Kurdische Akademiker Tagung: Schafft die Republik sich ab?

Grund- und Freiheitsrechte auf dem Prüfstand. Wohin driftet die Türkei? (1)


Herzlichen Dank für die Einladung zum heutigen Tag, die ich gerne angenommen habe. Eingeladen wurde ich wohl stellvertretend für alle diejenigen Akademikerinnen und Akademiker in Deutschland, die das Geschehen in der Türkei aufmerksam und erschrocken betrachten und mit Sorge fragen, ob die Bevölkerung im Land nicht mittlerweile so tief gespalten ist, dass eine friedliche Lösung der gegenwärtigen Konflikte kaum noch möglich ist. 


I.
Als ich mich mit den Veranstalterinnen vor Monaten absprach, zu welchem Thema ich mir Gedanken machen sollte, ging es noch um die Frage, ob sich die Grund- und Freiheitsrechte in der Türkei auf dem Prüfstand befänden. Heute müssen wir konstatieren, dass sich das Thema wohl überholt hat. In der Türkei sind seither Veränderungen mit einer solchen Geschwindigkeit im Gang, die einem zum Teil den Atem rauben und einem die Worte zur Bewertung des Ganzen immer öfter im Halse stecken bleiben. Denn heute geht es m.E. nicht mehr um ein Nachdenken darüber, ob die Republik sich abschaffen will. Heute geht nur noch darum, ob es dieser Republik wirklich gelingt, sich selbst abzuschaffen.

Da soll ein Jemand per Gesetzesänderung unbegrenzte uneingeschränkte Macht erlangen und die Freiheit erhalten – aber auch die Befugnis – ohne Kontrollinstanz die Geschicke eines Landes innen- und außenpolitisch zu lenken. Über eine solche Änderung der bestehenden Verfassung stimmte die Mehrheit des Parlaments der Türkei in den letzten Tagen ab. Hierzu wird sicherlich gleich Konkreteres berichtet. Wichtig ist jedenfalls, dass das Parlament beschloss, es einem Volksentscheid zu überlassen, ob es sich selbst abschaffen und die Macht in die Hände einer einzigen Person legen soll. 

Im Allgemeinen werden Volksentscheide als ein demokratisches Mittel zur Willensbekundung der Bevölkerung angesehen. Nach Umfragen in der Türkei sind es gegenwärtig jedoch 78% der Bevölkerung, die überhaupt nicht wissen, mit welchen Konsequenzen eine solche Entscheidung verbunden ist, und welche Auswirkungen diese Verfassungs-Veränderung für das Zusammenleben im Lande hätte. D.h. ein solcher Volksentscheid kann gegenwärtig gar keine Willensbekundung der Bevölkerung sein. Im Gegenteil. Mit der Befürwortung dieses Gesamtpakets an Gesetzesänderungen würde dem Volk seine Souveränität ohne vorherige Aufklärung einfach entwendet und in die Hände nur einer Person gelegt. „Vertraut uns, stimmt mit ja - EVET - und alles wird gut“ so ungefähr können wir uns die jetzige Aufklärungskampagne staatlicherseits vorstellen, „wählt den starken Mann, er wird sich dann schon um euch kümmern und hört auf, euch Gedanken und Sorgen zu machen.“

Hinzu kommt das mittlerweile bekannte Spiel mit der Angst. Denn wird Aufklärung öffentlich betrieben, um Argumente auch für ein „HAYIR“, ein Nein zu benennen, dann werde man schon wissen, so Sedat Peker sinngemäss, wie dies zu unterbinden sei. Und die Ausführungen dieses Mannes, das hat die Vergangenheit gezeigt, sind absolut ernst zu nehmen.

II.
Wir haben uns heute aber nicht als interessierte Privatpersonen versammelt, sondern als Akademikerinnen und Akademiker, die einen Diskurs darüber führen wollen, ob diese Türkei als Republik sich gegenwärtig abschafft, und wie sich dazu zu positionieren ist.

Es gilt, die Grund- und Freiheitsrechte in der Gesellschaft zu bewahren. Ja, natürlich. Immer und überall. Aber um welche Rechte, um welche Freiheit geht es denn da überhaupt noch? Hat sich diese Frage aus der Sicht der Machthabenden nicht schon längst beantwortet, ja sogar erledigt? Oder vielleicht doch noch nicht? Was ist zu tun? Jetzt, heute, morgen und in der nahen Zukunft?

Gestatten Sie mir dazu einen kurzen Rückblick. 

Vor einem Jahr erreichte mich am frühen Morgen ein Hilferuf aus der Universität Kocaeli. Kolleginnen und Kollegen würden verhaftet. Sie hatten den mittlerweile weltweit bekannten Friedensaufruf initiiert und verbreitet, in dem für eine friedliche Lösung des kurdischen Konfliktes eingetreten und dafür geworben wird. Sie erinnern sich sicher, eine Welle weltweiter Empörung unter den Akademikerinnen und Akademikern war die Folge. Allein die vom Kollegen Cağlar und mir verfasste Erklärung zur Unterstützung dieses Aufrufes und zur Entkriminalisierung der Verfasserinnen und Verfasser durch die Akademikerschaft an den deutschen Hochschulen haben über 6.000 Personen unterzeichnet. Und das ist nicht der einzige Aufruf, der in Deutschland verfasst wurde. (2)
In anderen europäischen Ländern geschah das Gleiche. Und nicht nur dort.
Keiner von uns hat sich damals vorstellen können, mit welcher Geschwindigkeit die Situation im Lande weiter eskalieren würde.

Diese Entwicklung hat sich aber m.E. nicht erst zu Beginn des letzten Jahres abgezeichnet, als massiv versucht wurde, die Geschehnisse im Osten des Landes zu legitimieren und/oder zu verheimlichen und Andersdenkende zu „Vaterlandsverrätern“ oder gar zu „Terrorsympathisanten“ abzustempeln. Auch der gescheiterte Putschversuch Mitte letzten Jahres  ist m.E. nicht die wirkliche Ursache der gegenwärtigen Entwicklung. Es ist eher die Sorge um einen möglichen Machtverlust der gegenwärtig Regierenden und die Anstrengung, sich die weiterhin Macht auf Dauer zu sichern, koste es was es wolle.

Und diese Sorge begann, wie im Vorspann zum diesjährigen Fachtag von den Veranstalterinnen beschrieben, mit einem ganz konkreten Ereignis am 7. Juni im Jahr 2015. Ein Tag, den ich in Istanbul erlebt habe:
An diesem Sonntag lag über dem Stadtteil Tarlabaşı eine angespannte Ruhe. 
Wenige waren auf den Straßen. Etliche Autos am Rande. Das wars.
Dann zeichnete sich das Ergebnis der Wahl ab. Von einer Sekunde zur anderen begann der gesamte Stadtteil zu beben. Ein Trillern, ein Klatschen, ein Rufen und Schreien, Autohupen, Autokorsos, plötzlich kurdische Fahnen überall. Und alle strömten um die Ecke in Richtung HDP Büro.  Das hat nicht aufgehört in dieser Nacht, das Singen und Tanzen, das Hupen … Dieser kaputte, vergessene Stadtteil Istanbuls hatte sich in Sekundenschnelle in ein kunterbuntes Etwas verwandelt. 
Frauen in ihren schönsten Gewändern, Männer mit Fahnen und lautem Hupen und überall  Musik. Tanz die ganze Nacht hindurch, es war unbeschreiblich.

Und genau das gab m.E. den Anlass zur Sorge. 
84 % der Bevölkerung hatten gewählt.
Nur 40,87 % stimmten für die AKP.
Und 13,12 % stimmten für die HDP.
Das war eine Revolution. Das hatte niemand erwartet. 
Und das wurde in der Nacht nicht nur in Tarlabaşı gefeiert. 
Friedlich, freundlich, offen und glücklich.

Und heute? 

Vor ein paar Wochen, am Abend des 31.12. mit dem Flughafenbus ankommend, 
da war Tarlabaşı für mich mit Gittern abgesperrt. Ein Durchkommen war nur Einzeln möglich, mit vorheriger Ausweiskontrolle. 17.000 Polizisten waren an diesem Abend im Einsatz, rund um Taksim und Istiklal. Geholfen hat es nicht, das geplante Attentat zu verhindern. Es war dann eben nicht auf Istiklal, sondern fand in Reina statt. 

Warum erzähle ich das?
Diese beiden Ereignisse symbolisieren für mich den Anfang und den jetzigen Ist-Zustand als eine Art Zeitschiene dieses Prozesses, den wir alle beobachten konnten, und der eben nicht erst seit dem gescheiterten Putschversuch seinen Lauf nahm.  Im Grunde hat er genau mit dem Juni 2015 seinen Anfang genommen. Und es ist überhaupt nicht absehbar, ob die Chance noch besteht, dass sich in naher Zukunft wieder etwas zum Guten wenden könnte.

D.h. nicht der Putschversuch, nein, die Wahl im Juni 2015 UND wie dann in der Folgezeit mit der HDP von ALLEN anderen Parteien umgegangen wurde, um jeweils die eigene Macht zu stabilisieren und perspektivisch nicht wieder zu verlieren. Das ist für mich der eigentliche Wendepunkt. Und dabei habe ich nicht nur das Verhalten der Regierungspartei und ihr Anhängsel – die MHP – im Blick.
Seitdem ist vermehrt zu beobachten, wie allein aus dem Machterhaltungs-Grund die Grund- und Freiheitsrechte im Land Zug um Zug so stark und so bedrohlich eingeschränkt werden, dass sich Opposition dagegen kaum noch regen kann, bzw. sofort als illegal unterbunden wird. Da muss man auch gar nicht erst in den Osten des Landes fahren – falls man da überhaupt noch hingelassen wird – um die Stimmung zu spüren, die sich seit dieser Wahl Zug um Zug wie ein Teppich über das gesamte Land gelegt hat. Besorgnis, Vorsicht und ängstliche Stille. 

III.
Lassen Sie uns diese Entwicklung einmal aus der Perspektive unseres Berufsstandes betrachten. Welche Aufgabe haben Wissenschaften, haben unsere jeweiligen Fachdisziplinen in der Gesellschaft? Und insbesondere in einer solchen Situation, in der sich die Türkei gegenwärtig befindet? 

Jeder Berufsstand hat seine eigene Kultur, sein ethisches Korsett. Und das gilt für unsere Wissenschaftscommunity ebenfalls und zwar weltweit. Dazu gehört, dass  Wissenschaft im Dienste des Menschen steht und dass sie nicht im Dienste des Staates zu stehen hat. In diesem festgelegten und nicht hinterfragbaren Rahmen bewegen sich die Aufgabenstellungen in unserer jeweiligen Fach-Disziplin. 
Nicht nur in Deutschland, sondern in den Ländern der westlichen Welt ist dabei grundlegender Konsens, dass „Wissenschaftler … in Staat und Gesellschaft die Aufgabe (haben), Wissen und Erkenntnis zu mehren und zu vermitteln sowie Kraft ihrer Expertise Legislative, Exekutive und Jurisdiktion zu beraten.“ 
Für Deutschland ist das beim Deutschen Hochschulverband nachzulesen. 
Dort heißt es weiter: „Wissenschaftler sind zur Unparteilichkeit verpflichtet. .., 
Wissenschaft ist weisungsfrei. Und: Ihre Unparteilichkeit steht unter grundrechtlichem Schutz.“ 

Es ist nach unseren Wissenschaftsstandards daher nicht nur Aufgabe, sondern sogar unsere Pflicht, bei gesellschaftlichen Konflikten nach friedlichen Lösungen zu suchen und die Politik auf diese hinzuweisen. Akademikerinnen und Akademiker aus diesem Grunde zu diskriminieren, ja sogar zu verfolgen ist untragbar und widerspricht drüber hinaus ihrem grundrechtlich verbrieften Auftrag. Unsere Empörung in der westlichen Welt über den Umgang mit jenen Akademikerinnen und Akademikern ist berechtigt. Und eigentlich brauchen wir das überhaupt nicht gesondert zu begründen. 

Dass dies für alle anderen gesellschaftlichen Gruppen und Individuen ebenfalls gilt, ist selbstverständlich und gehört mit in den Kontext unserer Analysen. Eine Gesellschaft, in der das eigenständige Denken zunehmend verboten wird und man versucht, die Bevölkerung in parteipolitisch und/oder religiös Vorgedachtes hineinzuzwängen, um diese umzuformen, begibt sich in Gefahr der Indoktrinierung. Denn entwickelt sich dieses parteipolitisch Vorgedachte zu einem geschlossenen System, entsteht auf Dauer ein Druck in der Bevölkerung, der zu einem explosionsartigen Ausbruch kommen kann. 
Das hat uns die Geschichte doch zur Genüge bewiesen.

Und Druck durch Angst in Schach halten zu wollen, in der Hoffnung, dadurch entstandene Spannungen abfangen und deckeln zu können, um eine Entladung zu verhindern, hat meines Wissens noch nirgendwo funktioniert und wird auch in der Türkei nicht funktionieren. 
Man täte also gut daran, Dialoge nicht zu kappen, sondern im Gegenteil, von der vorhandenen Vielfalt zu profitieren, anstatt diese zu verbieten. Doch das geschieht ja mit aller Macht.

„Wir haben den Zeitpunkt verpasst, als man das Rad noch hätte zurückdrehen können“, bekomme ich bei meinen Besuchen in der Türkei zu hören. „Die Opposition ist zu schwach, zu uneinig, und wir schaffen es nicht, gemeinsam an einem Strang zu ziehen.“ Dann macht sich wieder diese Resignation breit und die Diskussion verstummt. 

Ist der Riss, ist die Spaltung in der Gesellschaft wirklich so tief, dass durch die Unterbindung der Meinungs- und Informationsfreiheit das Denken in Richtung auf eine positive Zukunft verunmöglicht wird?

Hat die berechtigten Angst, durch die aktuellen Etikettierungen als „Gülensympathisant“ oder „PKK-Sympathisant“ in die Terroristenecke gestellt zu werden zur Folge, das eigene Handeln zu lähmen? Denn wer in diesem „Kampf um das Böse“, dem „Kampf gegen den Terror“ selbst zum Terroristen wird, das haben wir bemerkt, ist weniger durch reale Tatsachen, als durch politisch inszenierte Meinungen bestimmt. Hinzu kommt, dass „Terrorismus“ ein schwammiger und undefinierter Begriff ist, unter den alles passt. Paart man ihn mit dem Begriff des „Verdachtes“ ist es mit der Freiheit vieler nicht mehr weit her, wie wir es in den letzten Wochen und Monaten leider erfahren haben.

Was das für die einzelnen Personen und ihre Familien bedeutet, können wir uns hier in Deutschland kaum ausmalen, obwohl bereits die Beschreibungen der Zustände einen täglich erschaudern lassen. Denn es geht ja staatlicherseits gar nicht (mehr) darum, mögliche Bedrohungen ausfindig zu machen und zu unterbinden. Es gilt vielmehr, Angst zu schüren und Widerstand schon im Keim zu ersticken. Jede könnte die Nächste sein, an deren Tür in der Nacht geklopft wird, und die Erfahrungen erleben muss, wie sie Aslı Erdogan in ihren letzten Berichten über ihre Verhaftung und ihren Gefängnisaufenthalt beschrieben hat. Die Angst der Regierung, das Vorgenommene doch nicht zu schaffen, muss sehr groß sein, wenn sie als Folge glaubt, derartig agieren müssen. 




IV.
Ist also gegenwärtig nur Resignation angesagt? 
Ich denke nein. Die Geschichte zeigt, dass Menschen immer dann besondere Stärke beweisen, wenn ihr Grundrecht auf die Freiheit im Denken und Handeln durch Machtmissbrauch vom Staat eingeschränkt zu werden droht. Aber wir alle wissen auch, es braucht großen Mut und breite Unterstützung, solche Wege öffentlich zu bestreiten. Damals wie heute. Gerade wenn der Wind einem ins Gesicht bläst und nicht zu erkennen ist, ob dieser dabei ist, sich zum Sturm oder gar zum Orkan zu entwickeln. Doch seien wir ehrlich. Der Wind um die Grund- und Freiheitsrechte in der Türkei hat sich bereits zum Sturm entwickelt und wir haben Grund zur Sorge, dass dieser wie ein Orkan über das Land hinwegfegt und dabei noch mehr Zerstörung und Vernichtung hinter sich lässt. Diesen Prozess aufzuhalten ist m.E. unser aller Pflicht, jede und jeder an seinem Ort.

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1) 28. Januar 2017
2) Aufruf und Presseberichte: