Die "Deneme-Yanılma" Methode – Ein Gespräch mit Selçuk Salih Caydı

Fast zwei Monate ist es her, seit Selçuk mit mir in Istanbul in der kleinen Kneipe saß, und wir uns über das Wahlergebnis in der Türkei die Köpfe heiss geredet haben und alles um uns herum ignorierten, so dass sogar der Tee kalt wurde. Dieses Gespräch haben wir über Skype geführt. Dabei ist es sicherlich einfacher, es nachzulesen, als es sich anzuhören, denn Selçuk redet wie ein Wasserfall, und jeder Satz hat Substanz, so dass es bei ihm keine Zeit zum "mal-kurz-weghören" gibt. Und während wir reden läuft die Zeit weiter und neue Ereignisse machen unsere Gedanken zwar nicht ungültig, müssen jedoch in andere Zusammenhänge gestellt und mit einbezogen werden. Und während wir das tun, ist schon wieder alles ganz anders. Oder auch nicht. Das ist so in der Türkei. Zumindest gegenwärtig ist das so:

Kurz vor unserem letzten Gespräch im Juni fand das Attentat bei einer Wahlveranstaltung der HDP in Diyabakır statt. (1) Ein paar Tage später gab es dann die Wende in der politischen Parteienlandschaft durch den Einzug der HDP ins Parlament. Mit 80 Abgeordneten wurde sie drittstärkste Partei und Folge dieses Ereignisses ist eine Beendigung der Alleinherrschaft für die AKP. So wollten und wollen es die Wahlberechtigten mit türkischem Pass in und außerhalb der Türkei – auch nach den neuesten Umfragen. 
Doch heute – zwei Monate nach der Wahl – ist die Realität eine ganz andere. Die AKP be-herrscht weiterhin das Land und kaum jemand spricht noch ernsthaft über Möglichkeiten einer Regierungsbildung. Die Koalitionsgespräche sind abgeschlossen und die MHP verkündet, sie sei mit einer Minderheitsregierung der AKP bis zu möglichen Neuwahlen im November einverstanden, dementiert das dann und stimmt dem morgen dann vielleicht doch wieder zu. Mal sehn.
Und wieder war mit ein Auslöser dieser Entwicklung ein Ereignis im Osten der Türkei, das Attentat auf eine Gruppe von linken Jugendlichen in Suruç. (2) Ein Attentat, das von vielen Stellen dem IS zugeschrieben wird. (3) Und in der Folge dann die Ermordung von zwei Polizisten in Şanlıurfa, zugeschrieben der PKK. 
Allesamt Ereignisse in der Osttürkei, die insgesamt zu einer Situation geführt haben, die eine Beendigung des seit 2013 bestehenden Waffenstillstandes mit der PKK zur Folge hat und mit einem angeblichen "Kampf gegen den IS" ummäntelt wird.
Und mit meinen Worten heisst das: Ist ein Waffenstillstand  beendet und kein Frieden beschlossen, herrscht wieder der Krieg im Land. Und diesmal auch über das Land hinaus, nämlich auch in all denjenigen Gebieten und Regionen in denen sich die PKK-Gruppen aufhalten, und das sind nicht nur die Bergregionen im Osten der Türkei.
All dies geschah in für mich atemberaubender Geschwindigkeit. In der Vorbereitung auf unser Gespräch habe ich diese Entwicklung den Beginn eines Tanzes auf dem Vulkan beschrieben. 
Siehst Du das ebenso?

Ich denke, gegenwärtig passiert in der Türkei etwas ganz Gefährliches, was wir die Methode "Deneme-Yanılma" nennen und sinngemäß bedeutet "Wir handeln erstmal, und dann sehen wir weiter." Wenn daraus etwas Gutes entsteht, ist es gut, wenn nicht, ist es auch gut, und wir werden aus den Fehlern lernen. Hauptsache, es wird etwas getan.

Ein Aktionismus ohne Sinn und Verstand? Und wenn ja, wer ist der Akteur bzw. wer sind die Akteure dabei?

Nein, eher ein strategisches Handeln und zwar zielgerichtet auf ein gedachtes Ergebnis, das man vor Augen hat. Und für dieses Ziel setzt man sich in Bewegung und zwar ohne Netz und doppelten Boden, d.h. ohne die geringste Sicherheit, ob das einmal begonnene Handeln das gesetzte Ziel auch erreichen kann. Für Erdoğan geht es ausschliesslich darum, die verlorene Macht für die AKP zurückzugewinnen, um das Land wieder allein regieren und das von ihm favorisierte Präsidialsystem doch noch etablieren zu können. Aber es ist mehr als fraglich, ob das über Neuwahlen gelingen kann. Daher stellen sich viele heute die Frage, ob hier nicht ganz bewusst ein Pulverfass zum Explodieren gebracht werden soll, in der irrigen Annahme, das Ziel auf diesem Wege dann doch noch erreichen zu können.
Und dabei war es die Hoffnung auf Frieden, die mit dazu beigetragen hat, dass die AKP 2002 an die Macht kam. 15 Millionen Kurden – und nicht nur die, sondern auch Millionen von Türken – träumten damals vom möglichen Ende des 30jährigen bewaffneten Konfliktes, der etwas 40.000 Menschenleben gekostet hat. Erdoğan scheint nun dabei zu sein, diese Hoffnungen wieder zu zerstören. Und eigentlich weiss man auch gar nicht, ob ein Friedensprozess jemals wirklich ernsthaft in Erwägung gezogen wurde, denn alle Verhandlungen mit dem PKK-Chef Öcalan wurden heimlich geführt, nichts drang an die Öffentlichkeit. Und plötzlich kam Öcalan dann im März 2013 mit seiner Erklärung zu Newruz an die Öffentlichkeit, in der er die PKK-Militanten aufrief, die Waffen wegzulegen und sich an einer demokratischen Lösung der Kurdenfrage zu beteiligen. Aber auch seither ist keine Kontinuität bemerkbar. Zwar gab es insbesondere vor den Wahlen einige Zugeständnisse auf der einen Seite, auf der anderen Seite blieb jedoch immer auch ein Schielen auf die nationalistische Wählerschaft und deren Ablehnung eines solchen Friedensprozesses mit der PKK.

Aber eigentlich wissen wir, dass der "Feind" der hier bekämpft werden soll gar nicht unbedingt die PKK ist. Bei vielen Analysten im Lande herrscht Konsens darüber, dass die Änderung der öffentlich deklarieren politischen Haltung gegenüber dem IS nur die "Tarnung" einer grundlegenden Verschiebung in der Kurdenpolitik des Landes ist, um die HDP zu treffen. Die wirkliche Bedrohung wird in der HDP gesehen, und der Kampf richtet sich hier insbesondere gegen Demirtaş. Das ist aber ein sehr gefährliches Spiel, nach innen wie nach außen, und man ist dabei, die türkische Demokratie vielleicht auf Dauer zu beschädigen.

Ministerpräsident Davutoğlu hat offiziell noch etwas Zeit, eine Regierung zu bilden bevor Präsident Erdoğan von seinem verfassungsmässige Recht Gebrauch machen kann, Neuwahlen zu verlangen. Interessant wäre in dieser Zeit doch eigentlich gewesen, anhand von innen- und aussenpolitischen Debatten ein Gefühl dafür zu bekommen, welche der vielfältigen "Baustellen" des Landes mit wem gemeinsam wie angegangen werden könnten. Wirtschaftliche, innen- und außenpolitisch drängende Themen stehen im Raum, und die Positionen dazu sind abzuklären. Aber es entsteht bei mir ein ganz anders Gefühl, so als wurde ein "ich-möchte-ganz-gerne"-Davutoğlu an einer Gummibandschnur gehalten und in den entscheidenden Momenten dann doch wieder zurückgeschnippt werden. Wir haben im letzten Gespräch mehrere Koalitionsmöglichkeiten durchgespielt. Geht es darum überhaupt noch?

Ich denke, der Eindruck täuscht nicht, dass sich Davutoğlu um eine Regierungsbildung bemüht hat. Ich glaube aber nicht, dass er so stark ist und es ihm noch gelingen wird, zumal die MHP ja nun offenkundig eine Minderheitsregierung dulden wird. Und in dieser Zeit werden Erdoğan und ich denke auch die AKPler alles daran setzen, um das Scheitern der Alleinherrschaft der AKP bei den nächsten Wahlen wieder rückgängig zu machen.

In vielen Ländern sind Koalitionsregierungen erfolgreich. Wovor haben Erdoğan und die AKP solche Angst? Da geht es doch um mehr als um den Machtverlust, oder?

Natürlich. Da ist einmal das Verhältnis der AKP zu Erdoğan. Erdoğan ist zu mächtig geworden, das wissen viele in der AKP und sind ambivalent. Denn nicht alle in der Partei wollen das geplante Präsidialsystem. Aber Erdoğan gibt nicht auf. Es ist sein Ziel und das weiss jeder. Er sieht sich sozusagen als ein neo-osmanischer Sultan im Wartestand. So erklärt sich auch sein gegenwärtiges Verhalten. Und die AKP muss ihn bei Laune halten, denn ohne Erdoğan, das weiss die AKP sehr genau, würde sie schnell in ein Nichts zerfallen. Davutoğlu hat nicht die Macht und nicht genügend Gefolgsleute um sich gesammelt, um ohne Erdoğan auf eigenen Beinen stehen zu können. Hinzu kommt noch immer eine gewisse Schockstarre in der Partei. Niemand hatte mit diesem Wahlergebnis gerechnet. Daher wurde sich auch nicht auf einen solchen Wahlausgang vorbereitet. Alles war für einen Übergang in ein auf Erdoğan zugeschnittenes quasi Sultanat angedacht und geplant. Die Wahlliste der AKP Parlamentarier war sorgfältig vorbereitet. Die möglichen Konkurrenten oder Kritiker waren beseitigt worden. Man hat begonnen, die Schlüsselinstitutionen der Türkei zu kontrollieren. Und dann kam das Ergebnis. Wie ein Schlag ins Gesicht. Lediglich Erdoğan ist wieder fix auf den Beinen – obwohl ihm das Ganze nachweislich auch einen Schlag versetzt hat – und er agiert wieder in der uns bekannten Weise. Das heisst, er kämpft um sein politisches Überleben und vielleicht auch noch um weit mehr als nur das.
Und hier kommen wir zu der Frage, warum eine Koalition für die AKP so gefährlich ist. Die letzten Jahre haben immer wieder ans Licht gebracht, wie viele Korruptionsaffären Erdoğan betreffen, in die aber auch viele Mitglieder der AKP verwickelt sind. Ihnen werden Morde und Attentate zugeschrieben, aber alles bleibt irgendwie im Nebel und wird nicht wirklich aufgeklärt. Mit diesem Machtverlust der AKP besteht nun die grosse Gefahr der Rückkehr zu einem Rechtsstaat in dem begonnen wird, diese Vorfälle aufzuklären. Ich denke, dass ist die große Angst, die im Moment zum einen Teil das Handeln blockiert und zum anderen zu dieser hoch explosiven Situation im Land geführt hat.

Kann da im Hinterkopf eventuell sogar der Gedanke stecken, sich als Kriegsherr verdient machen zu können, ggf. sogar die Wahlen auszusetzen, wenn es zu mehr kriegerischen Handlungen kommen würde, dabei die Zeit zu nutzen, um die HDP auszuschalten, um sich im Anschluss als Held feiern und wählen zu lassen? Eine Wahnidee oder kann da etwas daran sein? Denn wieso "nutzt" man nicht wieder Öcalan zu einer De-Eskalationsstrategie, der ja für Friedensgespräche eintritt? Kein Ton ist von ihm zu hören. Oder wird er an der Gelegenheit dazu gehindert? Schliesslich sind die Statements von ihm immer auch abhängig vom staatlichen Bedarf und der Erlaubnis zu einem solchen. Wieso ist ein solcher Bedarf staatlicherseits im Moment anscheinend nicht gegeben, wo er doch so offensichtlich ist?

Ich denke man ist im Moment überhaupt nicht an einem Statement von Öcalan interessiert, denn es geht nicht um die PKK, es geht darum, die HDP zu kriminalisieren und ggf. sogar darum, sie zu verbieten. Es wäre nicht das erste Mal in der Geschichte der türkischen Republik, dass ein Verbot als politisches Machtmittel genutzt wird. Kaum hatte sich in der Vergangenheit eine kurdische Partei etabliert, wurde sie auch schon wieder verboten. Seit der Gründung kurdischer Parteien ab dem Jahr 1993 geschah dies bereits sieben Mal. Mit der HDP ist das diesmal allerdings nicht so einfach, obwohl Juristen hier bereits am Werk sind, wie man weiss.
Demirtaş ist eine Person mit Charisma. Außer der AKP hat weder die MHP noch die CHP einen solchen Führer. Er ist beliebt. Insbesondere bei der jüngeren Generation. Und das macht ihn für die AKP und Erdoğan auch so gefährlich. Die Distanz zu ihm wurde von einigen demokratischen Gruppierungen mittlerweile doch aufgegeben. So steht m.E. die Vereinigte Junibewegung – die aus den Gezi-Protesten hervorgegangen ist – weitaus mehr hinter ihm, als noch vor den Wahlen. Und da die HDP sich eindeutig von Gewalt distanziert und verlangt, dass der Kurdenkonflikt nicht mit Waffen, sondern durch Verhandlungen im Parlament zu regeln sei, nimmt auch in anderen Gruppierungen die Zustimmung zu dieser Partei weiter zu. Diese Partei kann sicherlich nicht mehr so einfach unter die noch immer bestehende 10 % Wahlhürde gedrückt werden. Also muss man anders gegen sie vorgehen. Aber das geht nicht so einfach, zumal sich Demirtaş eindeutig gegen ein gewalttätiges Vorgehen seitens der PKK gewandt hat und immer wieder glaubhaft betont, eine demokratische Partei zu vertreten, die die Bevölkerung des gesamten Landes im Blick hat. Das wiederum hat ihm auch das Wohlwollen bei den Armeniern eingebracht, die sich gegenwärtig auch wieder kriminalisiert sehen und gegen die erneut Übergriffe vorgenommen wurden. D.h. die Zustimmung zur HDP wächst in allen Bevölkerungsschichten und in allen Gruppierungen und die HDP ist schon lange nicht mehr als eine kurdische Partei zu sehen und zu gewichten. Sie ist mehr.

Ist hier vielleicht auch mit ein Grund der eher zögerlichen Antworten seitens der PKK zu sehen, gegen die ja im Moment Angriffe geflogen werden und die dadurch in kriegerische Auseinandersetzungen gezwungen werden. Niemand würde letztlich verstehen, wenn sie das einfach hinnehmen würden. Im Vergleich zu den Möglichkeiten dieser Gruppierung finde ich ihre Antworten bislang jedoch eher moderat. Von einer Gegenoffensive kann man noch nicht sprechen. Hat die PKK von der HDP gelernt, dass kriegerische Handlungen nur weitere Gewalt nach sich ziehen und ein demokratischer Verhandlungsweg perspektivisch mehr zu ihrer Stärkung führt?

Sicherlich ist auch die Zeit der Waffenruhe auf die PKK nicht ohne Einfluss geblieben, und ich denke, auch sie erhofft sich einige Veränderungen durch die HDP. Daher ist sie vorsichtig und will nicht schaden, da auch ihr bewusst wird, welche Rolle sie in dem Spiel spielen soll. Hinzu kommt, dass die Kurden ihre wirkliche Bedrohung noch immer und zu Recht im IS sehen und ihre Kräfte darauf konzentrieren müssen und auch wollen. Und da ist ja jetzt auch der Punkt, wo es anfängt für die AKP wirklich schwierig zu werden, weil sich hier die geopolitische Lage des Landes mit der innenpolitischen Lage der Türkei vermischt. Das wäre aber ein eigenes Thema, wie nämlich die Aussenpolitik der AKP immer aus der Perspektive der innenpolitisch gesehenen Notwendigkeiten bestimmt wird. Und schon sind wir bei dem Dilemma des Umgangs der AKP mit dem IS.

Ich habe selten ein Land gesehen, das seine Außenpolitik so stark am innenpolitischen Bedarf zum Machterhalt ausrichtet und dabei immer wieder in ein Dilemma gerät – wie dies in der Türkei gegenwärtig passiert – weil der Rest der Welt halt einfach nicht gewillt ist, sich an diesem innenpolitischen Bedarf einer Partei oder einer Person entlang zu hangeln. Fast sieht es so aus, als sei die Türkei in die Situation eines Zauberlehrlings hineingerutscht, der plötzlich feststellen muss, dass er die Geister, die er rief, nicht nur nicht mehr los wird, sondern diese sich auch ganz gefährlich gegen ihn wenden könnten.

Die Stimmung für oder gegen die radikalen Islamisten des IS im Land und ihre mörderischen Akte in Syrien und im Irak ist sicherlich nicht  einheitlich zu sehen, jedoch ist sie zu großen Teilen eben auch nicht ablehnend ihnen gegenüber. Bis hin in die Gruppe der kritischen "Antiimperialistischen Muslime" ist immer wieder auch ein Wohlwollen spürbar, da sich deren Kampf aus ihrer Sicht eben gegen den "westlichen Imperialismus" richtet. Die Sichtweise und Einschätzung der AKP zur Gruppe des IS ist hinlänglich bekannt. Das zahlreiche Aufdecken von unterstützenden Aktionen spricht eine klare Sprache. Hinzu kommt, dass wohl auch gegenseitige Absprachen existieren. Denken wir nur an die Freilassung der Geiseln aus dem türkischen Konsulat in Mosul, die über Geheimverhandlungen erreicht wurden, deren Inhalt niemals an die Öffentlichkeit gelangt ist. D.h. zum einen existieren Absprachen, die es zu beachten gilt und zum anderen muss auf die unterschiedlicher Gruppierungen mit ihrer positiven Gesinnung dem IS gegenüber geachtet werden, denn sie sind auch ein Wählerpotential für die AKP, die gegenwärtig um jede Stimme buhlen muss. Denn sie wird ganz eindeutig Stimmen verlieren bei der nächsten Wahl. Viele kurdischstämmige Wähler werden der Partei den Rücken kehren, Aleviten wählen sie so wie so nicht mehr, und viele Wähler aus der Junibewegung haben gegen die AKP mittlerweile klare Position bezogen. Letztere mit ihrem jüngsten Aufruf und den Forderungen – Syrien den Syrern, keine Einmischung von außen, lasst die Syrer selbst entscheiden – mahnen die AKP auch endlich mit der Unterstützung der radikalen Islamisten aufzuhören. Keine einfache innenpolitische Situation, in der Zeitgewinnung durch eine Minderheitsregierung um Neuwahlen vorzubereiten – die ggf. auch noch einmal verschoben werden können, falls die militärischen Auseinandersetzungen zunehmen sollte – eine willkommene Verschnaufpause sind.

Ich denke, wir hören hier auf, weil schon wieder neue Ereignisse ein Überdenken unseres Gespräches notwendig machen, insbesondere die Entwicklungen um die Syrienkrise, das Hin und Her der Parteien um eine mögliche bzw. unmögliche Regierungsbildung, das weitere Verhalten der PKK auf die nicht abbrechenden Angriffe - täglich kommt Neues hinzu, so dass wir vielleicht den Abstand unserer Gespräche verkürzen sollten. Mal sehn.


(1) Bombenanschlag am 5. Juni auf eine Wahlveranstaltung der HDP mit mittlerweile 4 Toten und über hundert Verletzten.
(2) Selbstmordattentat am 20. Juli  auf das Amara Kulturzentrum in Suruç/Urfa mit 32 Toten und über hundert Verletzten.
(3) Der IS-Selbstmordattentäter war 20 Jahre alt und stammte aus Adıyaman, eine von Kurden bewohnte türkische Stadt im Südosten des Landes.  Der IS hat unseres Wissens die Verantwortung für dieses Attentat offiziell nicht übernommen, was eher unüblich für diese Gruppierung ist.


Der Tanz auf dem Vulkan - Wohin driftet die Türkei?

In den letzten Tagen überschlagen sich die Ereignisse. Innen- und Außenpolitik in der Türkei haben sich zu einem solch explosiven Gemenge vermischt, dass man von den Akteuren den Eindruck haben könnte: ‘Denn sie wissen nicht, was sie tun‘ (1). Die ganze Politikerriege der AKP vereint wie ein einziger ‘Jim Stark‘ aus Sorge um die Anerkennung bzw. den Zorn des Vaters bzw. des Möchtegern-Kalifen. Dabei ist es doch höchste Zeit, erwachsen zu werden und sich von diesem zu emanzipieren, um nicht noch größeren Schaden im Lande anzurichten, bzw. von ihm abzuwenden. „No-one should sacrifice Turkey for their own ends. The man sitting in the illegal palace is gambling with Turkey’s future“ warnt Kılıçdaroğlu am heutigen Tag erneut, wie bereits 2014 damals vor der Präsidentenwahl: „I call on my people: If you want war, if you want our children to be killed in wars in Middle East, go and vote for Erdoğan.“ (2)

Steuert das Land durch diese Hörigkeit der AKP-Riege in einen Krieg? Und vor allem auch, gegen wen? Nach türkischer Verfassung kann aber weder der Premier noch der Staatspräsident, sondern allein das Parlament über einen solchen entscheiden. Gut, dann nennt man es eben einfach nicht  ‘Krieg’ sondern ‘self defense‘ so wie Brett McGurk am 26.7.15 es tut. (3) Und dennoch, auch wenn es gegenwärtig keine amtierende Regierung gibt: Die ehemalige Opposition hat seit den Wahlen vom 17. Juni eine Mehrheit im Parlament. Wieso stoppt sie diesen Wahnsinn nicht einfach, egal ob er als ‘Krieg‘ oder als ‘Selbstverteidigung‘ etikettiert wird?b Offensichtlich ist diese Frage nicht mit Hilfe einer einfachen Logik zu beantworten.

Da wird das Hin- und Hergezerre um İncirlik auf einmal blitzartig beendet. Da ist die Türkei plötzlich ein ‘ehrlicher‘ Koalitionspartner im Kampf gegen ISIS. Eine Grenzsicherheitstruppe mit der Stärke von 70.000 Personen wird angekündigt. Ein Mauerbau ist geplant:



Da werden Angriffe gegen ISIS in den Nordirak und nach Syrien geflogen, mit dem Ziel einer ISIS-freien Zone, in der die ins Land geflohene syrische Bevölkerung dann später angesiedelt werden soll. Und sofort sind der Westen und die USA bereit, beim Koalitionswackelkandidaten nun Milde walten zu lassen angesichts dieser neu angekündigten und bereits begonnenen Taten. Hurra lobt da Deutschlands Verteidigungsministerin, Frau von der Leyen, endlich eine in der Koalition wieder ernstzunehmende Türkei, um sich am nächste Tag verwundert die Augen zu reiben, angesichts der Ergebnisse dieser Angriffe. Denn es sind überwiegend PKK Stellungen, die angegriffen wurden.



Und blickt man auf die Zahlen der verhafteten Personen im Inland – es wird von Hunderten gesprochen mit stetig steigender Anzahl – so werden lediglich ca. 30 davon als IS-Anhänger bezeichnet. Alle anderen seien Kurden, Linke oder Angehörige von Menschenrechtsorganisationen, so die Berichte. Eine willkürliche Verhaftungswelle ohne Strategie, hunderte von Personen so einfach einkassieren und festnehmen? Oder steckt da doch eine Strategie dahinter, nämlich einfach mitzunehmen und wegzusperren, was unbeliebt und unbequem und - verrückt - dazulassen was eigentlich gefährlich ist? Denn 8 der in Adıyaman festgenommenen IS-Angehörigen sind bereits wieder auf freiem Fuss.




Was passiert da? Will man staatlicherseits lediglich Angst und Terror verbreiten, um von den eigenen Unfähigkeiten abzulenken, oder ist es umgekehrt eher die Angst vor dem möglichen Ende der eigenen Macht, aufgrund des zunehmenden öffentlichen Bewusstseins der Veränderungen im Land aufgrund einer erstarkten und selbstbewussten demokratischen kurdischen Bewegung? 
Der Erfolg ist bereits sichtbar: eine gelähmte Masse, ängstlich vor dem Fernseher kauernd, das Alltagsgeschehen beobachtend ,in der Sorge vor einem Krieg auf der einen und auf der anderen Seite die Entladung der masslosen Wut über die sichtbare und gewollte Eskalation, die im Gegenzug wiederum von der Politik nutzbar gemacht wird, um die gelähmte Masse noch stiller als still werden zu lassen.

Es ist schwer, das alles zu durchschauen – obwohl es doch eigentlich so offensichtlich ist. Die Berichterstattung ist eine Aneinanderreihung von Ereignissen mit dem Versuch, das Ganze je nach politischer Coleur in die vorfindlichen Denkschablonen einzupassen. Reflexive und erklärende Texte sind spärlich. (4) Vielleicht ist es auch noch zu früh, um zu analysieren, wohin die Reise wirklich geht. 

Und beobachtet man die Meldungen aus den sozialen Netzwerken – unterstrichen von aktuellen und/oder aus dem Archiv herausgesuchten ‘aktuell passenden‘ alten Fotos – so begegnen einem Stimmungsbilder mit Eskalationsängsten bis hin zu Bürgerkriegsvorstellungen umrahmt von Ichhabsdochgewusstundschonimmergesagt Weisheiten. Kaum ein Beitrag ist frei von bewussten oder unbewussten subjektiven Wirklichkeitskonstruktionen. Wie denn auch? Das Thema ist viel zu emotional besetzt und erscheint den Ereignisse nach zu urteilen wie der Tanz auf einem Vulkan. 
Und ich selbst weiss es ja auch nicht viel besser. Daher werde ich in den nächsten Tagen versuchen, Selçuk Salih Caydı zu erreichen, um mit ihm über die neuesten Geschehnisse sprechen, denn unser letztes Gespräch ist bereits 2 Monate her.


(1) Rebel Without a Cause, Film aus dem Jahr 1955
(2) Hurriyet Daily News 6.8.2014
(3) Deputy Special Presidential Envoy for the Global Counter ISIL im US Department of State
(4) Wohltuend heben sich hier die beiden Texte von Deniz Yüksel  http://linkis.com/www.welt.de/politik/SS824 und Michael Martens  http://www.faz.net/-hub-863id ab.




Gefunden – Selçuk Salih Caydı's Hodscha-Geschichten

Die ersten Hodschageschichten von Selçuk fand ich in seinem Blog und zwar in türkischer Sprache. Es hat etwas gedauert, ihn davon zu überzeugen, diese doch übersetzen zu lassen. "Der Kessel hat ein Junges bekommen" war bereits in türkischer Sprache erschienen. "Der Pelz, der nach Konya ging" ebenfalls. "Der zweite Gesprächsversuch des Vakanüvis mit Hafiz dem Witzigen" allerdings noch nicht. Ja und die anderen Geschichten, das Manuskript habe er "verbummelt", gestand er. Aber eine handschriftliche Version sein bestimmt irgendwo noch zu finden. 
Er hat es gefunden, das Manuskript. Vor kurzem erhielt ich diese Nachricht und einen kurzen Überblick über sein Werk. Und nun? Wir werden sehen, ob es als sein erstes Buch in Deutscher Sprache erscheinen wird. (CHH)


Ein Kornelkirschenerlebnis mit Hodscha

Eine mystische Geschichte. Ein Derwisch kommt, um Hodscha eine Frage über Mystik zu stellen. Aber er stellt diese Frage, ohne ein Wort auszusprechen. Hodscha erhält die Frage von seinem Jünger, indem er den Jungen ausfragt. Auf diese Weise spricht der Derwisch durch den Jungen. Hafiz und paar der islamische Gelehrten draußen vor der Tür in Hodschas Dergah verstehen nichts von dieser Art des Derwisches. Hodscha bestellt nun diese unfühlsamen Buchwissengelehrten zu sich, um sie mit einem Kornelkirschenast zu verprügeln. In dieser Geschichte geht Hafiz auf eine der bekanntesten Hodscha-Geschichten "Du hast auch recht" ein. [1] 

Vakanüvis erster Interviewversuch mit Hafiz dem Lustigen

In dieser knappen Episode erzählt Hafiz seinem Publikum eine Hodscha-Geschichte, als Vakanüvis ankommt, um mit ihm zu reden. Er fragt, wie Hafiz den Hodscha eigentlich kennengelernt habe. Hafiz quaselt etwas Phantastisches, dass über den Tod hinausgeht. Er veralbert Vakanüvis und schmeißt ihn raus. Dann beginnt er vor seinem Publikum in der Dorfkneipe auf seine sehr eigene Weise eine neue Geschichte und erzählt den Anfang von "Der Kessel hat ein Junges bekommen." [2]

Der Derwisch und sein Schweigegelübde

Eine mystische Geschichte von einem Derwisch mit Schweigegelübde, der sich vor dem Hodscha nicht beherrschen kann und ihn mit einem Geistesschwert droht, sich deswegen aber bei ihm entschuldigt und daher seine Gelübde bricht. Hafiz wird Zeuge dieses Momentes und kriegt einen Schock, kann nicht mehr sprechen. Da sagt Hodscha zu ihm "Bis du darüber keinen Witz ausreißen willst, wirst jetzt DU sein Gelübde tragen." [3]
(Hafiz wird in den Geschichten immer als jemand dargestellt, dass er zwar theoretisch viel über Mystik weiß und den Schülern davon erzählt, aber doch ein durch und durch rationaler Mensch ist. Wenn sein Wissen über Mystik doch wahr wird und Hodscha bzw. seine Jünger Wunder vollbringen, kann er nur schwer glauben, was er sah.)

Ein mongolischer Besucher

Diese längere Geschichte erzählt ausführlich, wie Hodscha mit einem Kornelkirschenast einen mongolischen Bandenführer mit dickem Schwert besiegt und dabei Hafiz den jüngeren Hodschas die Grundlagen vom "Kämpfen ohne Waffen" beibringt. Das Stück ist dem Yagyū Munenori gewidmet, da die Geschichte auf seiner Kampftheorie basiert. [4] Der Herausforderer wird vom Hodscha besiegt, und zum Schluß wird auch dem rationalgläubigen Hafiz eine Lektion erteilt. Woraufhin Hafiz auf der Stelle eine neue Hodscha-Geschichte ausbrütet, die vom Hodscha und dem Storch. [5]

Die Wissenden und die Nichtwissenden

Diese Geschichte basiert völlig auf einer Hodscha-Geschichte. Hafiz hatte sie "ausgebrütet" aber noch niemandem erzählt. Er macht mit dem Hodscha einen Deal und schliesst eine Wette mit ihm ab. Er glaubt, dass die Geschichte so verlaufen würde, wenn Hodscha nur nach Hafiz' vorgedachter Geschichte mitspielen würde. Und die Geschichte geht etwa so:
Hodscha fragt die Gläubigen: "Wisst ihr, was ich euch erzählen werde?" Diese antworten mit "Nein". Und er fährt fort, "tja, warum soll ich es dann erzählen?" und geht. Am nächsten Tag stellt er dieselbe Frage noch einmal. Nun antwortet die Menge: "Ja wir wissen". Da sagt er "ach gut, ihr kennt's ja schon," und lässt die Gläubigen stehen.
Am dritten Tag hat die Menge sich abgesprochen damit der Hodscha auf keinen Fall wieder wegläuft. Sie sagen: "Hodscha, die Hälfte von uns weiß, die andere Hälfte weiß nicht, was du erzählen wirst."  Da meint der Hodscha, "dann sollen es die Wissenden den Unwissenden erzählen." Hafiz hat dies so geplant und mit Hodscha gewettet. Aber am dritten Tag sagen die Jünger im Palast etwas anderes und bringen Hafiz durcheinander. Daraufhin stellt Hodscha eine vierte Frage, die gar nicht geplant war und Hafiz' Vorstellung sprengt. [6] Hieraus ergibt sich eine längere Geschichte und zum Schluss wird aus Spaß der Anfang der Hodscha-Geschichte "Hodscha und Tamerlan im Hamam" erzählt, die in mehreren Geschichten Selçuks kurz erwähnt wird. [7]

Ney und Nakkare [8]

Diese Geschichte ist eine Art Fortsetzung von "Die Wissenden und die Nichtwissenden" da die Jünger Hodschas mit seinen Antworten unzufrieden sind.
Sie treffen sich noch einmal mit Hodscha und dieser freut sich, da seine Antworten mit Absicht unvollständig waren. In dieser Geschichte bringt er seinen Jüngern nahe, dass die Sinne selbst ganz schön lügen können. Er beweist es ihnen durch ein kunstvolles mystisches Experiment. Das Fazit: "Man soll Illusion und Echtheit unterscheiden können" und warum Musik "gut" ist, weil sie nicht böse sein kann. Hafiz erklärt den Jüngeren, dass Musik deshalb von Derwischen immer auch zu ihrer Schulung genutzt wird.

Altes Leben - Neues Leben

In dieser komplizierten mystischen Geschichte entlarvt Hodscha zwei falsche Derwische, die ihn umzubringen versuchen, die zwar das Wissen der Derwische kennen, es aber es nicht praktizieren können, da sie nicht "gut" sind. Hier wird "Das Böse" entblößt, das trotz großes Wissens unecht bleibt und zur Niederlage verdammt ist. Eine komplizierte Geschichte, die zum Nachdenken anregt.

Baklava und Börek für den Hodscha

In dieser Geschichte geht es um den egozentrischen "Glauben" eines seldschukischen Prinzen. Er glaubt an gute Prophezeiungen über ihn, die auch zutrafen, der aber schlechte und böse Prophezeiungen nicht akzeptieren kann und an diese nicht glauben will. Daher möchte er, dass der allwissende Hodscha diese ändert. Die böse Prophezeiung wäre, dass er einmal übel blamiert würde. Da prügelt Hodscha ihn vor all seinen Schülern mit seinem üblichen dünnen Kornelkirschenast, den er wie eine Peitsche benutzt. Der Prinz bekommt die größte Blamage seines Lebens und so seine Lektion. Da er diese versteht, hält er seine Leibwache zurück, die Hodscha und seine Jünger bestrafen wollen und reitet zum Palast zurück.

Anvertrauter Derwisch

Es geht hier um einen mysteriös-fiktiven Derwischorden "Gayb-i Seyfiye", die "Holzschwertträger", die übernatürliche böse Mächte und Dschinnen bekämpfen. Sie kommen zum Hodscha, um von seinem Kloster einen jungen Derwisch zu rekrutieren. Hodscha prüft hier die Weisheit und Einsicht seiner Schüler und wählt mit den Gastderwischen einen Jungen aus. Er läßt für ihn ein weißes Pferd satteln und gibt dem jungen Geisteskrieger mit auf den Weg:
"Komm nicht zurück, bevor du dich besiegt hast, mein Junge, sonst bekommst du eine Tracht Prügel von mir!"

Statt eines Nachwortes

Hier wird auf eine witzige Art der Tod des Hodschas erzählt. Es ist besonders witzig gefasst, weil der Tod nur wegen der Trennung von geliebten Personen traurig ist, aber nicht für den Hodscha, weil er mit all seinen Geschichten ja selbst nicht sterben kann. Dieser Teil basiert auf historischen Befunden und der Fiktion von Selçuk selbst. Die Jünger können nicht mehr entscheiden, ob er nun tot oder gar unsterblich geworden ist. Hier spielt Hafiz auch wieder eine Rolle mit seinem "buchgläubigen mystischen" Rationalismus.




1 Die Geschichte: Eines Tages kommen zwei Leute zum Hodscha, von denen der eine gegen den anderen eine Beschwerde führt. Vom Hodscha wollen sie nun wissen, wer im Recht ist. Der Hodscha hört den einen an und sagt: "Du hast recht." Dann hört er den anderen an und sagt "Du hast auch recht." "Es kann doch nicht sein, Hodscha, dass beide recht haben", widerspricht seine Frau. "Du hast auch recht, Frau", erwidert der Hodscha.
2 Bei Selçuks Geschichen zu finden.
3 Hafiz wird in den Geschichten immer als jemand dargestellt, der zwar theoretisch viel über Mystik weiss und dies auch den Schülern erzählt, der aber dann doch ein durch und durch rationaler Mensch ist. Und wenn das Erzählte dann wahr wird – d.h. wenn Hodscha oder seine Jünger mystische Wunder vollbringen – dann kann er nur schwer glauben, was er da sieht.
4 Der Samurai Yagyū Munenori war Schwertkampflehrer der Shogune Tokugawa leyasu und Tokugawa lemitsu. Er war beeinflusst von Konfuzianismus, Daoismus und Zen-Buddhismus. Er hinterliess die Schrift 兵法家伝書die er 1632 geschrieben hat, und in die er die Weisheiten seines Meisters Takuan Sōhō einfliessen liess.
5 Die Geschichte. Eines Tages fing Hodscha einen Storch und brachte ihn nach Hause. Weil ihm der Schanbel und die Füsse zu lang vorkamen, beschnitt er sie. Dann setzte er den Storch auf ein Podest und sagte: "So, jetzt siehst du wenigstens wie ein Vogel aus."
Diese vierte Frage kommt in keinem der Hodscha-Witze vor. Selçuk hat sie in einer indischen Version aufgespürt und hier nacherzählt.
7 Die Geschichte: Tamerlan rief Hodscha zu sich. Als er an seinem Palast ankam war der mongolischer Herrscher im Hamam. Nach einer kurzen Unterhaltung fragte Tamerlan den Gelehrten.
"Du kannst alles besser schätzen, was glaubst du wieviel ich wert bin Hodscha?" Hodscha guckte aif seine Hamamschürze und sagte, "ein Dinar." "Was? So billig?" "Ich meinte nur deine Schürze, nicht dich. Du selbst bist nichts wert."
8 Uralte Derwischflöte und altes Schlaginstrument.

Wahlen in der Türkei – Ein Gespräch mit Selçuk Salih Caydı

Ich sitze in einer von Selçuks Stammkneipen in Istanbul, bin mit ihm verabredet und warte. "Komme gleich" lese ich auf Twitter. "Komme gleich" kann bei Selçuk sehr Verschiedenes bedeuten und ist abhängig davon, von wie weit entfernt er anreist. Kommt er aus z.B. Antalya, dann stimmt das "Komme gleich" meist mit der verabredeten Uhrzeit so ungefähr überein. Ist Selçuk allerdings irgendwo in Istanbul und läuft gar quer durch Beyoğlu, dann kann das "Komme gleich" Stunden bedeuten, weil Selçuk manchmal einfach vergisst, was er eigentlich gerade vorhat. Da wird dann eine Katze fotografiert oder es werden zwei, drei ... und dann, ja, wenn da nicht so viele Buchläden und Antiquariate wären ...
Ich habe Selçuk bereits mehrmals getroffen. Fast jedesmal stürmt er herein mit einem ent- oder unschuldigenden Lächeln und packt erst einmal seine Tüten aus. Bücher. "Hier schau mal, das hab ich gefunden ... und hier ein und das auch noch und ...".
Ja und nun sitze ich hier am Abend nach den Wahlen und warte neugierig auf ihn und auf seine Kommentare zu diesem Ereignis ...  Mal sehn. – Kommt! – Hach! Na denn ...


Fangen wir an mit der HDP, dem eigentlichen Sieger der Wahl. Kurdische Parteien hatten es in der Vergangenheit doch immer mal wieder ins Parlament geschafft. Mir kommt Leyla Zana in Erinnerung, wie sie als eine der ersten kurdischen Abgeordneten im Jahr 1991 ihren Amtseid in kurdischer Sprache ergänzte. War das damals eine Aufregung. Sprechen wir also erst einmal darüber, welche besondere Bedeutung dieser Einzug der HDP in das Parlament hat.

Das eigentlich Besondere an der HDP ist die Wandlung der Partei in ihrer Ausrichtung im letzten Jahr. Sie ist zwar aus der kurdischen Bewegung entstanden und hat dadurch natürlich auch eine Nähe zur PKK. Sie ist aber weit über diese Anfänge hinausgewachsen. Dadurch ist sie Öcalan und der PKK entglitten und kann von dort aus nicht mehr so kontrolliert werden, wie dies in der Vergangenheit mit den politischen kurdischen Gruppierungen der Fall war.
Alle kurdischen Parteien, die seit den neunziger Jahren entstanden sind – und die allerdings auch ebenso schnell wieder verboten wurden – wurden immer von der PKK kontrolliert. Sie waren der legale Arm der PKK, und sie sind auch als ein solcher konzipiert worden. Aber Öcalan weiss heute sehr genau, dass er aus dieser Illegalität heraus seinem Ziel nicht näher kommen kann. Daher war auch für ihn die Gründung der HDP ein wichtiger und von ihm begrüsster Schritt.
Mit der HDP unter Demirtaş ist jetzt aber etwas Unvorhergesehenes geschehen. Er hat diese Partei mit einem Anteil von 13,05 % der Stimmen mit 81 Sitzen ins türkische Parlament gebracht. Das heisst, die HDP ist mit einem Sitz drittstärkste Kraft und mit einem Sitz vor der MHP im Parlament vertreten und hat dabei insgesamt einen Zuwachs von über 100 Prozent zu verzeichnen.

Was hat Demirtaş anders gemacht, um diesen sensationellen Erfolg für die HDP verbuchen zu können?

Erst einmal wurde anlässlich der Wahlen im Jahr 2014 der Name der Partei Partiya Aştî û Demokrasiyê / Barış ve Demokrasi Partesi (BDP – zu deutsch: Partei des Friedens und der Demokratie) in Halkların Demokratik Partisi (HDP – zu deutsch: Demokratische Partei der Völker) umgewandelt.

Oder denken wir an die traditionellen kurdischen Farben rot, gelb und grün und sehen uns das Logo der Partei an. Klar sind diese Farben auch im Logo der Partei wieder zu finden. Aber sie wurden ergänzt. Eine Sensation! Es wurde das Violett als die Farbe der Frauen aufgenommen. Sie haben das Grün der Grünen Bewegung und das Rot der Linken Bewegung integriert. Auch auf diese Weise weichen sie von ihrem kurdische Ursprung ab. Und diese Öffnung, das ist die eigentliche Sensation, insbesondere, wenn man den jahrzehntelangen Kurdenkonflikt dieses Landes vor Augen hat.

Sie dokumentieren damit ihre politische Vorstellung eines demokratischen Politikansatzes mit dem Blick auf Diversity und dessen Anerkennung? Wie peinlich ist da doch der Versuch noch in den letzten Tagen vor der Wahl sogar in deren Logo ausschliesslich die PKK wiedererkennen zu wollen.


Ja, sie sind heute wirklich nicht mehr nur kurdisch. Und das ist die eigentliche Sensation, wenn man den jahrzehntelangen Kurdenkonflikt dieses Landes und die Kämpfe der Kurden vor Augen hat. Auch Demirtaş und seine Leute haben aus der Geschichte gelernt. Sie wissen, dass mit der PKK zusammen immer wieder eine unsichtbare Grenzlinie in Bezug auf die  Kurdenfrage entsteht, die nicht zu überwinden ist. Und genau das haben sie nun verändert. Und es hat funktioniert. Es ist unglaublich, wenn man sich diese Wahlergebnisse ansieht. Nicht nur im Osten des Landes, überall hat die HDP Stimmen bekommen, an der Schwarzmeerküste und da leben ja keine Kurden, in dieser Region sind eher MHP-Wähler zu finden. Am Marmara, der Ägäis ... überall.


Daher irritierte mich auch diese Karte erst einmal, weil sie die HDP ausschliesslich in den Osten des Landes verweist, da sie keinen Einblick in die tatsächliche Verteilung der Wählerschaft im Lande gibt. Aber sie zeigt etwas anderes Wichtiges, nämlich in welchen Provinzen die angetreten Parteien den ersten Platz errungen haben. Und das ist bei der HDP wiederum eindeutig im Osten des Landes.


Ja das stimmt. Aber bei der genaueren Wahlanalyse bemerken wir, wie weit ins Land hinein sich die HDP mittlerweile Anerkennung erworben hat und wieviele Stammwähler anderer Parteien diesmal HDP gewählt haben. Mindestens ein Viertel sind türkische Stimmen (Vatan 10.6.). Dabei sind auch Leihstimmen und das verpflichtet die Partei in Bezug auf die Breite ihrer Themen.

Stimmt. Und es ist auch eine irrige Annahme, die Wählerwanderung sei überwiegend von der AKP zur HDP hin gegangen, da die CHP wenige Verluste habe, wie auf Twitter zu lesen war. Es hat insgesamt Umschichtungen untereinander gegeben.

Ich kann diese Interpretation verstehen, auch wenn sie nicht der Realität entspricht. Denken wir zurück an die ersten Wahlerfolge der AKP und die damalige Situation in Bezug auf die  Kurdenfrage. Als die AKP an die Macht kam, war alles total festgefahren und blockiert. Und ein großer Teil der Unterstützung der AKP kam damals von Gruppierungen, die glaubten, nur so könne ein Friedensprozess mit den Kurden vorangehen. Man hatte die Hoffnung, dass eine auf den ersten Blick nicht-nationalistische sondern religiös ausgerichtete Partei hier Änderungen herbeiführen könnte. Diesen Kredit für die AKP hat Erdoğan im Verlaufe der Zeit aber sehr gründlich verspielt. Angetreten als muslimischer Demokrat wandelte er sich dann ja zum allein herrschen wollenden Despoten, der die Friedensfrage mit dem kurdischen Bevölkerungsteil immer nur taktisch behandelt hat.

Erdoğans Verhalten gegenüber den islamistischen Widerstandsgruppen in Syrien, seine Unterstützungsaktionen, seine Hoffnung auf den Fall von Kobané, das hat ihm im Osten das Landes – und nicht nur da – offensichtlich niemand vergessen. Wäre es da nicht ein guter taktischer Schachzug für Erdoğan, sich jetzt dafür einzusetzen, Öcalan aus dem Gefängnis zu entlassen, in der Hoffnung, dass dann eine Konkurrenz dieser beiden führenden Köpfe der kurdischen Bewegung das gerade erzieltes Ergebnis der HDP stören, wenn nicht gar gefährden könnte?

Stimmt, ein solcher Machtkampf könnte Erdoğan gefallen. Und Öcalan ist ja auch immer noch sehr wichtig. Aber er ist nicht mehr der wichtigste Führer der kurdischen Bewegung. Und zwar auf seinen eigenen Wunsch hin. Er hat wohl verstanden, dass er mit der PKK zusammen seine Grenze erreicht ist. Er weiss, der Freiheitskampf der Kurden hat nur eine Chance, wenn er in die demokratische Bewegung des Landes eingebunden ist, beziehungsweise dieser mithilft, sich neu zu bündeln. Nur so kann die noch immer vorhandene Spaltung in der Kurdenfrage gemildert und perspektivisch vielleicht sogar aufgehoben werden. Er weiss sehr genau, dass kriegerische Auseinandersetzungen keine Erfolge mehr erzielen und der Frieden mittlerweile ein allseitiger Wunsch ist. Und nur wenn die Kurden selbst eine nicht mehr zu übersehende, politisch aktive Rolle spielen, können sie auch dieses Ziel durchsetzen.

Könnte Erdogan die beiden nicht doch irgendwie gegeneinander ausspielen?

Ich denke nein. Beide Kurdenführer bewegen sich doch auf zwei völlig verschiedenen Ebenen. Öcalan ist bereits heute eine anerkannte heroische Figur für die kurdische Bevölkerung. Er hat sich in der Geschichte einen Platz erworben, den er nicht mehr verspielen kann. Er muss daher heute auch kein Parteivorsitzender mehr sein. Demirtaş hingegen ist Realpolitiker. In diesem Sinne ist er nicht vergleichbar mit Öcalan. Und als Politiker ist er – andes als Öcalan – sehr angreifbar, wenn sich nämlich seine Visionen nicht in die gewünschten Erfolge für das Land – und ich sage bewusst  für das Land – umwandeln. Nur wenn diese beiden Führungspersönlichkeiten miteinander kooperieren, ohne sich dabei im Wege zu stehen, kann der begonnene Weg zum Erfolg führen und sich die Bewegung sogar weiter ausdehnen. Und das wissen sie beide.

Das Neue ist also zum Einen, dass die HDP nicht mehr von der PKK kontrolliert wird, quasi als "ihr Eigentum" angesehen wird, sondern Bewegung und Partei miteinander kooperieren müssen, wenn sie Erfolg haben wollen. Hinzu kommt, dass die HDP durch den hohen Anteil an geliehenen Stimmen verpflichtet ist, die demokratische Bewegung insgesamt voranzutreiben und kann daher nicht ausschliesslich die kurdische Frage im Blick haben.

Ja und wenn das nicht gelingt, dann hätte die HDP alles verspielt und das haben glaube ich beide –Öcalan und Demirtas – sehr gut verstanden. Daher wird es auch nicht gelingen, einen Keil zwischen die beiden zu treiben. Hinzu kommt noch etwas anderes. Die AKP hat diese Entwicklung m.E. völlig überrumpelt. Mit dieser klaren Aussage durch das Wahl-Ergebnis wurde überhaupt nicht gerechnet. Daher war auch ihre Strategie in der Wahlkampfzeit sehr einfach. Man glaubte, es reiche aus, die HDP entweder zu ignorieren und sie im Wahlkampf zu behindern, z.B. indem ihr in den öffentlichen Medien kaum Raum gegeben wurde. Und es wurde versucht, sie sogar zu kriminalisieren, wie wir es eben an der Umzeichnung des HDP-Logos gesehen haben. Auch das Ziel, die Partei als eine mit zwei Gesichtern zu zeichnen, die sich zwar demokratisch nenne, jedoch die "Terroristen" in sich vereine, hat nicht funktioniert.

Zu unterschätzen sind auch nicht die Ereignisse der letzten Tage in Diyabakir. Ich denke, dieser Anschlag auf die Wahlveranstaltung der HDP mit Toten und an die hundert Verletzten hat noch einmal einen Ruck durch die Bevölkerung gehen lassen. Insgesamt hat diese Partei große Akzeptanz im Land erreicht und wird in Zukunft eine wichtige Rolle spielen. Aber wie kann denn dann eine Regierungsbildung nach diesen Wahlergebnissen überhaupt aussehen? Welche Möglichkeiten siehst Du, und welche werden in den Parteien diskutiert?

Sprechen wir als erstes über die Möglichkeit einer Minderheitsregierung durch die AKP. Ich selbst sehe das zwar als nicht sehr wahrscheinlich an. Aber die AKP ist die stärkste Partei und wird von Erdoğan zuerst mit der Regierungsbildung beauftragt. Neuwahlen kommen für die AKP offensichtlich im Moment nicht in Frage, so der Vizefraktionschef in seiner Rede nach der Wahl und auch Vizepremier Bülent Arinç sagte vor Journalisten, man solle die Türen nicht gleich zuschliessen. Und es gibt immer auch die Möglichkeit, einer Minderheitsregierung nicht mit direkter, sondern mit indirekter Unterstützung zu etablieren. Die AKP ist reich. Somit hat sie immerhin auch die Möglichkeit, einige Abgeordnete "zu kaufen". Das ist nicht neu und wurde in den siebziger Jahren in der türkischen Politik bereits praktiziert. Allerdings werden diesmal 18 Abgeordnete benötigt. Diese zu finden ist m.E. nicht so einfach.
Warum nenne ich nun diese Möglichkeit einer Minderheitsregierung als erstes? Erdoğan könnte seine Partei sogar einfach beauftragen, vorübergehend eine Minderheitsregierung zu bilden. Das ist nach der Verfassung möglich. Neuwahlen könnten dann unter Umständen so weit hinausgezögert werden, bis sich die Lage aus seiner Sicht wieder gebessert hat. Dennoch sehe ich diese Lösung als unwahrscheinlich an.

Mögliche Koalitionen sind für die AKP schwierig. Die MHP hat dies ganz klar abgelehnt. Auch die HDP hat betont, sie werde nicht mit der AKP koalieren und zwar in aller Deutlichkeit. Nur die CHP hat sich nicht ganz so klar positioniert, sondern lediglich formuliert, eine Koalition sei "gegen die Natur der Dinge". Hier könnte es eventuell Bewegung geben. Es sind nun anderthalb Monate Zeit, dieses Kunststück zu vollbringen und zu versuchen – mit welcher Partei auch immer – eine gemeinsame Grundlage auszuhandeln.

Hinzu kommt ja noch, dass es den bisherigen Oppositionsparteien im Moment vielleicht gar nicht so sehr um eine Regierungsbeteiligung zusammen mit der AKP geht. Warum? Alle wissen um die wirtschaftlich schwierige Situation in der Türkei, um die vielen Großprojekte, die auf Sand gebaut sind, und von denen man annimmt, dass hier ein Crash bevorsteht. Hierfür soll die AKP noch die alleinige Verantwortung übernehmen, so dass die anderen Parteien sich zum gegenwärtigen Zeitpunkt vielleicht gar nicht so sehr gegen eine Minderheitsregierung durch die AKP sträuben könnten.

Die Tolerierung einer Minderheitsregierung der AKP also, nicht nur bis die gegenwärtige Wirtschaftskrise ins Bewusstsein der Öffentlichkeit gedrungen ist, sondern bis auch die Korruptionsvorwürfe und anderes mehr neu aufgerollt und dokumentiert sind? Dann hat man die AKP so in die Handlungsunfähigkeit manövriert, dass die anderen Parteien das Ruder selbst und ohne die AKP in die Hand nehmen können?

Ja, genau, das wird unter anderem auch diskutiert.

Aber wie könnte eine solche Regierung bei den gegenwärtigen Konstellationen dann aussehen? MHP und HDP gehen nicht zusammen. Welche Rolle die CHP spielen will, ist für mich undurchsichtig. Was wird in den Parteien diskutiert?

Es gäbe mehrere Möglichkeiten, die gegenwärtig diskutiert werden. Es könnte zum Beispiel eine CHP Minderheitsregierung geben und zwar von MHP und HDP getragen. Beide Parteien wären dann nicht in die Regierungsverantwortung gezwungen, da sie ja nicht miteinander "können". Aber die Zeit wird auch zeigen, ob beide Parteien bei dieser gegenseitigen Ablehnung bleiben werden.

Gäbe es eine CHP Minderheitsregierung, würde CHP eine neue Verfassung schreiben lassen. Das würde dann vieles verändern. Denn auch die CHP hat sich in der Kurdenfrage gewandelt, und nicht jeder MHPler vertritt die Auffassung, ein Friedensprozess solle verhindert werden. Es gibt überall Realpolitiker. Aber was auf jeden Fall durch die Wahl schon jetzt gestoppt wurde, das ist diese schleichende Islamisierung in der Türkei, und ich denke auch die antieuropäische Stimmungsmache. Alle drei Parteien sind sich – aus völlig verschiedenen Gründen – hierin einig.

Die Beschreibung einer schleichenden Islamisierung finde ich sehr treffend.

Ja. Die Islamisierung der Türkei durch die AKP ist heute bereits sehr eng verwoben mit dem Staatsapparat, der diese seit etlicher Zeit mit Macht vorantreibt. Denken wir an die Veränderungen im Bildungssystem, im Justizapparat usw.. Und da stellt sich in der Tat die Frage, wie das überhaupt zu stoppen und zu verändern ist. 
Die Islamisierung ist ja in Schritten erfolgt und basierte zuerst auf der Idee, man könne Veränderung dadurch erreichen, dass man einfach den "kemalistischen Druck" entfernt, denn schliesslich sei die Türkei ja durch Atatürk unter Zwang laizistisch geworden. Würde man die Armee entmachten und die kemalistischen Ideen zurückdrängen – so dachte man – sei die Gesellschaft sehr einfach zu islamisieren. Dieses Konzept hat jedoch – wie wir alle wissen – nicht funktioniert.
Seit 2013 fing man dann an, Ge- und Verbote zu etablieren und diese in Gesetze zu gießen. D.h. die Islamisierung des Landes wurde seiterh ganz offensichtlich über die staatlichen Institutionen gelenkt. Ich denke, in der Bevölkerung war hier die Schmerzgrenze erreicht. Auch das ist einer der Gründe für dieses Wahlergebnis.
 Denn mit "Gezi" als einer wichtigen Volksbewegung wurde offensichtlich, dass der Säkularismus nicht nur von der jungen Generation erwünscht, sondern in der Türkei auch sehr alte, stabile und nicht zu unterschätzende Wurzeln hat. Immerhin hat die Modernisierung der Türkei eine ca. 200jährige Geschichte und die parlamentarische Demokratie ebenfalls. Man kann der Türkei viel vorwerfen, aber wenn wir uns die islamischen Länder insgesamt anschauen, so ist die Türkei säkularer als alle muslimischen Länder im Nahen Osten. Mit dieser stabilen säkularen Tradition hat Erdoğan nicht gerechnet.

Und es kommt noch eine andere Entwicklung hinzu, die nicht zurückzudrehen ist. Wir leben heute im Internetzeitalter. Das bedeutet, es gibt eine Gleichzeitigkeit von Ideen, ihrer Umsetzung in Aktionen und ihrer Bekanntgabe in der Öffentlichkeit, egal wo und wann gerade etwas in der Welt geschieht. Was vor Jahrzehnten noch Jahre gedauert hat, bis etwas um den Globus gewandert ist und öffentlich wurde, geschieht heute in Sekundenschnelle. Und es ist dann auch nicht einfach wieder aus der Welt zu schaffen. D.h. Aktionen werden schneller bekannt und sind besser organisierbar, aber auch das Wissen über Ungerechtigkeiten, Gewalttätigkeiten über Korruption und Verbrechen ist nicht mehr so leicht zu verschleiern und zu unterdrücken. Ich denke, in der Türkei sind mittlerweile die Telekommunikationsmöglichkeiten ein ganz  wichtiger Faktor, wenn wir die noch immer vorhandenen strukturellen Unterschiede von Westen nach Osten bedenken.

Ja, und beides – Tradition und Neuerung – haben mit dazu beigetragen, dass die Islamisierung mit ihrer alten Form der Umsetzung an ihre Grenze gestossen ist. Gezi war eine solche Zäsur und hat etwas zum Umkippen gebracht. Gezi war wie eine Explosion des Unmutes, allerdings mit der Folge eines zunehmend diktatorischen Verhaltens von Seiten Erdoğans und der AKP, interessanterweise mit dem Versuch, die hier im Land starke Vernetzung des Social Media Bereiches zu stoppen. Auch dies ist ja gescheitert, hat aber den Stadtkatzen von Istanbul und anderswo im Lande zu ungewöhnlicher Popularität verholfen.

Die AKP hat ihre Chance gehabt, und sie hat diese verspielt und zwar gründlich? Tragisch eigentlich, wenn man sieht, mit welchem Bonus sie einmal begonnen hat.

AKP wurde vor 12 Jahren mit großer Mehrheit gewählt, weil man Veränderung wollte. Und im Anschluss hat sich in der Bevölkerung  so etwas wie Gewohnheit eingeschlichen. Wir finden das immer wieder. Veränderungen brauchen Zeit, man gibt ihnen diese Zeit. Aber genug ist genug. An diesem Punkt sind wir heute wieder.
AKP wurde gewählt, um die Korruption der damals herrschenden Parteien zu beenden. Nun bemerkte man, dass diese Korruptionsangelegenheiten im Vergleich mit den heutigen Vorwürfen gegen die AKP äußerst gering waren. Hinzu kommt die Enttäuschung, dass gerade eine muslimische Partei, die vorgibt ehrlich zu sein und das Land in eine gute Zukunft führen zu wollen, immer wieder Gegenteiliges bewiesen hat.

Auch wurde verstanden, dass lediglich ein Schein-Wohlstandsgefühl entstanden ist. Es wurde die Illusion des Aufstiegs hin zu einer Wirtschaftsmacht erzeugt. Denn durch Privatisierungen wurden staatlicherseits zwar Gelder eingenommen und diese auch wieder ausgegeben. Doch im Grunde wurde das Geld nicht nutzniessend für das Land eingesetzt, sondern verprasst, um die eigenen Macht zu sichern. Und parallel hat man unter islamischen Vorzeichen versucht, eine Despotie aufzubauen. Diese Handlungsweise rächt sich jetzt. Zwar sind die Türken überwiegend Muslime, aber sie sind die pragmatischsten Muslime in der Welt. Sie sind es gewohnt, Veränderungen anzunehmen und sich in diese hineinzubegeben. Daher glaube ich, dass diese versuchte Islamisierung des Landes jetzt ihr Ende hat, und die Türkei in kurzer Zeit wieder eine sichtbare säkulare Ausrichtung vorweisen wird.

Mich interessiert noch, was diese Entwicklung für die Gülenbewegung bedeutet, die in Deutschland sehr stark ist. Ursprünglich ist sie ja selbst mit verantwortlich für diese Entwicklungen in der türkischen Gesellschaft und wurde nur wegen ihres zu großen Machtzuwachses ein Problem für Erdoğan.

Die Gülenbewegung wird in der Türkei keine große Rolle mehr spielen, weil sie sehr geschwächt wurde. Aber sie wird auch wieder ihren Platz finden. Gülenisten sind sehr westlich orientiert. Im Ausland sind sie die einzige global gut organisierte Gruppierung, die auch international eine wichtige Rolle spielt. In der Türkei selbst haben sie jedoch ihr Vertrauen verspielt. Ich denke nicht, dass es ihnen noch einmal gelingt, wichtige Positionen im Staatsapparat zu erlangen. Zu sehr sind sie verantwortlich in die Prozesse um Ergenekon und die Türkische Armee verstrickt. Aber im Ausland werden sie weiterhin als wichtige Auslandiaspora eines intellektuellen Islamismus respektiert sein.

Es gibt auch radikal islamistische Strömungen im Land. Die Sympathien und die Unterstützung dieser Gruppen seitens der AKP sind bekannt und dokumentiert. Im Irak und in Syrien wird gegenwärtig um die Etablierung eines Islamischen Staates gekämpft. Im Grenzgebiet und nicht nur dort hat die Türkei immer wieder Hilfestellung und Rückzugs möglichkeiten für diese Kämpfer geboten. Denken wir an die jüngsten Enthüllungen zu den Waffenlieferungen nach Syrien. Es ist von über tausend Schläfergruppierungen im Land die Rede. Birgt das bisherige außenpolitische Verhalten der AKP-Regierung nicht die Gefahr, dass mögliche Veränderungsprozesse im Inland von ISIS als Gefahr für sich gesehen werden und mit neuen Angriffen seitens dieser Gruppierung zu rechnen ist? Auch der Anschlag in Dijarbakır scheint ja auf das Konto von ISIS  zu gehen.

Das kann in der Tat ein Problem im Land werden. Die Türkei hatte ja eine Tradition, sich allen Nahostländern gleichsam neutral gegenüber zu verhalten. Aber auch diesen Bonus hat Erdoğan gründlich verspielt. Eine neue Regierung muss sich völlig neu in der Außenpolitik positionieren. Es wird ein schwieriger Prozess sein, im Ausland wieder Vertrauen aufzubauen und sich als verlässlicher Partner zu erweisen. Denken wir nur an die durchlässige Grenze zu Syrien, die es den Djihadisten erlaubt, unbekümmert hin und her zu reisen. Hinzu kommt das Problem der Syrer im Land, denn hier hat sich ISIS zum Teil auch unter die Flüchtlinge gemischt.

Wie dieses Problem zu lösen ist, kann ich mir kaum vorstellen. Über 3 Millionen Syrer sind bereits im Land.

Man denkt hier an einen mehrstufigen Prozess. In einer ersten Stufe geht es um die Ansiedlung der Syrer im Südosten, da kaum jemand davon ausgeht, dass es bald Frieden in Syrien geben wird und eine Lösung für die 3 Millionen Syrer gefunden werden muss. Sie würden dann einen Flüchtlingsstatus erhalten und ist ihre Anwesenheit ist dann offiziell und erfasst. Man erhofft sich dadurch künftig, über Türkischen Sicherheitskräfte und Geheimdienste auch schlafende islamistisch-terroristische Zellen frühzeitig zu erkennen. Das könnte in der Tat zu einer Bedrohung für ISIS werden. Sie könnten ihre Zellen hier im Inland aktivieren. Damit ist zu rechnen, ebenso wie überall auf der Welt, jedoch ist die Situation hier m.E. etwas bedrohlicher, aufgrund der wichtigen Rolle, die die Türkei für diese Gruppierung bisher gespielt hat. Doch die CHP hat Erfahrung mit dem strukturellen Aufbau staatlicher Systeme, ich denke, das könnten sie lösen. Auch hierzu haben wieder alle drei Parteien eine gemeinsame Position, dass man dringend gegen ISIS vorgehen muss.

Ein weiterer Schritt wäre – auch als vertrauensbildende Maßnahme in der Anti-ISIS-Koalition – die Syrische Grenze sicher zu schliessen. Auch dies ist möglich, wenn man es will. USA und Europa würden die Türkei dabei unterstützen, wenn dieser Keil – den AKP ja doch in die Anti-ISIS-Koalition getrieben hat – nicht mehr existiert. Damit wäre die erste Stufe einer Zurückdrängung von ISIS aus der Türkei erreicht. Vielleicht könnte sogar eine Wende im Krieg gegen ISIS eingeleitet werden, wenn man bedenkt, dass die Türkei nach den USA in der Nato die zweitgrösste Armee mit militärisch gut ausgerüsteten Spezialeinheiten besitzt.

Das alles funktioniert aber nur, wenn es gelingt, die Vetternwirtschaft der AKP zu beenden und die staatlichen Strukturen zu reformieren und mit qualifizierten Leuten zu besetzen, egal, ob Kurden, Armenier, Türken oder welcher Gruppierung diese jeweils angehören. Ich glaube, die nächsten 2 Jahre in der Türkei werden sehr spannend. Vielleicht wird es einen totalen Wandel, gar einen Quantensprung geben.