stellen zu besetzen?

Ja. Die Gülenisten hatten es mit dem 4-Sterne-General Akın Öztürk sogar bis in die Spitze des Militärs geschafft. Er wurde kommandierender General der Luftwaffe. Aber Erdoğan hat dann irgendwann verstanden, dass die Gülenisten die Absprache nicht einhalten und noch mehr vorhaben. Er konnte das auch verstehen, da er ja ebenfalls von der Vorstellung ausgeht, es gibt nur eine Ein-Mann-Hierarchie. Diese Möglichkeit, Macht an der Spitze zu teilen ist für beide nicht denkbar. Im Grunde ist das ja auch die Tragik, warum der Mittlere Osten nie zur Ruhe kommt, weil jeder glaubt, der "himmliche Auftrag" läge allein bei ihm und seinem Gefolge. Als Erdoğan die Strategie der Gülenisten durchschaute, begann er zu handeln. Als erstes hat er die Polizei säubern lassen.

Ja, das war eine Phase mit Massenentlassungen und Umbesetzungen, die bei der Polizei schon ab Anfang 2014 begann.

Zuvor hatte es im Jahr 2012 die Operationen der gülenistischen Staatsanwälte gegen den Geheimdienstchef Hakan Fidan gegeben. Das war damals der erste Konflikt zwischen Gülenisten und Erdoğanisten. Auch schon vorher gingen Gülenisten in der Polizei  gegen die kemalistischen Offizieren vor, produzierten falsches Beweismaterial usw.  Und so kam es zu den Ergenekon und Balyoz Prozessen. Und in alle diese hohen Positionen sind dann nach den Verhaftungen Gülens Offiziere nachgerückt. 
Diese dann folgenden Säuberungen in der Polizei durch Erdoğan waren natürlich ein Alarmzeichen für die Gülenisten. Anfang Sommer 2016 wurde ausserdem bekannt, dass eine große Operation gegen die Offiziere in der Armee bevor stand, ähnlich wie zuvor bei der Polizei. Der Türkische Geheimdienst hatte das geheime Korrespondenznetz der Gülenisten geknackt und kannte so viele gülenistische Offiziere in der Armee. Und da diese nun befürchten mussten, dass die Armee bis an  de Spitze gesäubert werden könnte, d.h. hin bis zu ihrem 4-Sterne-General, mussten sie den Putsch umplanen und zeitlich vorziehen. Denn sie planten wirklich einen Putsch! Wir wissen heute, dass sie an diesem Plan fast zwei Jahre gearbeitet haben. Jeder Gülenist wusste, was er während und nach dem Putsch zu tun hat. Man muss sich vorstellen, welche logistische Arbeit dahinter steckt, und wie lange es gebraucht hat, bis es in all diese Verästelungen hinein durchdacht und mit allen abgesprochen war. Denn wir reden hier nicht von ein paar Panzern und Flugzeugen, sondern von tausenden von Offizieren, die genau wissen mussten, was sie zu welcher Zeit zu tun haben.
Der Putsch war eigentlich erst für diesen Herbst geplant. Und nun mussten sie ihn aufgrund der aktuellen Ereignisse vorziehen. In sehr kurzer Zeit wurde alles umdisponiert, um bereits im Juli losschlagen zu können. Und dann ereignete sich noch etwas. Geplant war der Putsch für 3 Uhr in der Nacht. Aber aus Russland wurde an den türkischen Geheimdienst gemeldet, dass ein Putsch passieren könnte. Der Geheimdienst informierte umgehend den Generalstabschef und der gab die Order aus, kein Flugzeug dürfe abheben und kein Panzer sich auf die Straße bewegen. Dies war natürlich bis zu den Gülenisten durchgesickert. Aber dieser Befehl wurde durch den Einsatz der Gülenisten nicht richtig verbreitet und die Startzeit des Putsches wurde sofort vorgezogen, um das Ganze nicht abblasen zu müssen. Sie hatten keine andere Wahl.

Das heisst also, es gab einen vorgezogenen Plan, der dann noch einmal vorgezogen werden musste. Das konnte doch gar nicht funktionieren, wenn man den ganzen logistischen Aufwand bedenkt.

Genau. Und so ist es ja auch gekommen. Es wurde entschieden, schnell zu handeln. Aber dass Teile der Armee vorgewarnt waren, war der erste Schwachpunkt. Es gab keine Zeit, die oberste militärische Spitze für sich zu gewinnen und diese konnte auch nicht gezwungen werden, sich am Putsch zu beteiligen. Und dann nahm alles seinen Lauf. Zug um Zug brach der ganze Plan in sich zusammen.

Welche Rolle spielte die Bevölkerung dabei? Als die Ernsthaftigkeit der Situation begriffen wurde, wurde diese ja über SMS aufgerufen, auf die Strasse zu gehen und sich den Putschisten entgegenzustellen.

Der springende Punkt war eigentlich mehr, dass die Kampfflugzeuge nicht aufsteigen konnten. Das Hauptquartier der Putschisten war der Luftstützpunkt  Akıncı in Ankara. Der wurde umgehend von generalstabstreuen Flugzeugen aus Eskişehir bombardiert. So wurde im Grunde gleich zu Beginn das Hauptquartier des Putsches getroffen. Das war der eigentliche Auslöser des Scheiterns, dass dann nichts mehr funktionierte. Also nicht so sehr, dass die Leute auf die Straße gingen und sich dem Militär entgegenstellten, denn das Militär ist ja gar nicht richtig zum Zuge gekommen. Natürlich hat die Bevölkerung auch eine Rolle gespielt. Aber mehr auf der psychologischen Ebene. Die demonstrierenden Bürger haben das Scheitern des Putsches beschleunigt. Der Erfolg gegen die Putschisten kam jedoch, weil ihr Stützpunkt übel bombardiert wurde, sodaß ihre Flugzeuge nicht mehr aufsteigen konnten.

Was in der Nacht und in den nächsten Tagen passierte, ist ja allgemein bekannt. Was mich aber noch interessiert, welche Bedeutung und welchen Einfluss hat der Putschversuch für die AKP und für Erdoğan gehabt. Wie ist ihre Sicht auf die Ereignisse, denn nur so kann man die nachfolgenden Aktionen genauer verstehen und analysieren.

Also erst mal war das für alle ein Riesenschock. Zum einen für die Gülenisten, dass alles schief gelaufen ist. Aber auch Erdoğan und seine Leute gerieten in Panik. Sie verstanden, dass das eigentliche und primäre Ziel des Putsches war, Erdoğan gefangen zu nehmen oder ihn sogar zu töten. Es war Zufall, dass dies nicht gelungen ist, denn hätte es dieses Zeit-Chaos nicht gegeben, wäre dieses Ziel sehr strikt verfolgt worden. Nur konnte man eben in dieser Situation nicht feststellen, wo Erdoğan sich befand, da er zuvor die Warnung bekommen hatte. Wo man ihn erwartet hatte, da war er nicht. D.h. auch dieser Plan musste noch einmal geändert werden. Und es ist fast wie in einem schlechten Film, zuletzt hatte der Hubschrauber, der ihn entführen sollte,  einfach nicht mehr genug Sprit zum Fliegen. Und so ist es auch einleuchtend, da alle Schritte genau durchgeplant und miteinander verschränkt waren, dass nun die Kette riss und viele falsche Reaktionen nach sich zog, so dass alles in sich einstürzte.

Dies alles erkennen und zu verstehen, war für Erdoğan Schock und Erkenntnis zugleich. Zum einen ist ihm nun klar, dass er seinen eigenen Leuten nicht vertrauen kann. Er hat verstanden, dass Teile seiner eigenen Partei gegen ihn putschen würden. Er weiss aber nicht genau, wer in seiner Partei Gülenist ist, da diese nach aussen nicht erkennbar sind. Er weiss nur, die Partei ist von ihnen infiltriert. Er weiss auch, dass man ihn in seiner Partei nicht besonders mag aufgrund seines politischen Verhaltens, seines aussenpolitischen Gebarens, des Abbaus demokratischer Strukturen. Er bemerkt auch, dass es für seine Leute in der Partei immer schwerer wird, in der Politik eine eigene Meinung durchzusetzen, und die Türkei immer mehr isoliert wird. Es fällt AKP'lern schwer, im Ausland Erdoğans politischen Schritte zu erklären. Diese Stimmung in der Partei ist Erdoğan schon bewusst. Und er weiss auch, dass die Gülenisten nicht nur in der AKP, sondern gleichfalls in allen anderen Parteien - ausser in der kurdischen HDP – sitzen. Damit muss er nun umgehen. Und das macht ihn noch einsamer.

Gleichzeitig hat er aber entdeckt, dass er mit seinen Anhängern eine Art paramilitärische Kraft hat, die man auf die Straße schicken kann. Er hat gemerkt, dass diese Leute für ihn sogar türkische Soldaten töten und ihnen die Kehle durchschneiden, wie man im TV sehen konnte. Und so hat er am Anfang nach dem Scheitern des Putsches auch noch in der bekannten Art reagiert. Er tobte und drohte alle Beteiligten schwerst zu bestrafen.

Als er nach einigen Tagen mit Obama ein Telefongespräch führte, begann die Wandlung in seiner Sprache und in seinem politischen Verhalten. Man glaubt, er habe wahrscheinlich gemerkt, dass von den Amerikanern keine Unterstützung zu erwarten war. Vielleicht hat er auch gemerkt, dass die Amerikaner tatsächlich irgendwie an dem Putsch beteiligt waren. Irgendwann wird man die Wahrheit erfahren. Aber sicherlich hat Obama ihn spüren lassen, dass man ihn nicht mehr will und seine Vorstellungen mit denen der USA nicht übereinstimmen. 

Erdogan weiss nun, dass er trotz seiner Anhänger auf der Straße und mit der breiten Zustimmung der Wähler, die über 50 Prozent oder sogar noch höher liegen mag, nicht ohne noch weiteren Rückhalt an der Macht bleiben kann. Und von da an hat er sein Verhalten grundlegend geändert. Er hat die Oppositionsparteien in seinen "Sieg" einbezogen und sie zu einem Bündnis "für die Demokratie" aufgerufen. Diese sind das auch bereitwillig eingegangen, was verständlich ist, angesichts der Erkenntnis, was da gerade verhindert worden war. Nur die HDP wird weiter ausgegrenzt. Die nationalistische Feindschaft aller Parteien gegen Kurden ist zu groß. Die Abgrenzung zur HDP bildet neben dem Kampf gegen die Gülenisten eine wichtige Klammerfunktion für die AKP mit den Oppositionsparteien, indem der HDP im Verlaufe der Krise das Label "Kurdenpartei ist PKK-hörig und somit terroristenfreundlich" verpasst wurde.

Ist es vielleicht nicht nur die geschürte und wieder aufgeflammte Kurdenfeindschaft im Land, die die Ausgrenzung der HDP zur Folge hat? Verknüpft sich da vielleicht auch etwas mit dem Syrien Konflikt und der Rolle der USA und ihrer bisherigen Nähe zu den Kurden, so dass man jetzt ein doppeltes Feindbild braucht, um noch enger zusammenzurücken? Die Statements aus der Türkei in den Wochen nach dem Putsch über die angebliche Rolle der USA deuten doch darauf hin, oder?

Ja, das kann auch sein. Aber ich glaube Erdoğan betreibt jetzt eine mehr nationalistische Politik, da er so Leute von der MHP zu sich herüber ziehen und gleichzeitig die HDP noch mehr schwächen kann. Da Erdoğan sich als Alleinherrscher sieht, kann er auch keine Koalitionen bilden. Daher muss er sehen, wie er möglichst viele Wähler an sich bindet, um sich als einziger islamischer Herrscher fühlen zu können. Dieses Gefühl braucht er. Das gibt ihm Stabilität. Dadurch kann er auch seine Einsamkeit kompensieren.

Das heisst, der gescheiterte Putsch hat jetzt zur Folge, dass eine Säuberungsaktion in ganz grossem Ausmaß durchgeführt wird. Und damit hat Erdoğan auch Erfolg. Nachdem nun die erste Verwirrung vorüber ist, kommt in der Türkei langsam ins Bewusstsein, welche Konsequenz es gehabt hätte, wenn der Putsch gelungen wäre. Und das wäre dann eben doch eine Katastrophe für das Land gewesen, da man ja nun weiss, wie tief im Staat das Gülenistische Netz verwurzelt war, und dass es auf lange Zeit unmöglich wäre, in der Türkei wieder etwas zu verändern und den säkularen Staat wieder einzurichten. 

Lass uns abschliessend noch die jetzige Lage ansprechen. Die Gülenisten werden, soweit sie auffindbar sind, aus allen Ämtern entfernt, zum großen Teil verhaftet. Andere sind noch immer da und zum Teil nicht aufindbar. Wie ist die Strategie zu verstehen, dass gegenwärtig nicht nur gegen diese Gruppierung vorgegangen wird, sondern mittlerweile von einer witch-hunt gegen alles was irgendwie opponiert gesprochen wird?

Wir können davon ausgehen, dass ungefähr die Hälfte der Gülenisten aus den Ämtern gesäubert wurde und auch ihre Netze nicht mehr funktionieren. Das gilt besonders für die Armee und für das Bildungswesen. Aber was bedeutet das nun für die AKP als Regierungspartei, die jahrzehntelang darauf angewiesen war, mit denjenigen, die entfernt wurden, die staatlichen Geschäfte zu regeln? Es scheint, als stehe die AKP wieder ganz am Anfang, wie zu Beginn ihrer Regierungszeit. Sie ist nun plötzlich auf sich allein gestellt. Wir wissen, dass es um gut ausgebildete Leute in der AKP nicht sonderlich gut bestellt ist. Es gibt schon einige wenige, aber mit denen allein ist kein Staat zu regieren.

Das heisst Erdoğan und die AKP haben – und das macht sich ja mittlerweile breit bemerkbar – nicht nur ein Personalproblem, sondern auch ein fundamentales Problem im Hinblick auf die politische Leitung des Staates auf allen Ebenen. Wie werden sie damit umgehen?

Es deutet sich eine ganz interessante Entwicklung an. Sie müssen auf diejenigen ausserhalb ihrer Reihen zurückgreifen, die Staatsführungserfahrung haben und nicht zu den Gülenisten gehören. Das sind zum einen erst einmal die Kemalisten, auf die nun wieder zugegangen wird. Das betrifft mehr das Militär, da die kemalistischen Offizieren gut ausgebildet sind und sich aufgrund der gegenwärtigen Entwicklung auch loyal zu Erdoğan verhalten.
Im Bildungswesen sieht die Situation anders aus. Hier sind im Moment – das haben wir ja zum Schulanfang bemerkt – riesige Lücken zu verzeichnen, obwohl es in der Türkei eine große Anzahl von arbeitslosen Lehrern gibt. Viel zu viele Lehrer wurden in der Türkei ausgebildet. Eingestellt wurden vorwiegend diejenigen, die den Gülenisten zugeordnet werden konnten. Und die sind nun alle entfernt worden. Und zwar gründlich. Diese meist jungen arbeitslosen Lehrer sollen nun die Lücke füllen. Doch daraus ergibt sich ein weiteres Problem. Die meisten dieser jungen Leute haben sich aufgrund ihrer Situation politisiert und sind nicht unbedingt regierungsfreundlich. Wenn wir zurückschauen, jedes Jahr hat es Demonstrationen der Lehrer gegeben, die gegen ihre hohe Arbeitslosigkeit demonstriert haben. Sie werden daher auch nicht einfach als neue Lehrer eingestellt, sondern haben eine Art mündliche Prüfung zu absolvieren. Ihre Regierungsfreundlichkeit wird getestet. Dabei spielt natürlich auch ihr Religionswissen eine Rolle, das mit abgefragt wird.

Aber dann könnten das ja auch wiederum Gülenisten sein, die sich in diesen Fragen ja nun wirklich gut auskennen.

Ja und genau das ist jetzt das Problem. Folglich wird nachgeschaut, ob sie eine Gülen-Schule besucht haben oder einschlägige Gymnasien oder Universitäten, ein Konto bei einer Gülen-Bank haben und so weiter. Und man arbeitet mit der Verbreitung von Angst. Überall ist bemerkbar, was es bedeutet, plötzlich aus allen Ämtern herausgeworfen zu werden. Diese Personen dürfen danach in keinem Amt als Beamte arbeiten. Viele werden sogar von ihren Berufen ausgeschlossen. Es trifft ja nicht nur die entlassenen Personen, sondern auch ihre Familien und ihr soziales Umfeld. Niemand stellt jemanden ein, der aufgrund seiner wirklichen oder angeblichen Zugehörigkeit zu den Gülenisten seinen Job verloren hat. Familien werden zerstört, die ersten Selbstmorde sind zu verzeichnen. Das alles hat auch Auswirkungen auf das Verhalten derjenigen, die dringend einen Job suchen und brauchen und sich als Lehrer bewerben. Und somit stellt man vielleicht seine eigene politische Überzeugung erst einmal zurück.

Die Lücke in den Schulen wird sich wahrscheinlich in absehbarer Zeit schliessen lassen. Doch das ist ja nicht die einzige Lücke, die entstanden ist. Mir ist völlig unklar, wie die Probleme in den anderen Bereichen gelöst werden können.

Die AKP schafft das mit ihren Kapazitäten und ihrer mangelnden Erfahrung natürlich nicht allein. Und man bemerkt, dass erste Versuche beginnen, auf diejenigen Schichten im Land zurückzugreifen, die gut ausgebildet sind, unabhängig davon ob sie Kurden oder Säkulare sind, weil das akute Problem sonst nicht gelöst werden kann. Und jeder weiss, dass die Kemalisten noch immer die Bildungselite in diesem Land bilden.

Da Du die Kurden ansprichst, kommt deshalb vielleicht jetzt auch wieder Öcalan ins Spiel. Es ist doch auffällig, wie lange man ihn isoliert hat und gerade jetzt wieder Kontakte zu ihm erlaubt werden. Und besonders auffällig war, dass es nicht Angehörige der HDP gewesen sind, die ihn besuchen durften, obwohl er offensichtlich nach diesen gefragt haben soll, sondern Familienangehörige.

Das kann gut sein, dass Öcalan wieder ins Spiel kommt. Im Moment ist wirklich eine große Ratlosigkeit zu spüren. Man braucht gute Leute im Staatsdienst. Gleichzeitig hat man Angst, dass genau diejenigen wieder zurückkommen, die man nicht will, nämlich die Kemalisten.

Dann macht ja die gegenwärtige Einschüchterungs- und Verfolgungskampagne gegen jegliche Art von Opposition wieder einen Sinn. Alle diejenigen einzuschüchtern, die es wagen, in der gegenwärtig schwierigen Situation Kritik zu üben oder sich gegen die Methoden zu stellen, die die AKP anwendet, um die gegenwärtige Krise zu meistern. Kritik wird nicht als Bereicherung, sondern als Gefahr wahrgenommen.


Ja, diese Einschüchterung passiert im Moment wohl sehr bewusst. Aber Angst ist auf Dauer kein guter Ratgeber. Und diejenigen, die für den Staat wieder zurückzugewinnen sind, die ticken anders als die AKP und sind mit der islamistischen Ideologie nicht einzufangen. Aber auf sie muss die AKP zurückgreifen, wenn kein Kollaps in vielen staatlichen Bereichen erfolgen soll. Wir werden in den nächsten Wochen und Monaten sehen, ob eine Entspannung gelingt. Gegenwärtig ist noch immer die Erleichterung vorherrschend, dass es gelungen ist, eine 40 Jahre lang verdeckt gewachsene Krake, die sich überall festgesetzt hat, so plötzlich aus dem Staatsgebilde verschwinden zu lassen. Keiner konnte sich das vorstellen. Und das ist eine Chance für die gegenwärtigen Regierung und für die Türkei. Ob sie mit dieser neuen Lage klug umgehen und den Wert des säkularen Staates, der Demokratie und der Versöhnung wieder schätzen lernen - das werden wir sehen.



Abdullah Bozkurt – "Ich verließ die Türkei am 26. Juli"

Wenn man in den letzten Wochen Abdullah Bozkurts Twitteraccount durchstreift, so verwundert seine Klarheit und offene Kritik an den Ereignissen in der Türkei in Gegenwart und Vergangenheit. Ist eine kritische Berichterstattung also doch noch möglich? Nein, das ist sie nicht. Und wäre Abdullah Bozkurt noch immer in Ankara, dann wäre er sicher, wie so viele seiner Kolleginnen und Kollegen, einer Verhaftung nicht entgangen. Dieser hat er sich jedoch entzogen. Er floh nach Schweden. [1] Einen Tag später wurde seine Nachrichtenagentur Muhabir übrigens von der Türkischen Regierung geschlossen.

Solange es ihm im Exil möglich ist, schreibt Abdullah Bozkurt weiter. Und er klagt an. Für ihn richten sich die Säuberungsaktionen in den Medien insbesondere gegen diejenigen Journalistinnen und Journalisten, die investigativ arbeiten. Seiner Ansicht nach wurden überwiegend diejenigen verhaftet, die in der Vergangenheit aufdeckten, wie in der Türkei mit radikalen islamistischen Netzwerken zusammengearbeitet wird. Und ebenso diejenigen, die über die umfangreichen Korruptionsermittlungen geschrieben und dabei den Präsidenten Erdogan und seine Familie belastet haben.

Offensichtlich ist es Abdullah Bozkurt gelungen, sein Archiv frühzeitig zu sichern, um es vom sicheren Ort nun noch einmal aufzuarbeiten und zu durchdenken. Fast täglich erscheint von ihm Bekanntes mit neuen Hintergrundinformationen auf Twitter. Dabei bedient er sich der Twitteratur, eine Methode, die ursprünglich entwickelt wurde, um ein neues Literaturgenre zu generieren. Er schreibt in fortlaufenden durchnummerierten Threads zu jeweils 140 Zeichen, die im Zusammenhang gelesen, dann einen fortlaufenden Text ergeben.

Seine Texte, die er auf storify noch einmal zusammenfasst – und die wir hier noch einmal zusammenstellen [2] – rekonstruieren den Blick auf die Türkei, wie er in den letzten Jahren in den dortigen Medien noch beschrieben werden konnte. Wenn man diese Texte liest, erkennt man, warum es in der Türkei nicht nur darum geht, Zeitungen zu verbieten, die dem mainstream nicht entsprechen, sondern auch darum, ihre Archive zu vernichten.


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1 Siehe hierzu seinen Gastbeitrag im Focus vom 16.8.2016.
2 Auch ohne englische Sprachkenntnisse sind die Texte zu lesen, wenn in die einzelnen Tweets geklickt wird und oben rechts der Übersetzungsbutton markiert wird.