Die Idee dieses Blogs
Die ursprüngliche Idee dieses Blogs war, eine Kommunikationsplattform zu haben auf der Inhalte aus verschiedenen Perspektiven beleuchtet und festgehalten werden. Mein Kollege und Freund Selçuk Salih Caydı aus Istanbul und ich selbst, in Frankfurt am Main lebend, hatten seit 2013 angefangen, uns zu Diskussionen im Netz zu treffen, unterbrochen durch gegenseitige Besuche, bei denen wir in den Istanbuler und Frankfurter Cafes in stundenlangen Gesprächen gegenseitig uns unser Wissen erzählten und dabei beobachten konnten, wie sich dadurch nicht nur die eigenen Themen änderten, sondern auch unsere Sichtweisen anfingen, beweglicher zu werden und aus der eigenen gewohnten Starrheit des Denkens ausbrechen wollten. Warum schreiben wir das nicht einfach auf, haben wir vor 10 Jahren überlegt und entwickeln diesen Blog gemeinsam. Seither sind 10 Jahre vergangen. Es hat einen Stillstand gegeben, die Welt um uns herum hat sich verändert und auch unsere Unbefangenheit, mit der wir damals geredet und geschrieben haben. Themen 'überwintern' und kein Frühling ist in Sicht. Neue Wege wurden beschritten, Selçuk schreibt nach wie vor spannende Geschichten. Er hat sich aber auch dem Film zugewandt und begonnen, Drehbücher zu schreiben. Ich selbst habe vor mehr als sieben Jahren Deutschland verlassen, lebe in Jordanien und brauchte viel Zeit, um dieses Land und seine Umgebung zu erfassen und den Menschen nicht nur zuzuhören, sondern zu versuchen, sie aus ihrer Perspektive und aus ihrem Denken heraus zu verstehen. Ich fange nun an meine zahlreichen Notizen zu ordnen und hier im Blog einzustellen. Ob daraus wieder ein gemeinsamer Dialog entstehen kann? Das wissen wir noch nicht. Wird es wieder gemeinsame Interessen geben? Eines ist jedoch gewiss, unsere Diskussionen sind kontroverser geworden, unsere Sichtweisen spiegeln das gegenwärtig Erlebte individuell sehr unterschiedlich wider, und wir wurden beide sensibler für unsere eigenen stereotypen Sichtweisen. Wir werden sehen, ob wir daraus neue fruchtbare Diskussionen entwickeln können.
Selçuk Salih Caydı (geschrieben 2014)
Entdeckt habe ich Selcuk Salih Caydi im Jahr 2013 in der Türkei. In Deutschland ist er über seinen zweisprachigen Twitter-Account bekannt. Während der Gezi-Bewegung war er einer der wenigen, der aktuell und kontinuierlich ein lebendiges Bild von den damaligen Protesten aus der Türkei nach Deutschland vermittelt hat. Doch seine Twitts sind viel mehr als nur eine "140 Zeichen Meldung mit Bild" über ein aktuelles Ereignis. Denn Selçuk ist nicht nur politischer Analyst sondern auch ein Blogger. Wer einmal in Konstantiniye notları hineinschaut, wird erstaunt sein über die Vielfalt der Themen, die er aktuell beschreibend interpretiert, oder aus historischer Perspektive betrachtet und in die Zukunft gedacht präsentiert.
Bereits beim Durchblättern seines Blogs kann man erahnen, welches Wissen und Können in diesen sorgfältig erstellten Texten mit einem ganz eigenem Sprachstil stecken, was die Übersetzung allerdings manchmal erschwert. Vor allem aber ist Selçuk ein Literat. Er arbeitet an Romanen und schreibt Geschichten. Seine Geschichten faszinieren in ihrer fantasievollen Lebendigkeit, ihrem Witz und ihrer Tiefgründigkeit und bestechen durch die Genauigkeit seines Wissens über historischer Gegebenheiten, welches er immer wieder in sie hineinwebt. Diese Vielfalt von Selçuk Salih Caydı lässt sich bereits beim Lesen und Betrachten seiner Twitts erahnen. Da sind seine bildreichen Stöbereien durch Istanbul und Umgebung, die eine quirlige und facettenreiche Stadt entstehen lassen, die sich so angenehm abhebt von der Schwere der dumpf-traurige Depressivität verbreitenden Sicht eines Orhan Pamuk. Selçuk nimmt seine Follower mit auf seinen Streifzügen durch die Stadt, zeigt ihnen die Märkte, besucht mit ihnen die Antikläden oder gibt Einblicke in die Kneipenkultur. Kompetent und zielgerichtet durchstöbert er die Buchläden und Antiquariate, immer auf der Suche nach neuen Entdeckungen oder seltenen Exemplaren, die er aufspürt und als Überraschung ins Netz stellt. Aus jedem seiner Bilder – seien sie vom Schiff auf dem Bosporus, von der Flaniermeile Istiklal oder sind es Bilder aus den engen Strassen von Beyoğlu – blitzt seine Liebe zu Istanbul hervor und gibt diesen dadurch einen besonderen Reiz und Glanz. Der Blick von Selçuk über und auf Istanbul und nach Istanbul hinein hebt sich auch sehr angenehm ab von den hunderten der "Istanbul-ist-eine-Touristenstadt"-Photos im Netz, mit den unzähligen immer gleichen Moschee- und Palastbildern, den Sesamkringel- und Kastanienverkäufer-Ab-Bildern und den ungezählten Aufnahmen aus der Glitzerwelt des Grand Bazar. Und noch etwas ist für Selçuks Istanbul ganz wichtig: das sind die Stadtkatzen.
Hätte man sein Twitterarchiv und würde seine Katzenbilder einmal zählen, es wären mittlerweile sicher hunderte, denn Selçuk liebt Katzen, und Istanbul ist bekanntlich eine Katzenstadt. Und darüber schreibt er auch und erzählt von "Istanbuls Buchkultur und den Katzen der Strasse als Glücksbringer der Lesenden und Archivare der Freiheit".
Auf Twitter erfährt man aber auch, worüber Selcuk gerade noch schreibt. Im Zeitverlauf mitgelesen erscheint so eine Ahnung von den entstehenden Geschichten und Romanen, so dass bei vielen seiner Follower mittlerweile der Wunsch entstanden ist, "hoffentlich erscheint das alles auch in Deutsch." Diejenigen, die Türkisch können, finden im Blog ausführlicher einzelne Kapitel seiner Romane. Insgesamt gibt es im Block viel Nachdenkliches und Analytisches. Und es gibt Geschichten: Kurze Geschichten auf Konstantiniye mikronnotlari, lange Geschichten oder alte Geschichten neu erzählt, wie beispielsweise seine Einfälle zum Hodscha Nasreddin.
Was mir besonders an Selçuk Salih Caydı gefällt, ist seine Sensibilität und die damit einhergehende konsequente Ablehnung jeglicher Form der Unterdrückung von Selbstbestimmung und dominanter Religiosität, die ihn so angenehm abhebt vom allseits noch immer üblichen Macho-Gehabe in der Türkei. Dabei hat er eine ganz besonderer Art, wie er dieses im türkischen Alltag aufspürt und präsentiert. Er sieht mit einem grenzenloser optimistischer Blick in die Zukunft, gepaart mit liebevollem Necken oder mit beißender Ironie gegen das Gegenwärtige, immer wieder durchwoben mit seinen allseits beliebten Schimpftiraden, die er gegen jegliche unterdrückerische Form eines politischen Islamismus loslässt.
Ich fühle mich geehrt über Selcuk Salih Cazdıs Entschuss, hier einen gemeinsamen Blog entstehen zu lassen und freue mich darauf, mein Denken mit ihm teilen zu können. Oft ist mir sein Blick auf das, was mich interessiert erst einmal fremd, und ich muss mich in seine Texte hinein fühlen: in seine Worte, in seine Satzkonstruktionen und auch in seine Bilder. Wahrscheinlich geht es ihm mit mir ebenso. Ich habe mir schon lange einen solchen Gesprächspartner gewünscht, der so ganz anders auf das guckt, was mich interessiert und der dann oft auch ganz anders darüber denkt, als ich selbst es tue. Daraus könnten spannende Dialoge entstehen. Wir wissen es nicht. Wir probieren es hier einfach mal aus.
Christine Huth-Hildebrandt (geschrieben 2024)
Schon immer interessiert an Protestbewegungen gegen wahrnehmbares Unrecht, interessierte mich die Gezi-Bewegung in der Türkei, und es zog es mich wieder öfter nach Istanbul. Dort lernte ich dann Selçuk kennen. Verrückt ist, dass er, der lange Zeit in Deutschland gelebt hat, zeitweilig in derselben Strasse in Frankfurt wohnte, ohne dass wir uns dort jemals bewusst begegnet sind.
Die Türkei hatte mich schon früh fasziniert, seitdem ich sie während des Putsches im Jahr 1980 erstmalig besucht hatte. Zurück in Deutschland gründeten wir die Alternative Türkeihilfe. Einige der damaligen Freundschaften halten bis heute. Nach dem Erdbeben 1999 in der Türkei wurde 2011 dann von Frankfurt aus in der Stadt Köseköy das "Frankfurt Haus Kocaeli" errichtet, ein Heim für Kinder mit besonderem Betreuungsbedarf. Kontakte zur Universität in Izmit entstanden und später dann auch zur Aydın Universität in Istanbul. Istanbul wurde so zu meinem zweiten 'Wohnzimmer'. Wenn ich aus dem Flieger stieg, fühlte ich mich zu Hause.
Und auch hier drängte es uns hinaus, in die Cafes und Restaurants, um dort stundenlang zu verweilen, redend oder schreibend den Tag vergehen zu lassen.
"Wo kann man hier Zeitungen kaufen?" fragte er mich irritiert bei seinem ersten Besuch. Das war mir noch gar nicht aufgefallen. Ja, es gibt sie nicht, die Zeitungen, wie an in Istanbul jeder Ecke, an den Tankstellen, an den Kiosken ... . Stapelweise hatte er sie immer gekauft in Istanbul. Es war wie sein Markenzeichen, diese Zeitungen unter seinem Arm. Und so ging es weiter, die Verschiedenheiten im Alltagsleben beobachtend, an die ich mich schon so sehr gewöhnt hatte. Buchläden an jeder Ecke in Istanbul, mit Literatur in vielen Sprachen. Antiquariate, englischsprachige Buchläden und auch ein deutscher Buchladen. So war Selçuk das gewöhnt, wenn er seine Runden durch Istanbul drehte, und dabei die Katzen in den auslagen fotografierte, um sie auf Twitter zu posten. Habt ihr das hier nicht, interpretierte ich seinen fragenden Blick. Ja, es gibt sie auch, die Buchläden in Amman, nur eben ganz anders, als vielleicht aus Istanbul gewohnt. Aber das wird eine eigene Geschichte werden, über die Buchläden von Amman.
Selçuk und ich haben unsere Verschiedenheiten mittlerweile weiterentwickelt und verfestigt. Wir haben uns mit unseren Umgebungen arrangiert. Wir haben uns dabei aber auch voneinander entfernt, nicht nur räumlich, sondern auch in unseren Ansichten. Das Jahr 2025 könnte ein neuer Anfang auf diesem Blog für uns werden, den Anderen neu zu verstehen, um wieder Gemeinsames herauszufinden. Wir haben uns vorgenommen, es erneut zu versuchen.