"Du willst nach Duhok?!" - "Was willst Du denn im Krieg?"

„Du willst nach Duhok“, höre ich und blicke in ungläubige Gesichter. „Was willst Du denn im Krieg? Mosul ist doch nur 20 km Luftlinie entfernt! Hast Du denn gar keine Ahnung, was da grade passiert?!“ Doch, hab ich. Seit langem beobachte ich den Kampf gegen den IS, die Befreiungsaktionen und aktualisiere täglich die Frontlinien auf meiner Karte. Aber auch mit einer Karte macht es keinen Sinn, meinem Gegenüber den Unterschied zwischen 20 km Autobahn in Deutschland und 20 km Luftlinie in der irakischen Region Kurdistan klar machen zu wollen. Für sie ist dort halt Krieg. So beschreiben es die Medien täglich.

Ein Häuserkampf tobt um Mosul. Menschen sprengen sich in die Luft und reissen viele mit in den Tod. Umliegende Dörfer werden gestürmt und befreit. Diese Bilder des Grauens haben sich tief in uns eingegraben. Denn man schreibt nicht nur, sondern zeigt Bilder mit grausamen Szenen, möglichst mehrdimensional abgebildet, mit Schrift, Bild und Ton. Da ist es schwer, mein Unternehmen in der genannten Region mit rationalen Argumenten zu begründen. Ich bleibe wortkarg, packe meine Reisetasche und begebe mich zum Flughafen.

Es ist Nacht als wir in Erbil ankommen. Man hat vergessen, uns abzuholen. Sowas passiert. Etwas neidisch blicken wir auf die hochgehaltenen Schilder der Abholer. Alle sind sie da, GIZ, UNHCR, Malteser, UNICEF ... und warten mitten in der Nacht auf diejenigen, die ebenfalls bereit sind, sich in Kurdistan zu engagieren. Erschöpft dennoch im Hotel angekommen, erfahren wir, ein Fahrer werde uns am nächsten Morgen abholen. "Dunkelhäutig, mit schwarzen Haaren. Ihr erkennt ihn leicht." Er ist also kein Fremder, kein ‘Ausländer‘, wenn er so aussieht wie fast alle hier. Das beruhigt. Und er ist leicht zu erkennen? Mal sehen.

Ja es ist Krieg in der Region. Auch am Morgen des 22. April 2017. In Mosul wird bereits der Bezirk Al-Thaura wieder kontrolliert und Hai al-Tanak ist zur Hälfte vom IS befreit. Noch immer Sprengstofffallen, Heckenschützen und Artilleriefeuer überall. Menschen versuchen zu Fuss in die nördliche Region zu fliehen, dorthin, wo vor ihnen bereits Hundertausende angekommen sind. Hier, in Erbil, hier redet jedoch kaum jemand vom Krieg "Es ist sicher hier. Die Fahrt nach Duhok? Das geht ohne Probleme." 


 Fast eine gemütliche Aufbruchstimmung. Das Hotel komfortabel. Waffen bleiben draussen. Der IS wirkt hier eher wie ein Schreckgespenst aus vergangenen Tagen. "Es dauert nicht mehr lange, dann sind die ganz verschwunden." Die Themen sind mehr an der Zukunft ausgerichtet. Es geht um  "Kurdistan after ISIS" - so eine Konferenz an der Universität Duhok, zu der die Veranstalter auch uns eingeladen haben. Eine richtige thematische Entscheidung, denn man kann nicht rückwärts in die Zukunft blicken.

Die Fahrt von Erbil nach Duhok, eigentlich nur ca. drei Stunden, dauert doppelt so lang, da wir Mosul umfahren müssen. Rechts und links der Strasse immer wieder Schafe und Ziegen. Ab und zu ein paar Häuser und einige Läden. Sonst nur die weite baumlose Landschaft. Lediglich Checkpoints erinnern an die noch immer lauernde Gefahr. "Wen hast Du da im Auto?" "Alemanya." 
"Alemanya? Na dann gute Fahrt, schöne Zeit für Euch und kommt bald wieder!" Und weiter geht es. "Sie mögen die Deutschen hier. Mit Euch komme ich gut durch" grinst der Fahrer und hält an einer Betonsperre. "Durst?" Ein Junge springt herbei. Das Wasser ist noch kühl. Die Sperren heute, eine Chance für die Kids, sich bei der Hitze ein paar Dinar zu verdienen.


Wie biegen ab und fahren nach Lalish. Ehrfürchtig betrachten wir diesen heiligen Ort der Jeziden. Was uns dort gezeigt und berichtet wird, ist kaum zu verkraften. [1] Hier gibt es keine Aufbruchstimmung. Nur Trauer. Hier ist der IS noch präsent. Überall! Ein kleiner Junge wird an uns vorüber getragen. Er wirkt leblos, wie zerstört. Seine Augen sind stumpf. Er starrt vor sich hin und redet nicht. Er ist nur einer von vielen. "Viele unserer Männer konnten wir noch nicht einmal beerdigen. Wir haben längst nicht alle Massengräber gefunden. Tausende Frauen und Kinder sind noch versklavt. Viele, viele von ihnen leben wohl nicht mehr. Wir hoffen! Aber es ist eine Qual." Familien sind ausradiert, der Lebensraum ist zerstört ... diese Erinnerungen sind grausam. Und den Kampf um ihre Dörfer, den führen gegenwärtig andere. "Ja, vielleicht sind wir hier sicher, aber diejenigen, die dort zurückgeblieben sind, die leben noch heute in Angst und Schrecken." Die Tragödie der Jeziden ist nicht zu vergessen. "Es wird Generationen dauern, bis ... ." Ja, bis ...
Wir verlassen diese trauernde Stille und machen uns auf den Weg nach Duhok. "Kurdistan after ISIS" - Wird es dort noch um mehr gehen, als um "... the right of Kurdistan region to self-determination?" [2]

Zwei Tage später treffen wir unseren Kollegen, der mit Ärzten aus Deutschland in der Region unterwegs war. Verstört zeigt er uns zwei Fotos. "Hier" und er deutet auf das eine "hier haben wir gestern Nacht geschlafen. Heute ist dort alles zerstört. Wären wir eine Nacht länger geblieben, vielleicht wären wir jetzt tot." Was war dort geschehen? Es war nicht der IS, der noch einmal zurückgekommen und dabei nicht nur getötet und einen Sendemast zerstört hat,  sondern auch die Medizinstation teilweise verwüstet hat. Das waren türkische Kampf-Flugzeuge, die in den Sinjar Bergen sehr gezielt 'PKK-Stellungen' bombardiert hatten. "Sicher sind dort oben kurdische Kämpfer," berichtet unser Kollege. "Klar auch von der PKK, denn wie ist Sicherheit dort sonst möglich? Wer hat denn die Gebiete dort befreit? Wie sollen denn weitere Gebiete befreit werden, ohne deren Präsenz?" Und es verwundert nicht, wenn während der Konferenz auch immer wieder zu hören ist: "Den IS werden wir besiegen. Das ist sicher. Viele von uns stellen sich aber die Frage, ob der eigentliche Feind, vor dem wir auf der Hut sein müssen, nicht mittlerweile wieder die Türkei ist". 
Es ist nicht leicht, an einer Zukunft zu bauen, von der man nicht weiss, ob sie einem nicht gleich wieder zerstört wird.

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1) folgt.
2) Kurdistan after ISIS: Questions of Identity and Boundary, Conference held by Iraqi Kurdistan Regioinal Covermorate, Ministery of Higher Education and Scientific Research, University of Duhok & Beşikçi Center for Humanity Studies from 22.-23 April 2017 - folgt.



















"We'll not give up! Never! We will free them, all of them, our enslaved women and children."


There is excitement early in the morning in Duhok. It is on television, on the radio, on social media - everywhere. It spread like wildfire. “They have liberated 36 people tonight!” We do not understand the excitement. 36 people have arrived in Duhok, which have left the terror in Mosul behind them. We see such people every day, people who have somehow managed to escape the terror of the hail of bombs and conflict in and around Mosul. Why suddenly all these bright faces? “A family is back," explains Khalil, our companion. "This was the third attempt to liberate them. And tonight, it was successful." Now we finally understand; it's about a completely different situation. A Yazidi family who had been abducted was recovered from the Islamic State and freed from their enslavement!

Khalil arranges a meeting with the head of this mission. We later stop in front of a dark building in the city center, brightly lit hotels all around. Security forces accompany us inside. Gaping emptiness surrounds us. Only three windows on the fourth floor are lit. There are cameras filming on the terrace. An interview is being carried out. It ends abruptly as we appear. A table is brought out and chairs are placed around it. We sit down. Everything seems a bit odd. However, the situation quickly becomes clear. Outside in the dark, in the midst of secret services and security people, we meet Hussein Qaidi, the head of the office for kidnapped and rescued Yazidis in Duhok, who personally led today's liberation mission. "We had to walk seven kilometers into the IS area until we were able to receive the families," he says, still visibly affected and impressed by the success of the action. "That was tonight at two o'clock; at six, we arrived back in Duhok. We made it this time, ALL of the people were rescued! We liberated five women, 26 children and five men."

We ask why the first two attempts were unsuccessful. Was the situation too dangerous? These are always dangerous, these liberation missions; indeed, they are life-threatening. However, the last attempt was broken off for another reason. One of the women had been severely injured by the bombing from airplanes. Therefore, everything was put off and the woman was taken care of first. They all wanted to flee together. No one should be left injured and alone. This is why they waited.

Again, we are impressed by the close connections and the degree of family cohesion between people here. Over the last few days, we had heard many stories about support for one another. A mother who remained behind, so that her daughter could be saved; boys and young men who fearlessly try to free their mothers, undaunted by the prospect of death. And now, this group who were abducted have returned, all 36 together. This is the most important thing for Hussein Qaidi. He stated: "We have saved over 3000 people to date. Another 2400 women and children remain captured. We want to save all of them! We won’t give up!" Again and again, the concrete details surprise me, especially in such a tumultuous war-time situation. How does the flow of information work? How is it possible to know exactly how many women and children are involved and, above all, that they are still alive?
"Of course there are contacts within IS. We know that more than half of the enslaved women and children are still alive. But we won’t know exactly before the area is liberated from IS. And when we have successfully located all of the mass graves. It is a sad truth that women and children are among those buried in these graves, even when most of them are our men. The Kurdish regional government helps us to identify the bodies with specific devices and provides people who are specialized in DNA investigations. We have found 30 mass graves so far. But it won’t be until all the cities are liberated, that we will know with certainty. "

He continues, "We know that our children, aged between 5 and 14 years old, have been brought to three different training camps, where their names and their religion have been changed. The majority of them no longer know who they really are and where they come from. Every morning and evening they are religiously indoctrinated. After the religious instruction, the children receive training with weapons and are prepared to carry out suicide bombings. They learn all the perverse killing techniques and forms of cruelty, that the IS itself perpetrates. Thus our children are raised to be enemies of their own religion and to a danger to their own families."
Intensive brainwashing has a quick effect on the children so that they come to see the 'Islamic' world of the IS as their own, and the life of the 'caliphate' as the only true one. Conversations with liberated children show their immense aggression, in combination with confusion and helplessness towards a world that has become alien to them. It will take a lot of time and patience until these young people find their feet in a world that they were brutally snatched from. Whether or not they will become a threat to society and their own families in the future will depend, among other things, on how they will be treated after their return. On what help is offered to them, so they can free themselves from this manipulated system of thinking. However, professional support is rarely available. There is an urgent need for cooperation with local relief organizations in Duhok; however, these are all already overburdened by the mass number of refugees from the regions affected by the war.
The purpose of Hussein Qaidi’s work is to plan and carry out the liberation of the enslaved individuals. Officially, his role in the relief work for these families ends after this point. However, everyone knows that the work is not over when families are brought back to Dohuk from the darkness of IS; this means the rescue operation is far from over. "We have closed this hotel and reserved it for liberated people. They can get everything for their daily needs. It is important that they receive new clothes immediately, as a symbol of shirking off the past. Medical and psychological care is immediately provided; I manage this process, visit them twice a day, and prepare everything for their future. We can only provide this help for a short time; we have to hand it over to relief organizations to support them afterwards."
Regional or national aid is not available to prepare and implement liberation missions. All further liberation activities depend on the will, the courage and the commitment of individuals. If, in some cases, paying a ransom is possible or necessary, the families are forced to try to raise huge sums to free their relatives. Many of them are prevented by this from succeeding. Even the government cannot and should not help, as by paying the ransoms, it would not only finance the liberations but IS itself. However, if a liberation has been successful, there is state aid available which can be applied for. "We ask you," says Hussein Qaidi as he concludes the conversation, "to try to help us carry out our missions; we need support from all over the world.  Imagine we had one of the liberated women who had been sold thirty times before, I do not need to explain to you any further, how significant that would be. For those people, everything is far worse than for those who have already found a place in the camps. We will not be able to do it alone.”

Hussein Qaidi is looking for the families with us. Khalil speaks with them to establish the most urgent needs and arranges to meet the most necessary of these. We stand silent. It is impossible to comfort here. The suffering from the experiences of the liberated women and children are far too great. Hardly an eye remains dry in this situation. And there she stood, M., who was sitting on the floor in the room, surrounded by her sleeping children. She gets up, walks up to me, and hugs me. I will never forget this moment. Those who need consoling are instead comforting us, as we stand helpless before them.



"The freedom that I mean ...this freedom is far from being a reality for the liberated. They are still locked in the cage of what they experienced. Whether it is possible to leave it again depends also depends on our help, that we must provide to them. This includes far more than covering the needs of daily life.”

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Khalil Qasim Bozani and Verena Rösner took part in this conversation.


An Yazidi advocate helped quietly usher 1.100 ISIS survivors to Germany in an unprecedented asylum programm.


"Wir geben nicht auf! Niemals! Wir befreien sie, unsere vom IS versklavten Frauen und Kinder!"

Aufregung am frühen Morgen in Duhok. Im Fernsehen, im Radio, in den Sozialen Medien - überall. In Windeseile verbreitet sich die Nachricht. "Sie haben 36 Personen befreit! Heute Nacht!" Wir Ausländerinnen verstehen diese Aufregung erst einmal überhaupt nicht. 36 Personen sind in Duhok eingetroffen, haben den Kriegshorror in Mosul hinter sich gelassen. Täglich haben wir solche Menschen gesehen, die es geschafft haben, dem Terror des Bombenhagels und den Kämpfen am Boden in und um Mosul irgendwie zu entkommen. Warum nun plötzlich überall diese strahlenden Gesichter? "Eine Familie ist zurück", erklärt Khalil, unser Begleiter. "Es war der dritte Versuch ihrer Befreiung. Heute Nacht hat es endlich geklappt." Nun verstehen auch wir. Es geht um etwas ganz anderes. Eine verschleppte Familie der Jesiden wurde dem IS wieder entrissen und aus ihrer Versklavung befreit!

Khalil vereinbart ein Treffen mit dem Leiter dieser Aktion. Später halten wir in der Innenstadt vor einem dunklen Gebäude, ringsum hell erleuchtete Hotels. Sicherheitskräfte begleiten uns hinein. Gähnende Leere überall. Lediglich drei Fenster im vierten Stock sind erleuchtet. Kameras auf der Terrasse. Ein Interview wird gegeben. Abbruch, als wir erscheinen. Ein Tisch wird gebracht, Stühle in der Runde aufgestellt. Wir nehmen Platz. Irgendwie merkwürdig alles. Doch dann klärt sich die Situation. Draussen im Dunkel, zwischen Sicherheitsdienst und Securityleuten treffen wir auf Hussein Qaidi, den Leiter des Büros für entführte und gerettete Jesiden in Duhok, der die heutige Befreiungsaktion persönlich geleitet hat. "Wir mussten uns sieben Kilometer in das IS Gebiet zu Fuss durchschlagen, bis wir die Familien in Empfang nehmen konnten", berichtet er, noch sichtlich mitgenommen und beeindruckt vom Erfolg der Aktion. "Das war heute Nacht um zwei Uhr. Um sechs sind wir dann wieder in Duhok angekommen. Wir haben es geschafft, dieses Mal, ALLE Personen sind gerettet! Fünf Frauen, 26 Kinder und fünf Männer haben wir befreit." 

Wir fragen nach dem Grund der ersten beide Abbrüche. War die Situation zu gefährlich? Es sei immer gefährlich, lebensgefährlich, eine solche Befreiungsaktion. Der letzte Abbruch hatte jedoch einen anderen Grund. Eine der Frauen war durch die Bombardierung der Flugzeuge schwer verletzt worden. Daher wurde alles abgeblasen und die Frau erst einmal versorgt. Sie wollten alle zusammen fliehen. Niemanden sollte verletzt allein zurückgelassen werden. Deshalb haben sie gewartet.

Wieder sind wir beeindruckt von den engen Bindungen und dem Zusammenhalt in der Familien. In den vergangenen Tagen haben wir mehrmals gehört, wie sie sich unterstützen. Eine Mutter, die zurückbleibt, damit auch ihre Tochter gerettet wird. Jungen und junge Männer, die versuchen, ihre Mütter zu befreien, todesmutig und ohne Angst. Und nun sind auch diese Verschleppten zurück, alle 36 zusammen. Das ist für Hussein Qaidi zunächst das Wichtigste. Und er fährt fort: "Bis heute haben wir über 3001 Personen gerettet. Weitere 2400 Frauen und Kindern sind noch in Gefangenschaft. Wir wollen sie alle retten! Wir geben nicht auf!" Immer wieder erstaunen mich die konkreten Angaben, gerade in einer so wirren Kriegssituation. Wie funktioniert der Informationsfluss? Woher weiss man so genau, um wieviele Frauen und Kinder es handelt und vor allem, dass diese noch leben?

"Es gibt natürlich auch Kontakte in den IS hinein. Wir wissen von mehr als der Hälfte der versklavten Frauen und Kinder, dass sie noch am Leben sind. Endgültig können wir das natürlich erst sagen, wenn das Gebiet wirklich vom IS befreit ist. Und wenn es uns gelungen ist, alle Massengräber ausfindig zu machen. Dass es Frauen und Kinder sind, ist eine der traurigen Wahrheiten, da in diesen Massengräbern überwiegend unsere Männer verscharrt sind. Die kurdische Regionalregierung hilft uns zu ihrer Identifizierung mit speziellen Geräten und stellt Personen zur Verfügung, die auf DNA-Untersuchungen spezialisiert sind. Bis zum heutigen Tag haben wir 30 Massengräber gefunden. Aber erst wenn alle Städte befreit sind, werden wir tatsächlich Gewissheit haben."

Er fährt fort: "Wir wissen, dass unsere Kinder, die zwischen 5 und 14 Jahre alt sind, in drei verschiedene Trainingslager gebracht wurden. Dort wurden ihre Namen und ihre Religion geändert. Die Mehrheit von ihnen weiss schon heute nicht mehr, wer sie wirklich sind, und wo sie herkommen.  Jeden Morgen und Abend werden sie religiös indoktriniert. Nach der religiösen Unterweisung werden die Kinder an den Waffen trainiert und auf Selbstmordattentate vorbereitet. Und sie erlernen alle perversen Tötungsarten und Grausamkeiten, wie der IS sie selbst verübt. So werden unsere Kinder zu Feinden ihrer Religion erzogen und zur Gefahr für ihre eigenen Familien."

Die intensive Gehirnwäsche wirkt schnell bei den Kindern, so dass sie die ‘islamische‘ Welt des IS bald als ihre eigene und das Leben im ‘Kalifat‘ als das einzig wahre ansehen. Gespräche mit befreiten Kindern zeigen, welch geballte Aggression in ihnen steckt, gepaart mit Verwirrung und Hilflosigkeit gegenüber einer Welt, die ihnen fremd geworden ist. Es wird Zeit und viel Geduld brauchen, bis sich diese jungen Menschen wieder in der Welt zurecht finden, der sie so brutal entrissen wurden. Ob es gelingt, dass sie zukünftig zu keiner Gefahr für die Gesellschaft und ihre eigenen Familien werden, hängt unter anderem davon ab, wie ihnen nach ihrer Rückkehr begegnet wird. Daran, welche Hilfe ihnen angeboten wird, damit sie sich aus dem manipulierten Denksystem wieder befreien können. Professionelle Unterstützung gibt es jedoch bisher kaum. Man ist in Duhok dringend auf Kooperation mit den ortsansässigen Hilfsorganisationen angewiesen, die aber angesichts der Massenfluchten aus den Kriegsregionen alle überfordert sind.

Die eigentliche Aufgabe von Hussein Qaidi ist die Planung und Durchführung von Befreiungen der versklavten Personen. Danach endet dann offiziell seine Hilfsaktion für die Familien. Doch alle wissen, dass es nicht damit getan ist, die Familien aus dem Dunkel des IS nach Duhok zurückzuholen. Und somit ist auch diese Rettungsaktion für ihn noch lange nicht beendet. "Wir haben dieses Hotel geschlossen und für die Befreiten reserviert. Sie erhalten hier erst einmal alles für ihren täglichen Bedarf. Wichtig ist, dass sie sofort neue Kleidung erhalten, als ein Symbol zum Abstreifen der Vergangenheit. Sie werden umgehend medizinisch und psychologisch betreut, denn es geht ihnen allen sehr schlecht. Ich selbst kontrolliere diesen Prozess, besuche sie zweimal täglich und bereite alles für ihre Zukunft vor. Wir können diese Hilfe aber nur für kurze Zeit leisten, dann müssen wir das an Hilfsorganisationen abgeben, damit diese weiter unterstützen."

Regionale oder nationalstaatliche Hilfen stehen nicht zur Verfügung, um die Befreiungsaktionen vorzubereiten und durchzuführen. Alle weiteren Befreiungsaktionen sind vom Willen, vom Mut und dem individuellen Einsatz Einzelner abhängig. Ist in manchen Fällen ein Freikauf möglich bzw. notwendig, müssen die Familien riesige Summen auftreiben, um ihre Verwandten auslösen zu können. Eine Vielzahl von ihnen scheitert daran. Auch die Regierung kann  und darf nicht helfen, würde sie bei der Beteiligung mit einem 'Freikauf' doch den IS finanzieren. Ist eine Befreiung jedoch geglückt, gibt es staatliche Hilfen, die beantragt werden können. "Wir bitten Euch", beendet Hussein Qaidi das Gespräch "bemüht Euch um unsere Aktionen. Wir brauchen die Unterstützung von überall auf der Welt. Stellt Euch vor, wir hatten eine der befreiten Frauen, die war zuvor dreissigmal weiterverkauft worden! Was das bedeutet, brauch ich Euch ja nicht näher zu erläutern. Für diese Menschen hier ist doch alles noch so viel schlimmer, als für diejenigen, die bereits einen Platz in den Camps gefunden haben. Allein schaffen wird das alles nicht mehr."

Hussein Qaidi sucht mit uns die Familien auf. Khalil klärt mit ihnen den ersten Bedarf und organisiert das Nötigste. Wir stehen stumm daneben. Hier 'Trost spenden' zu wollen, ist unmöglich. Zu groß sind die leidvollen Erfahrungen der befreiten Frauen und Kinder. Kaum ein Auge bleibt trocken in dieser Situation. Und da steht sie auf,  M., die im Zimmer auf dem Boden saß, um sie herum auf den Betten ihre schlafenden Kinder. Sie steht auf, geht auf mich zu und umarmt mich. Diesen Augenblick werde ich niemals vergessen! Die zu Tröstenden trösten uns, die wir hilflos vor ihnen stehen.


"Die Freiheit die ich meine ..." diese Freiheit ist für die Befreiten noch lange keine Realität. Zu eng sind sie noch in den Käfig des Erlebten gesperrt. Ob es gelingt, diesen wieder zu verlassen, hängt auch von unserer Hilfe ab, die wir ihnen zukommen lassen. Dazu gehört weit mehr, als den Bedarf für das tägliche Leben abzudecken.
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An dem Gespräch waren Khalil Qasim Bozani und Verena Rösner beteiligt. 

An Yazidi advocate helped quietly usher 1.100 ISIS survivors to Germany in an unprecedented asylum programm.

Liberated Yazidis. Between Hope, Fear and Sad Certainty


Khalil stops by the roadside near Sharya and turns off the engine. "We're waiting here. Someone is coming to pick us up." A car stops next to us. Somebody gets out. It is Idan Shekh Kalo, the director of the local Yazidi Affairs Authority in Dohuk. Khalil hugs him. They've known each other for years.

"Follow me," he asks, jumping into his car. We follow the dusty road, past the old village houses on the left and right, which are decorated with numerous white tents. Between them are goats and sheep, geese and chickens, an idyllic village; but appearances are deceiving. We are here in a camp. Camps are the places where those fleeing the Islamic State have found a temporary refuge. There are diverse kinds of camps; the official camps, which are fenced and guarded and with a camp management, the 'wild camps', and the 'abandoned villages'. 

We drive to one of the wild camps near an abandoned village. It lies on the edge of the mountains, very close to newer settlements. "Why are these houses called 'abandoned villages'?" I ask, "And why have these new buildings been built directly in front of them?" "This comes from the time of Saddam," Khalil says. "He told the villagers to leave their houses and resettle in the plains again; he was worried that the Peshmerga could hide well there, and because of the close proximity of the mountains, they would be able to flee to them quickly.  In the plains, the villages were more easily controlled by his people." Now, refugees live in these abandoned houses, trying to cope with the past, to the extent possible, and to find their way in the present. 

We have arrived. Idan Shekh Kalo jumps out of his car and tells us to get out too. There are three women sitting in front of the tent. They stand up. The usual greeting "ser sera u ser cava." "We want to see how you are doing," explains Khalil. "And we have the mattresses that you needed."

These are people from several families who live here together. Some are liberated, other relatives remain captives of IS. Some of them are known to still be alive. They are in contact with some of them. Others are known to be dead or resold, so there is no contact anymore. Khalil is concerned with "the liberated girl." She is on his list, and he has a lot in his pickup truck for her. He is shocked when he sees her. "I did not believe it was her," he admits. "She looks like a married elderly woman with children, but it is her, she is the girl S." S. remains silent and stares fixatedly in front of her. Two other women speak for her. She was in captivity for almost two and a half years, from August 2014 to February 2017; a dramatic captivity. We forgo any further questions, to avoid reopening wounds. Three more relatives from her family are still held by IS. She was the only one from eleven people who could be saved. "She is mentally ill and receives care" explains Idan Shekh Kalo. He does not need to explain this to us; if there is a person who exudes despair, grief, or trauma, then it is S.

"He still has 23 people there," he continues, "father, brother, daughter and son, but also other relatives." He? We look around. A man has joined, a boy by the hand. "We need some money to get them out, but it's very difficult. My son is ‘for sale’, but we would need $15,000 to buy him out. The government does not help us; even the many aid organizations do not. Almost all of them have disappeared again, because all this has been going on for so long. If there are no quick successes, they all leave again quickly. We must find the money ourselves somehow; the government will not give us anything. In that case they would also be paying to finance IS. It is impossible, $15,000, where could we get that from?” He sighs. Idan Shekh Kalo explains, "Support is available only for liberated people; for them, you get the money back. However, you have to explain everything very specifically, to the agents and everything, like how they were liberated; it is lot of bureaucracy, which is not easy for them. "We have to help because they only get the purchase money back and a little for clothes, nothing else."

We ask how to contact the relatives, and later contacting IS works, in order to bring back the abducted ones. "It depends. They have taken everything away from them. Some of them still have a phone number in their minds when they have a chance to find a phone, then call and try to get in touch with the family. That is why we have occasional contact with Raqqa. Or why we know that a daughter was sold to the Saudis .... "
"But if someone is bought back, it will never be disclosed openly," he continues. "They have been liberated, it is said". 


We ask whether the liberation action of the 36 people on the night of April 29th was a fortunate coincidence, that so many could be liberated at once so close to the battlefield around Mosul. "No," is the answer; "it was a very dangerous and secret action that had been worked on for a very long time, and if they had been caught, they would have received the death penalty. Or, bombs could have fallen close by. If you were confused with the enemy, they would have opened fire; there were mines everywhere as well. No, it was not a coincidence tonight, but rather a happy outcome of a planned action through previous long-term contact with the intermediaries."


As always, when curious strangers pass by, we are surrounded by many children who look at us attentively. We also wanted to know whether these children were liberated. "Him here" answers the father "he has been one of our agents." We look at the boy in disbelief. He is maybe around 10 years old. He was six years old when he was captured, we were told. His luck was his good knowledge of cell phone use. Therefore, he did not need to go to the children's training camp, but rather to 'sell'. His father takes his mobile phone out of his pocket and shows us videos. Two timid children are talking something into the camera. These are 'online sales listings'. Little children begging to be 'bought'. The boy had to perform this 'job'. He is in one video himself. In another is his little brother. Through these videos, his father knew that his son was still alive and also that his little daughter was sold abroad.

We are disgusted. We are horrified. We are speechless. Tears run everywhere. We carefully finish the conversation. Thank you, thank you so much, to all who told us their stories! We know it is not easy, but we must ask in order to tell others about what happened, so that perhaps somewhere people will hear, people who are willing to help to ensure that there are more successful liberations.

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Khalil Qasim Bozani and Verena Rösner took part in this conversation.

An Yazidi advocate helped quietly usher 1.000 ISIS survivors to Germany in an unprecedented asylum program.



Befreite Jesiden. Zwischen Hoffnung, Angst und trauriger Gewissheit

Khalil stoppt am Strassenrand von Sharya und schaltet den Motor aus. "Wir warten hier. Jemand holt uns."  Ein Auto hält neben uns. Jemand steigt aus. Es ist Idan Shekh Kalo, der Leiter der lokalen Behörde für yezidische Angelegenheiten in Duhok. Khalil umarmt ihn. Die beiden kennen sich seit Jahren.
"Fahrt mir nach" bittet er uns und springt in seinen Wagen. Wir folgen über die staubige Strasse, links und rechts an den alten Dorfhäusern vorbei, an die wie angeklebt zahlreiche weisse Zelte gelehnt sind. Zwischendurch überall Ziegen und Schafe, Gänse und Hühner, eine Dorfidylle. Doch der Schein trügt. Wir sind hier in einem 'Camp'. Camps sind hier die Orte, in denen vom IS Geflüchtete eine vorläufige Bleibe gefunden haben. Es gibt verschiedene Arten von Camps. Die offiziellen Camps, eingezäunt, bewacht und mit einer Lagerleitung, die 'wilden Camps' und die 'verlassenen Dörfer'.

Wir fahren zu einem der wilden Lager in der Nähe eines verlassenen Dorfes. Es liegt am Rande der ... Berge, ganz in der Nähe von neueren Siedlungen. "Warum heissen diese Häuser 'verlassene Dörfer'" frage ich "und warum sind direkt vor ihnen diese Neubauten entstanden?" "Das ist noch aus der Zeit von Saddam" erklärt Khalil "er hat die Dörfler damals angewiesen, ihre Häuser zu verlassen und sich weiter in der Ebene neu anzusiedeln. Er hatte Sorge, dass die Peshmerga sich dort gut verstecken und durch die Nähe der Berge in diese auch schneller wieder fliehen konnten. In der Ebene waren die Dörfer von seinen Leuten besser kontrollierbar."  In diesen verlassenen Häusern wohnen nun die Geflüchteten und versuchen, so gut es geht, mit der Vergangenheit zurechtzukommen und sich im Heute zurechtzufinden.

Wir sind angekommen. ... springt aus seinem Wagen und deutet uns an, ebenfalls auszusteigen. Vor Zelt sitzen im Schatten drei Frauen. Sie stehen auf. Die übliche Begrüssung "ser sera u ser cava." 
"Wir wollen gucken, wie es Euch geht" erklärt Khalil. "Und wir haben die Matratzen dabei, die Euch noch fehlen. "

Es sind Leute aus mehreren Familien, die hier zusammen wohnen. Einige sind befreit, andere Angehörige sind noch vom IS verschleppt. Von einigen wissen sie, dass sie noch leben. Zu einigen haben sie Kontakt. Von anderen wissen sie, dass sie tot sind oder weiter verkauft wurden, so dass kein Kontakt mehr besteht.  Khalil geht es um "das befreite Mädchen." Sie steht auf seiner Liste, und für sie hat er einiges auf seinem Kleinlaster. Er ist schockiert als er sie sieht. "Ich hab' erst nicht geglaubt, dass sie es ist" gibt er zu. "Sie sieht aus wie eine verheiratete ältere Frau mit Kindern. Aber sie ist es. Sie ist das Mädchen S." S. bleibt stumm und blickt starr vor sich hin. Die beiden anderen Frauen reden für sie. Fast zwei und ein halbes Jahr war sie in Gefangenschaft. Von August 2014 bis Februar 2017. Eine Gefangenschaft, die dramatisch war. Wir verzichten auf weitere Fragen, die doch nur die Wunden wieder aufreissen. Drei weitere Personen aus ihrer Familien sind noch immer beim IS. Sie selbst konnte von elf Personen als einzige gerettet werden. "Sie ist psychisch krank und erhält Betreuung" erkärt uns Idan Shekh Kalo. Das braucht er uns eigentlich nicht zu erklären. Wenn jemand Verzweiflung, Trauer oder Trauma ausstrahlt, dann ist es S.

"Er hat noch 23 Leute dort" berichtet er weiter, "Vater, Bruder, Tochter und Sohn, aber auch weitere Verwandte." Er? Wir blicken uns um. Ein Mann ist hinzugekommen, einen Jungen an der Hand. "Wir brauchen irgendwie Geld, um sie herauszubekommen. Aber es ist sehr schwierig. Mein Sohn ist 'zu verkaufen', aber wir bauchen 15.000 Dollar, um ihn rauskaufen zu können. Die Regierung hilft uns da nicht. Und auch die vielen Hilfsorganisationen nicht. Sie sind fast alle wieder verschwunden, nachdem sich hier alles so lange hinzieht. Sind keine schnellen Erfolge da, sind alle auch bald wieder weg. Wir müssen das Geld selbst finden. Irgendwie. Die Regierung gibt uns nichts. Sie würde dann ja auch den IS bezahlen und finanzieren. Das ist nicht möglich, 15.000 Dollar, wo sollen wir die her nehmen."  Er seufzt.  Idan Shekh Kalo erklärt "Unterstützung gibt es nur für befreite Personen, für sie bekommt man das Geld zurück. Aber man muss alles genau erklären, die Vermittler und alles, sagen wie sie befreit wurde, viele Bürokratie erledigen, das ist nicht einfach für die Menschen. Wir müssen da helfen, denn sie bekommen nur das Kaufgeld zurück und ein bißchen für Kleidung, sonst nix."

Wir fragen, wie der Kontakt zu den Angehörigen und später der Kontakt zum IS zustande kommt, um die Verschleppten zurück zu holen. "Das ist ganz verschieden. Ihnen ist ja alles weggenommen. Manche haben noch eine Telefonnummer im Kopf, wenn sie eine Chance haben, ein Telefon zu finden, dann rufen sie an und versuchen Kontakt zu der Familie zu bekommen. Daher haben wir zum Teil Kontakte nach Raqqa. Oder wir wissen, dass eine Tochter an Saudis weiterverkauft wurde ... ."


"Aber wenn jemand zurück gekauft wird, das wird niemals offen bekannt gegeben" erklärt er weiter. "Sie sind befreit worden, heisst es. Mehr sagen wir nicht." Wir fragen nach, ob die Befreiungsaktion der 36 Personen in der Nacht des 29. April ein glücklicher Zufall gewesen ist, da so viele so nahe direkt am Kampfgebiet um Mosul auf einmal befreit werden konnten. "Nein" ist die Antwort, "das war eine sehr gefährliche und geheime Aktion, an der sehr lange gearbeitet worden ist. Wären sie erwischt worden, wäre für sie die Todesstrafe sicher gewesen. Oder es hätten Bomben in der Nähe fallen können. Da man über die Kampflinien muss, hätte man mit dem Feind verwechselt werden können und dann wäre das Feuer eröffnet worden. Und dort gibt es Minen, überall. Nein, das war kein Zufall heute Nacht, sondern eine glücklich verlaufene und geplante Aktion mit vorherigen langen Kontakten zu den Vermittlern."

Wie immer, wenn wieder mal neugierige Fremde vorbei kommen, sind wir mittlerweile von vielen Kindern umringt, die uns aufmerksam betrachten. Ob auch diese Kinder befreit wurden, wollten wir wissen. "Er hier" antwortet der Vater "er hier ist einer unserer Vermittler gewesen." Ungläubig schauen wir auf den Jungen. Er mag ungefähr 10 Jahre alt sein. Sechs Jahre war er alt, erfahren wir, als er gefangen genommen wurde. Sein Glück waren seine guten Mobilphone Kenntnisse. Daher brauchte er nicht ins Kindertrainingslager, sondern er musste ‘verkaufen‘. Der Vater holt sein Handy aus der Tasche und zeigt uns Videos. Zwei schüchterne Kinder, die etwas in die Kamera hinein sprechen. Es sind 'Online-Verkaufsanzeigen'. Kleine Kinder, die darum betteln, 'gekauft' zu werden. Diesen 'Job' musste der Junge ausführen. Ein Video ist er selbst. Das andere ist sein kleiner Bruder. Daher weiss der Vater auch, dass er noch lebt und dass seine kleine Tochter ins Ausland weiterverkauft wurde.

Wir sind entgeistert. Wir sind entsetzt. Wir sind sprachlos. Tränen laufen überall. Vorsichtig beenden wir das Gespräch. Danke, danke, an alle, die uns ihre Geschichten erzählen! Wir wissen, dass das nicht einfach ist. Aber wir müssen nachfragen, um es weitererzählen zu können, damit es vielleicht irgendwo Menschen hören, die bereit sind, mitzuhelfen, dass es weitere geglückte Befreiungen gibt.

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An dem Gespräch waren Khalil Qasim Bozani und Verena Rösner beteiligt. 

An Yazidi advocate helped quietly usher 1.100 ISIS survivors to Germany in an unprecedented asylum programm.










Kurdische Akademiker Tagung: Schafft die Republik sich ab?

Grund- und Freiheitsrechte auf dem Prüfstand. Wohin driftet die Türkei? (1)


Herzlichen Dank für die Einladung zum heutigen Tag, die ich gerne angenommen habe. Eingeladen wurde ich wohl stellvertretend für alle diejenigen Akademikerinnen und Akademiker in Deutschland, die das Geschehen in der Türkei aufmerksam und erschrocken betrachten und mit Sorge fragen, ob die Bevölkerung im Land nicht mittlerweile so tief gespalten ist, dass eine friedliche Lösung der gegenwärtigen Konflikte kaum noch möglich ist. 


I.
Als ich mich mit den Veranstalterinnen vor Monaten absprach, zu welchem Thema ich mir Gedanken machen sollte, ging es noch um die Frage, ob sich die Grund- und Freiheitsrechte in der Türkei auf dem Prüfstand befänden. Heute müssen wir konstatieren, dass sich das Thema wohl überholt hat. In der Türkei sind seither Veränderungen mit einer solchen Geschwindigkeit im Gang, die einem zum Teil den Atem rauben und einem die Worte zur Bewertung des Ganzen immer öfter im Halse stecken bleiben. Denn heute geht es m.E. nicht mehr um ein Nachdenken darüber, ob die Republik sich abschaffen will. Heute geht nur noch darum, ob es dieser Republik wirklich gelingt, sich selbst abzuschaffen.

Da soll ein Jemand per Gesetzesänderung unbegrenzte uneingeschränkte Macht erlangen und die Freiheit erhalten – aber auch die Befugnis – ohne Kontrollinstanz die Geschicke eines Landes innen- und außenpolitisch zu lenken. Über eine solche Änderung der bestehenden Verfassung stimmte die Mehrheit des Parlaments der Türkei in den letzten Tagen ab. Hierzu wird sicherlich gleich Konkreteres berichtet. Wichtig ist jedenfalls, dass das Parlament beschloss, es einem Volksentscheid zu überlassen, ob es sich selbst abschaffen und die Macht in die Hände einer einzigen Person legen soll. 

Im Allgemeinen werden Volksentscheide als ein demokratisches Mittel zur Willensbekundung der Bevölkerung angesehen. Nach Umfragen in der Türkei sind es gegenwärtig jedoch 78% der Bevölkerung, die überhaupt nicht wissen, mit welchen Konsequenzen eine solche Entscheidung verbunden ist, und welche Auswirkungen diese Verfassungs-Veränderung für das Zusammenleben im Lande hätte. D.h. ein solcher Volksentscheid kann gegenwärtig gar keine Willensbekundung der Bevölkerung sein. Im Gegenteil. Mit der Befürwortung dieses Gesamtpakets an Gesetzesänderungen würde dem Volk seine Souveränität ohne vorherige Aufklärung einfach entwendet und in die Hände nur einer Person gelegt. „Vertraut uns, stimmt mit ja - EVET - und alles wird gut“ so ungefähr können wir uns die jetzige Aufklärungskampagne staatlicherseits vorstellen, „wählt den starken Mann, er wird sich dann schon um euch kümmern und hört auf, euch Gedanken und Sorgen zu machen.“

Hinzu kommt das mittlerweile bekannte Spiel mit der Angst. Denn wird Aufklärung öffentlich betrieben, um Argumente auch für ein „HAYIR“, ein Nein zu benennen, dann werde man schon wissen, so Sedat Peker sinngemäss, wie dies zu unterbinden sei. Und die Ausführungen dieses Mannes, das hat die Vergangenheit gezeigt, sind absolut ernst zu nehmen.

II.
Wir haben uns heute aber nicht als interessierte Privatpersonen versammelt, sondern als Akademikerinnen und Akademiker, die einen Diskurs darüber führen wollen, ob diese Türkei als Republik sich gegenwärtig abschafft, und wie sich dazu zu positionieren ist.

Es gilt, die Grund- und Freiheitsrechte in der Gesellschaft zu bewahren. Ja, natürlich. Immer und überall. Aber um welche Rechte, um welche Freiheit geht es denn da überhaupt noch? Hat sich diese Frage aus der Sicht der Machthabenden nicht schon längst beantwortet, ja sogar erledigt? Oder vielleicht doch noch nicht? Was ist zu tun? Jetzt, heute, morgen und in der nahen Zukunft?

Gestatten Sie mir dazu einen kurzen Rückblick. 

Vor einem Jahr erreichte mich am frühen Morgen ein Hilferuf aus der Universität Kocaeli. Kolleginnen und Kollegen würden verhaftet. Sie hatten den mittlerweile weltweit bekannten Friedensaufruf initiiert und verbreitet, in dem für eine friedliche Lösung des kurdischen Konfliktes eingetreten und dafür geworben wird. Sie erinnern sich sicher, eine Welle weltweiter Empörung unter den Akademikerinnen und Akademikern war die Folge. Allein die vom Kollegen Cağlar und mir verfasste Erklärung zur Unterstützung dieses Aufrufes und zur Entkriminalisierung der Verfasserinnen und Verfasser durch die Akademikerschaft an den deutschen Hochschulen haben über 6.000 Personen unterzeichnet. Und das ist nicht der einzige Aufruf, der in Deutschland verfasst wurde. (2)
In anderen europäischen Ländern geschah das Gleiche. Und nicht nur dort.
Keiner von uns hat sich damals vorstellen können, mit welcher Geschwindigkeit die Situation im Lande weiter eskalieren würde.

Diese Entwicklung hat sich aber m.E. nicht erst zu Beginn des letzten Jahres abgezeichnet, als massiv versucht wurde, die Geschehnisse im Osten des Landes zu legitimieren und/oder zu verheimlichen und Andersdenkende zu „Vaterlandsverrätern“ oder gar zu „Terrorsympathisanten“ abzustempeln. Auch der gescheiterte Putschversuch Mitte letzten Jahres  ist m.E. nicht die wirkliche Ursache der gegenwärtigen Entwicklung. Es ist eher die Sorge um einen möglichen Machtverlust der gegenwärtig Regierenden und die Anstrengung, sich die weiterhin Macht auf Dauer zu sichern, koste es was es wolle.

Und diese Sorge begann, wie im Vorspann zum diesjährigen Fachtag von den Veranstalterinnen beschrieben, mit einem ganz konkreten Ereignis am 7. Juni im Jahr 2015. Ein Tag, den ich in Istanbul erlebt habe:
An diesem Sonntag lag über dem Stadtteil Tarlabaşı eine angespannte Ruhe. 
Wenige waren auf den Straßen. Etliche Autos am Rande. Das wars.
Dann zeichnete sich das Ergebnis der Wahl ab. Von einer Sekunde zur anderen begann der gesamte Stadtteil zu beben. Ein Trillern, ein Klatschen, ein Rufen und Schreien, Autohupen, Autokorsos, plötzlich kurdische Fahnen überall. Und alle strömten um die Ecke in Richtung HDP Büro.  Das hat nicht aufgehört in dieser Nacht, das Singen und Tanzen, das Hupen … Dieser kaputte, vergessene Stadtteil Istanbuls hatte sich in Sekundenschnelle in ein kunterbuntes Etwas verwandelt. 
Frauen in ihren schönsten Gewändern, Männer mit Fahnen und lautem Hupen und überall  Musik. Tanz die ganze Nacht hindurch, es war unbeschreiblich.

Und genau das gab m.E. den Anlass zur Sorge. 
84 % der Bevölkerung hatten gewählt.
Nur 40,87 % stimmten für die AKP.
Und 13,12 % stimmten für die HDP.
Das war eine Revolution. Das hatte niemand erwartet. 
Und das wurde in der Nacht nicht nur in Tarlabaşı gefeiert. 
Friedlich, freundlich, offen und glücklich.

Und heute? 

Vor ein paar Wochen, am Abend des 31.12. mit dem Flughafenbus ankommend, 
da war Tarlabaşı für mich mit Gittern abgesperrt. Ein Durchkommen war nur Einzeln möglich, mit vorheriger Ausweiskontrolle. 17.000 Polizisten waren an diesem Abend im Einsatz, rund um Taksim und Istiklal. Geholfen hat es nicht, das geplante Attentat zu verhindern. Es war dann eben nicht auf Istiklal, sondern fand in Reina statt. 

Warum erzähle ich das?
Diese beiden Ereignisse symbolisieren für mich den Anfang und den jetzigen Ist-Zustand als eine Art Zeitschiene dieses Prozesses, den wir alle beobachten konnten, und der eben nicht erst seit dem gescheiterten Putschversuch seinen Lauf nahm.  Im Grunde hat er genau mit dem Juni 2015 seinen Anfang genommen. Und es ist überhaupt nicht absehbar, ob die Chance noch besteht, dass sich in naher Zukunft wieder etwas zum Guten wenden könnte.

D.h. nicht der Putschversuch, nein, die Wahl im Juni 2015 UND wie dann in der Folgezeit mit der HDP von ALLEN anderen Parteien umgegangen wurde, um jeweils die eigene Macht zu stabilisieren und perspektivisch nicht wieder zu verlieren. Das ist für mich der eigentliche Wendepunkt. Und dabei habe ich nicht nur das Verhalten der Regierungspartei und ihr Anhängsel – die MHP – im Blick.
Seitdem ist vermehrt zu beobachten, wie allein aus dem Machterhaltungs-Grund die Grund- und Freiheitsrechte im Land Zug um Zug so stark und so bedrohlich eingeschränkt werden, dass sich Opposition dagegen kaum noch regen kann, bzw. sofort als illegal unterbunden wird. Da muss man auch gar nicht erst in den Osten des Landes fahren – falls man da überhaupt noch hingelassen wird – um die Stimmung zu spüren, die sich seit dieser Wahl Zug um Zug wie ein Teppich über das gesamte Land gelegt hat. Besorgnis, Vorsicht und ängstliche Stille. 

III.
Lassen Sie uns diese Entwicklung einmal aus der Perspektive unseres Berufsstandes betrachten. Welche Aufgabe haben Wissenschaften, haben unsere jeweiligen Fachdisziplinen in der Gesellschaft? Und insbesondere in einer solchen Situation, in der sich die Türkei gegenwärtig befindet? 

Jeder Berufsstand hat seine eigene Kultur, sein ethisches Korsett. Und das gilt für unsere Wissenschaftscommunity ebenfalls und zwar weltweit. Dazu gehört, dass  Wissenschaft im Dienste des Menschen steht und dass sie nicht im Dienste des Staates zu stehen hat. In diesem festgelegten und nicht hinterfragbaren Rahmen bewegen sich die Aufgabenstellungen in unserer jeweiligen Fach-Disziplin. 
Nicht nur in Deutschland, sondern in den Ländern der westlichen Welt ist dabei grundlegender Konsens, dass „Wissenschaftler … in Staat und Gesellschaft die Aufgabe (haben), Wissen und Erkenntnis zu mehren und zu vermitteln sowie Kraft ihrer Expertise Legislative, Exekutive und Jurisdiktion zu beraten.“ 
Für Deutschland ist das beim Deutschen Hochschulverband nachzulesen. 
Dort heißt es weiter: „Wissenschaftler sind zur Unparteilichkeit verpflichtet. .., 
Wissenschaft ist weisungsfrei. Und: Ihre Unparteilichkeit steht unter grundrechtlichem Schutz.“ 

Es ist nach unseren Wissenschaftsstandards daher nicht nur Aufgabe, sondern sogar unsere Pflicht, bei gesellschaftlichen Konflikten nach friedlichen Lösungen zu suchen und die Politik auf diese hinzuweisen. Akademikerinnen und Akademiker aus diesem Grunde zu diskriminieren, ja sogar zu verfolgen ist untragbar und widerspricht drüber hinaus ihrem grundrechtlich verbrieften Auftrag. Unsere Empörung in der westlichen Welt über den Umgang mit jenen Akademikerinnen und Akademikern ist berechtigt. Und eigentlich brauchen wir das überhaupt nicht gesondert zu begründen. 

Dass dies für alle anderen gesellschaftlichen Gruppen und Individuen ebenfalls gilt, ist selbstverständlich und gehört mit in den Kontext unserer Analysen. Eine Gesellschaft, in der das eigenständige Denken zunehmend verboten wird und man versucht, die Bevölkerung in parteipolitisch und/oder religiös Vorgedachtes hineinzuzwängen, um diese umzuformen, begibt sich in Gefahr der Indoktrinierung. Denn entwickelt sich dieses parteipolitisch Vorgedachte zu einem geschlossenen System, entsteht auf Dauer ein Druck in der Bevölkerung, der zu einem explosionsartigen Ausbruch kommen kann. 
Das hat uns die Geschichte doch zur Genüge bewiesen.

Und Druck durch Angst in Schach halten zu wollen, in der Hoffnung, dadurch entstandene Spannungen abfangen und deckeln zu können, um eine Entladung zu verhindern, hat meines Wissens noch nirgendwo funktioniert und wird auch in der Türkei nicht funktionieren. 
Man täte also gut daran, Dialoge nicht zu kappen, sondern im Gegenteil, von der vorhandenen Vielfalt zu profitieren, anstatt diese zu verbieten. Doch das geschieht ja mit aller Macht.

„Wir haben den Zeitpunkt verpasst, als man das Rad noch hätte zurückdrehen können“, bekomme ich bei meinen Besuchen in der Türkei zu hören. „Die Opposition ist zu schwach, zu uneinig, und wir schaffen es nicht, gemeinsam an einem Strang zu ziehen.“ Dann macht sich wieder diese Resignation breit und die Diskussion verstummt. 

Ist der Riss, ist die Spaltung in der Gesellschaft wirklich so tief, dass durch die Unterbindung der Meinungs- und Informationsfreiheit das Denken in Richtung auf eine positive Zukunft verunmöglicht wird?

Hat die berechtigten Angst, durch die aktuellen Etikettierungen als „Gülensympathisant“ oder „PKK-Sympathisant“ in die Terroristenecke gestellt zu werden zur Folge, das eigene Handeln zu lähmen? Denn wer in diesem „Kampf um das Böse“, dem „Kampf gegen den Terror“ selbst zum Terroristen wird, das haben wir bemerkt, ist weniger durch reale Tatsachen, als durch politisch inszenierte Meinungen bestimmt. Hinzu kommt, dass „Terrorismus“ ein schwammiger und undefinierter Begriff ist, unter den alles passt. Paart man ihn mit dem Begriff des „Verdachtes“ ist es mit der Freiheit vieler nicht mehr weit her, wie wir es in den letzten Wochen und Monaten leider erfahren haben.

Was das für die einzelnen Personen und ihre Familien bedeutet, können wir uns hier in Deutschland kaum ausmalen, obwohl bereits die Beschreibungen der Zustände einen täglich erschaudern lassen. Denn es geht ja staatlicherseits gar nicht (mehr) darum, mögliche Bedrohungen ausfindig zu machen und zu unterbinden. Es gilt vielmehr, Angst zu schüren und Widerstand schon im Keim zu ersticken. Jede könnte die Nächste sein, an deren Tür in der Nacht geklopft wird, und die Erfahrungen erleben muss, wie sie Aslı Erdogan in ihren letzten Berichten über ihre Verhaftung und ihren Gefängnisaufenthalt beschrieben hat. Die Angst der Regierung, das Vorgenommene doch nicht zu schaffen, muss sehr groß sein, wenn sie als Folge glaubt, derartig agieren müssen. 




IV.
Ist also gegenwärtig nur Resignation angesagt? 
Ich denke nein. Die Geschichte zeigt, dass Menschen immer dann besondere Stärke beweisen, wenn ihr Grundrecht auf die Freiheit im Denken und Handeln durch Machtmissbrauch vom Staat eingeschränkt zu werden droht. Aber wir alle wissen auch, es braucht großen Mut und breite Unterstützung, solche Wege öffentlich zu bestreiten. Damals wie heute. Gerade wenn der Wind einem ins Gesicht bläst und nicht zu erkennen ist, ob dieser dabei ist, sich zum Sturm oder gar zum Orkan zu entwickeln. Doch seien wir ehrlich. Der Wind um die Grund- und Freiheitsrechte in der Türkei hat sich bereits zum Sturm entwickelt und wir haben Grund zur Sorge, dass dieser wie ein Orkan über das Land hinwegfegt und dabei noch mehr Zerstörung und Vernichtung hinter sich lässt. Diesen Prozess aufzuhalten ist m.E. unser aller Pflicht, jede und jeder an seinem Ort.

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1) 28. Januar 2017
2) Aufruf und Presseberichte:



Neujahr in Istanbul – Die Fortsetzung des Türkischen Alptraums

Nach einer nebligen Abflugverzögerung endlich die nächtliche Ankunft im total verregneten Istanbul. Wenigstens funktioniert die Elektrizität. Die Häuser sind erleuchtet. Leuchtreklamen lassen Konsum- und Kulttempel in hellem Licht erstrahlen. Noch herrscht Ruhe vor dem Neujahrsfeuerwerk. Anders als in Deutschland ist kein vorzeitiger Böller ist zu hören. Doch alles wirkt heute merkwürdig anders. Auf der Strasse neben dem Gezipark ist ein Vorwärtskommen kaum möglich. Gitterabsperrungen. Ein Meer von Polizisten in Uniform, in Zivil. Andere wiederum haben Leuchtwesten mit sichtbarer Aufschrift ‚Polizei‘ auf dem Rücken. Die Seitenstrassen in Richtung Tarlabası sind abgesperrt. Personen werden kontrolliert und können nur einzeln passieren. 

„Was ist los?“ fragen wir einige Polizisten. „Nix. Nur Vorsorge wegen Neujahr“  ist die einhellige Antwort.
Doch alles wirkt irgendwie unheimlich. Es sind einfach zu viele. An manchen Stellen scheinen sie fast noch mehr zu sein, als die auf und ab schlendernde Menschenmenge. Was werden wir wohl erst auf Taksim zu sehen bekommen? Aber dort und auch auf Istiklal ist weit und breit kein Toma zu sehen. Das ist merkwürdig, denn Wasserwerfer gehören bei erhöhter Polizeipräsenz eigentlich immer zum Strassenbild.

Um das französische Konsulat – wie seit dem Anschlag im März 2016 hier  üblich – zum Schutz die Gitterabsperrung. Dennoch macht alles eher den Eindruck „Keine Angst, wir sind hier. Wir passen auf, wir schützen Euch.“ Aber auch jedes weitere Gebäude auf unserem Weg ist bewacht. So habe ich das noch nie gesehen. Es hat den Anschein einer Bewachungskette auf beiden Seiten die gesamte Strasse hinunter.

Und noch etwas ist neu. Die Seitenstrassen sind blockiert, aber nicht wie üblich durch Gitter abgesperrt. Diesmal blockieren jeweils 4 Polizeifahrzeuge, die sich mit der Front gegenüberstehen mit laufendem Motor, umringt von Sicherheitskräften. Es erscheint, als wolle man dort nicht nur eine Strasse blockieren, sondern als stehe man auch auf Abruf, um bei Bedarf in Sekundenschnelle durchstarten zu können. Anders als in früheren Zeiten – zum Beispiel zur Zeit der Gezibewegung – als Zivilpolizisten nicht gleich erkennbar und ihre Arbeitsmittel in Plastiksäcken an den Strassenecken abgestellt waren, um bei Bedarf die Gummiknüppel schnell zur Hand zu haben, ist davon diesmal nichts zu bemerken. Unbekümmert stehen Sicherheitskräfte in Grüppchen herum. Andere wiederum beobachten gezielt. An den Seiten liegen Proviant und Getränke. Sie sind auf eine lange Nacht vorbereitet.

Es herrscht eine mir unbekannte, neue Stimmung, fast fröhlich und unterhaltsam, aber dennoch aufmerksam. Von Sicherheitskräften und Bevölkerung ist keine Distanz bemerkbar, im Gegenteil. Passanten posieren mit vermummten Polizisten und schießen Selfies. Auf die Menschenmenge, die hier in Istiklal zum Ende des Tages stetig anwächst, hat es offensichtlich diesmal niemand von den Sicherheitskräften abgesehen. Auch die aggressive Garde scheint verschwunden. Auffallend sind die vielen jungen Gesichter der Polizisten und Polizistinnen. „Etwas hat sich geändert bei der Polizei,“ erklärt mein Kollege. „Viele wurden nach dem Putsch verhaftet oder entlassen. Neue wurden eingestellt. Sie sind gut ausgebildet, aber sie haben nicht mehr diese Distanz zur Bevölkerung, wie es die alte Garde hatte.“ Auf unserem Weg durch eine Seitenstrasse bemerken wir akribische Personenkontrollen und auch hier eine Omnipräsenz der Sicherheitskräfte. Der Stadtteil scheint von Polizei ‚besetzt‘ zu sein. Freunde bestätigen, auch für sie sei es eine neue Qualität und von ihnen zuvor so noch nicht erlebt. 

Plötzlich platzt diese Nachricht in unsere friedliche Neujahrsrunde im Petra Palace Hotel. „Reina!“ „Guckt mal Reina, schnell!!“ Schon sausen die ersten Polizeiautos mit Blaulicht an den Fenstern vorbei. Kurze Zeit später sind die Strassen verstopft und nichts geht mehr. Der Stadtteil ist abgesperrt. Das ist das Ende von unserem fröhlichen Neujahresanfang.

Was ist passiert? Das Internet funktioniert diesmal. Die Sozialen Medien reagieren blitzschnell. Die übliche Nachrichtensperre ist noch nicht ausgesprochen: Ein erneuter Terroranschlag! Bei einem Angriff auf den Reina Nachtclub gelingt es Angreifern um 1:45 Ortszeit in diesen Club einzudringen und dort ein Massaker anzurichten. Ursprünglich wird von mehreren Angreifern geredet, die sich mittlerweile auf der Flucht befänden. Mittlerweile nur noch von einer Person. 


Was für ein Club ist das Reina, den sich die Terroristen da ausgesucht haben?


Barbara Vorkammer beschreibt den Club als Symbol für Reichtum und Dekadenz, aber auch als eine "Instanz im Istanbul Nachtleben." Der direkt am Wasser unterhalb der drei großen Brücken über den Bosporus gelegene Club, der über mehrere Restaurants, Tanzflächen und eine zentrale Bar verfüge, sei seit seiner Eröffnung 2002 beim türkischen Jetset, Promintenten sowie ausländischen Touristen beliebt. [1]


Für Mehmet Koçarslan, Gründer dieser Kultstätte, symbolisiert Reina die "World under one roof." Für ihn ist der Club eine Metapher und Ausdruck der Multikulturalität in der Türkei, aber auch ein "passport to the European Union." [2] Und Vorkammer mutmasst, dass Reina genau aus diesem Grund als Ziel ausgewählt wurde. Durch diesen Angriff wurden 39 Menschen getötet und 69 weitere zum Teil sehr schwer verletzt. Eine traurige Bilanz für eine Feier zur Begrüssung des Neuen Jahres.

Jetzt erklärt sich uns auch die breite Präsenz der Sicherheitskräfte im Stadtteil. Von 17.000 Polizisten ist da die Rede. Allerdings ist nur von einem Polizisten vor dem Club die Rede, ein 21jähriger, der durch diesen erneuten Wahnsinn in den Tod gerissen wurde.

Es scheint Hinweise gegeben zu haben. Und wenn ja, wie wurde mit diesen umgegangen? Hier gibt es unterschiedliche, zum Teil widersprüchliche Sichtweisen. Sicher ist jedenfalls, dass die Gruppe des IS Warnungen gegenüber der Türkei ausgesprochen hat.



Offensichtlich scheint man in diesem Spektrum nach dem oder den Tätern zu suchen. Doch dann geschieht leider auch sehr schnell das hier mittlerweile Übliche: Es wird eine Nachrichtensperre verhängt. Diese Vorgehensweise verwirrt. Warum gibt es keine öffentliche Warnung, dass der Täter noch unterwegs ist? Es existiert auch keine Skizze des Gesuchten. Dabei hat sich doch immer wieder gezeigt, dass Bürger und Bürgerinnen bei Fahndungen hilfreich sein können. Wieder wird hier offiziell völlig anders reagiert, als dies beispielsweise während des jüngsten Attentats auf einem Weihnachtsmarkt in Deutschland geschah. 

Auch in Reina spielt das Thema Weihnachten offenbar eine Rolle. Einer der Täter soll sich als Weihnachtsmann in den Club geschmuggelt haben. Doch dies wird später offiziell dementiert. Wenn es so wäre, wie die Bilder der Überwachungskamera annehmen lassen, was hat dann ein Weihnachtsmann auf einer Neujahrsfeier zu suchen?  Wieso kommt jemand mit einer solchen Verkleidung unbemerkt in eine Feier zur Begrüssung des Neuen Jahres? Während in anderen Ländern das Neue Jahr mit Luftschlangen und Böllerschüssen begrüsst wird, gehören in der Türkei bei solchen Feiern offensichtlich der Weihnachtsbaum und der Weihnachtsmann dazu. Ob sich aus historischer Unkenntnis oder der Einfachheit halber diese nichts miteinander zu tun habenden nichtmuslimischen Feste im Verlauf der Zeit miteinander verschmolzen haben, ist ein anderes Thema. Aus Sicht in der Türkei jedenfalls gehören sie heute irgendwie zusammen, und somit wird auch verständlich, wenn jemand mit einer solchen roten Mütze am Neujahrstag Einlass begehrt, warum dies weder verwundert, noch ein mordender Terrorist in ihm vermutet wird. 

Es ist etwas anderes, dass verwundert und auch verwundet im jüngsten Vorgehen in der Türkei: der Umgang mit den nichtmuslimischen Festen. Waren da nicht die Predigten am vergangenen Freitag in einigen Moscheen, in denen öffentlich verkündet und kritisiert wurde, den Anfang des Neuen Jahres überhaupt zu feiern? Erinnern wir uns: Der unter 'Ahmet Hoca mit der Robe' bekannte, der Ismailağa Gemeinde angehörige Prediger sagte, Neujahrsfeste seinen "haram", d.h. im Islam verboten, sie seien Feste der schmutzigen Ungläubigen (Gavur), der Kafir und kommentierte: "Würdest du an dem Tag feiern, an dem die Mörder deines Vaters feiern? Nimm nicht teil an der Feier der Mörder deines Vaters, an den Feiern der Feinde deiner Religion. Wenn du die Feier dieser schmutzigen Ungläubigen feierst, verflucht Allah dich und schickt sie dir an den Hals." Oder der Prediger Nureddin Yıldız, in dessen Umfeld sich übrigens auch der Attentäter Mevlüt Mert Altıntaş des russischen Botschafters befand. Er rief die Muslime in einer Ansprache zu Reaktionen gegen die Neujahrsfeiern auf. [3] Und es  waren sogar Plakate in der Öffentlichkeit zu sehen, auf denen der Weihnachtsmann K.O. geschlagen wird:



Ich denke, es ist an der Zeit darüber nachzudenken, ob eine solche Stimmungsmache gegen nichtmuslimische Traditionen in der Türkei – ebenso wie in jeder multikulturell zusammengesetzten Gesellschaft – zur Gefahr wird, Angehörigen radikaler Sichtweisen den Weg weiter zu ebnen. Wenn diese Kräfte so ausser Kontrolle geraten können, dass sie mit Totschlag und Mord sympathisieren, um ihre eigenen Ziele durchzusetzen, dann werden sie auch vor weiteren Terrorakten nicht zurückschrecken.
Irgendwo habe ich heute sinngemäß gelesen: „Früher haben wir am Neujahrstag die Neugeborenen benannt und uns über ihre Ankunft gefreut. Heute scheint es so, als ob wir beginnen, an diesem Tag die Toten zu beklagen.“ Der erste Tag im Neuen Jahr, ein trauriger Tag für viele. Verflogen ist die fröhliche Stimmung, die wir gestern auf Istiklal ALLE noch gemeinsam gespürt haben. Aber sie könnte auch ein Hoffnungsschimmer sein, dass nicht alles so bleiben muss, wie es jetzt ist.
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