Türkei – Freie Meinung und Journalismus





Jedes Jahr erstellt Reporter ohne Grenzen (ROG) eine Rangliste der Pressefreiheit, so auch am 12. Februar 2015. Von 180 Ländern liegt die Türkei zu Beginn des Jahres auf Platz 149.

Das von der AKP-Regierung im Februar 2015 verabschiedete 'Sicherheits'-Paket erschwert bzw. behindert die Pressefreiheit im Lande noch mehr und/oder verunmöglicht sie zu weiten Teilen. Von ROG wurde hierzu eine Stellungnahme für den UN-Menschenrechtsrat verfasst. 

Das Wissen um das Geschehen in der Welt ist Menschenrecht und in Artikel 19 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte festgelegt "Jeder hat das Recht auf Meinungsfreiheit und freie Meinungsäußerung; dieses Recht schließt die Freiheit ein, Meinungen ungehindert anzuhängen sowie über Medien jeder Art und ohne Rücksicht auf Grenzen Informationen und Gedankengut zu suchen, zu empfangen und zu verbreiten." Wir sind besorgt über die Entwicklungen in der Türkei. 

Es sind jedoch nicht nur die Medien, auf die gezielt der Blick gerichtet wird und deren Arbeit erschwert und behindert wird. Im Land entsteht insgesamt eine ängstlich besorgte Stimmung, zurückhaltend sein zu müssen, um nicht selbst wegen einer "Lappalie" oder einem unbedacht hingeschriebenen Satz, einer einfach mal herausgeschriebenen Wut oder einem veröffentlichten kritischen Text in eine schwierige Situation zu geraten. 

236 Anklagen über Beleidigung von Präsident Erdoğan wurden seit seinem Amtsantritt vor 7 Monaten eingereicht. Diese betreffen nicht nur Erwachsene, sondern zunehmend auch Jugendliche. Schüler und Schülerinnen, Studierende werden sich überlegen, was sie tun, wenn sie sehen, wie aus ihrer Altersgruppe Einzelne zu Gefängnisstrafen verurteilt werden, für Dinge, die sie selbst vielleicht gerne sagen und schreiben würden. 

Journalistinnen und Journalisten haben eine Lobby, auch wenn diese oftmals kaum etwas erreicht. Über sie wird geschrieben, ihre "Fälle" werden beobachtet und Proteste werden gesammelt. Über einzelne, eher unbekannte Personen, wird auch berichtet, doch außer vereinzelten Menschenrechtsgruppen haben sie keine Lobby.

Doch etwas habe ich beobachtet, ist anders in der Türkei als in Deutschland: Es existiert eine besondere Art der Erinnerungskultur. Niemand wird einfach vergessen. Es gibt Gedenktage für diejenigen, die während ihrer Meinungsäußerungen und Beteiligung an den Gezi-Protesten umgekommen sind, an denen sich viele aktiv beteiligen. Einen solchen jährlichen Gedenktag zum Todestag von Rudi Dutschke in Deutschland - ich kann mich nicht erinnern.



Einige der jüngsten Ereignisse

Die Idee hier im Zeitverlauf auf Fälle hinzuweisen - naja, wenn ich das wollte, müsste ich ja diesen Blogtext gegenwärtig offensichtlich täglich ergänzen. Ich lass das und setze nur noch vereinzelt etwas hinzu. Interessant wäre eine Analyse der Entwicklung im Zeitverlauf. Mal sehn.

Es ist beim Freispruch für Frederike Geerdink geblieben, offiziell nun am 13.4.15. Zwar gab es einen Freispruch für Frederike Geerdink, doch wie erwartet, wird gegen diesen angegangen:

Im Prozess am 8.4.15 gegen Frederike Geerdink plädierte der Staatsanwalt auf Freispruch. Das Urteil wird am Montag den 13.4.15 verkündet, da der Hauptrichter sich im Urlaub befindet. Ob es beim Freispruch bleibt? Der Bericht des Kollegen Frank Nordhausen über diese überraschende Wendung (FR 8.4.15). 


Auch die Journalistin Sedef Kabaş soll nun hinter Gitter, weil sie sich u.a. dagegen verwahrt hat, dass Untersuchungen von möglichen Straftaten juristisch nicht weiter verfolgt werden, dass nämlich Korruptionsuntersuchungen im Lande eingestellt werden. Aber sie ist nicht still und hat sich öffentlich gegen die ihr zur Last gelegten "Verbrechen" gewehrt: "I am on trial. ..." Insgesamt sind es nun 10 Jahre und vier Monate, die sie im Gefängnis verbringen soll, das sind 3770 Tage.

Die Karrikaturisten  Bahadır Baruter und Özer Aydoğan werden zu 11 Monaten und 20 Tagen Haft verurteilt: wegen  "'Beleidigung' von Präsident Erdoğan" (werde dies als copy paste abspeichern). Das Urteil wurde in eine Geldstrafe von 7.000 TL oder jeweils 2.700 $ umgewandelt. Die beiden zeichnen für die Satirezeitschrift Penguen. [Hürriyet Daily News 30.3.15]

Bergwerk Bekiroğlu, eine 28jährige Lokaljournalistin aus Adana wurde zu einer fünfmonatigen Haftstrafe auf Bewährung wegen "Beleidigung" von Präsident Erdoğan verurteilt. [Hürriyet Daily News 29.3.15]

Amy Strahl ist Journalistin, Menschenrechtsaktivistin und Inhaberin des Trekkingunternehmens Berg Ararat Trek. Sie hatte die Türkei einen Monat vor Ablauf ihrer Aufenthalterlaubnis – die im Januar 2015 abgelaufen ist – verlassen. Nun wird ihr die erneute Einreise in die Türkei verweigert. 
Ein Einreiseverbot kann dann angeordnet werden, wenn eine Ausländerin ausgewiesen wurde, oder wenn sie "unerwünscht (ist) aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit". Amy Strahl wurde jedoch weder ausgewiesen, noch wurde ihr ein Verstoß gegen die öffentliche Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit vorgeworfen bzw. nachgewiesen. Den Grund dieser Ablehnung sieht Emy Strahl daher in ihren Veröffentlichungen über die Kurden in der Türkei, die sie in ihren Tweets und in ihren Artikeln online gestellt hat. Ihr Anwalt Salih Efe sieht die eingereichte Klage gegen das Einreiseverbot als einen Testfall, ob es der Justiz gelingt, sich Unabhängigkeit gegenüber den Behörden zu bewahren und die Ablehnung der Einreise als rechtswidrig zu werten.

Nachdem Mehmet Barasu – Investigativjournalist der Zeitung Taraf – in den vergangenen Monaten immer wieder vorübergehend in Polizeigewahrsam genommen wurde, ist er am 2. März 2015 verhaftet worden. Ihm wird Spionage und Gründung einer kriminellen Vereinigung vorgeworfen. Die Anklage gegen ihn bezieht sich auf eine Reihe von Artikeln aus dem Jahr 2010 für Taraf. 
Bekannt wurde Baransu durch seine Recherchen zu den mutmaßlichen Umsturzplänen des Militärs, die mit zum "Balyoz"-Prozess beigetragen haben. "Der sogenannte 'Balyoz'-Prozess wurde unter anderem durch Recherchen und Beweismittel von Baransu angestoßen und ging einem Vorwurf nach, nach dem die türkischen Streitkräfte das Ziel verfolgt hatten, die 2002/2003 amtierende Regierung der Türkei zu stürzen. Dabei handelte es sich um die erste Amtszeit der AKP-Regierung, die vom damaligen Ministerpräsidenten Abdullah Gül geführt wurde." (Taz 3.3.2015). Im Balyoz Prozess wurden im September 2012 von den 365 Angeklagten 331 schuldig gesprochen und zum Teil zu hohen bis lebenslangen Haftstrafen verurteilt.In der Türkei ist Baransu eine umstrittene Person, da im Zusammenhang mit dem angeblichen Putschversuch der Armeeoffiziere immer wieder behauptet wird, die Beweise seien konstruiert und das Höchste Gericht in der Türkei daher im Jahr 2014 neue Anhörungen zu den Verfahren angeordnet hat. 
Nun wird Baransu vorgeworfen, eine "kriminelle Vereinigung" gebildet zu haben. Zudem hätte er Dokumente, die "in- und ausländischen Interessen des Staates berühren", hergestellt, publiziert und zerstört (dji 4.3.2015). Dani Rodrik spricht im Zusammenhang mit Baransus Verhaftung von einer "sweet irony", da nun die Staatsanwalt wiederum versuche "to fabricate evidence".
PEN International sowie International Federation for Human Rights (FIDH) und führende türkische Journalisten verurteilen seine Verhaftung und fordern seine sofortige Freilassung. 

Frederike Geerdink  ist die einzige ausländische Journalistin, die in Diyarbakır lebt und über die dort lebende kurdische Bevölkerung schreibt. Am 6. Januar 2015 wurde sie von der  Anti-Terror-Einheit der Polizei festgenommen, verhört und im Anschluss wieder frei gelassen.  Es wurde jedoch Anklage gegen sie erhoben, sie verbreite Propaganda für die verbotene Arbeiterpartei Kurdistans PKK, was sie jedoch ganz entschieden von sich weist. 

Lous Fishman hat ein Statement verfasst, das hier übersetzt wiedergegeben wird:
 Türkçe versiyonu için linke tıklayın

Seit einiger Zeit geht der türkische Staat gezielt gegen unliebsame Medien vor und gegenwärtig besonders gegen ausländische Journalisten. Jetzt wurde Anklage gegen Frederike Geerdink erhoben, einer niederländischen Journalistin, die seit 2006 in der Türkei lebt. Ihr wird vorgeworfen, in einigen ihrer Schriften Propaganda für die verbotene Arbeiterpartei Kurdistans PKK zu verbreiten. Würde sie verurteilt, droht ihr eine Haftstrafe bis zu fünf Jahren.
Die Anklage gegen Frederike Geerdink geschieht in einer Zeit vermehrter Konflikte und zunehmender staatlicher Gewalt in der kurdischen Region im Südosten der Türkei, die sich insbesondere in den letzten sechs Monaten verschärft haben. Die Vorwürfe gegen Frederike Geerdink sollten daher im Zusammenhang mit dem Versuch gesehen werden, diejenigen Journalistinnen und Journalisten einzuschüchtern und zu reglementieren, die über den jahrzehntelangen Konflikt der Türkei mit dem kurdischen Bevölkerungsteil berichten und weniger mit dem gegenwärtigen Versuch der Regierung, jegliche Kritik an Präsident Recep Tayyip Erdoğan zu unterbinden.
Offensichtlich haben die Texte von Geerdink, die in internationalen und lokalen Medien wie The Independent oder al-Monitor erscheinen und ihr bekannter Blog Kurdish Matters sowie ihre Arbeiten für die türkische Online-Zeitung Diken die türkische Regierung zu diesem Schritt veranlasst, um der stetigen Herausforderung durch sie ein Ende zu setzen.
Dabei darf nicht unerwähnt bleiben, dass ihr Status als Ausländerin besonders mit dazu beigetragen hat, die Angelegenheit in die nationalen und internationalen Schlagzeilen zu bringen, während viele andere Geschichten fast unbemerkt bleiben, ebenso wie die lange Liste der inhaftierten kurdischen Journalisten. So wurden erst letzte Woche zwölf Studierende zu 20 Jahren Gefängnis verurteilt, weil sie kurdische politische Lieder sangen, während sie pro-kurdische Papiere auf dem Universitätscampus verteilten.
Und all das das geschieht zu einer Zeit, in der die türkische Regierung einerseits mit dem inhaftierten PKK-Führer Abdullah Öcalan um einen Friedensprozess verhandelt, als Versuch, die dreissig Jahre Gewalt in der südöstlichen Region mit über 40.000 Toten endlich zu beenden. Zum anderen hatte Erdogan jedoch im Anschluss an die Belagerung der kurdisch kontrollierten syrischen Stadt Kobani (Ain al-Arab) im September 2014 – die endlich wieder befreit wurde – klargestellt, dass die dortigen kurdischen YPG Kämpfer, mit ihren engen Beziehungen zur PKK, für ihn nicht besser als die ISIS Terroristen seien. Die Kurden haben diese Gleichsetzung – auch wenn die Türkei ISIS nicht offen unterstützt hat – deutlich als eine Demoralisierungskampagne in ihrem Kampf gegenüber ISIS verstanden und gewichtet.
Des Weiteren reagierten die Kurden in der Türkei sehr betroffen über die Doppelmoral in der jüngsten Vergangenheit, dass zum einen Djihadisten ungehindert die türkisch-syrische Grenze überqueren konnten, um sich ISIS anzuschliessen, zum anderen Proteste an der Grenze zu Kobani von der Türkischen Armee mit Tränengas zerstreut und diejenigen blockiert wurden, die die Grenze überqueren wollten, um gegen ISIS zu kämpfen. Auch ist nicht zu vergessen, dass während dieser Proteste Kader Ortakaya zu Tode kam, als zur Zerstreuung des Protestes mit scharfer Munition geschossen wurde.
Die Lage explodierte am 6./7. Oktober 2014, als Anhänger der überwiegend kurdischen HDP zur Unterstützung für Kobani aufgerufen hatten und dabei mit der Islamcı Hüda-Par zusammenstießen. Beide Seiten haben sich daraufhin gegenseitig die Schuld an dem Tod von fast 50 Menschen – darunter auch Kinder –  zugeschoben, die durch die gewalttätigen Auseinandersetzungen auf den Strassen, zum Teil aber auch gezielt getötet wurden. Bislang hat es weder eine Untersuchung zu den Todesfällen, noch zur Rolle des türkischen Staates bei diesen Auseinandersetzungen gegeben.
Als ob das alles noch nicht genug wäre, ab es weitere Auseinandersetzungen in der Stadt Cizre, ebenfalls mit mehreren Todesfolgen. So wurden im vergangenen Monat der 14jährige Umit Kurt und der 12jährige Nihat Kazanhan von den türkischen Sicherheitskräften erschossen. All dies hat zur Folge, dass die Debatte um den Friedensprozess äußerst angespannt ist und sich weiter verschärft hat. Zwar bestritt der türkische Premierminister Davoutoğlu vehement eine staatliche Beteiligung am Tod der Jugendlichen, doch es existiert ein Video, das diese Vorwürfe belegt.
Diese Realität erlebt und beschreibt die niederländische Journalistin Frederike Geerdink, die als einzige westliche Journalistin im kurdischen Gebiet wohnt und arbeitet. Über die staatlichen Vorwürfe schreibt sie in ihrem Blog: "No, I am not scared. The state cannot shut me up, not even if they prosecute me, throw me in jail or throw me out of the country." Es scheint jedoch, als seien ihre Recherchen und Reportagen für die Regierung so risikoreich, dass sie die möglichen diplomatischen Auswirkungen durch eine Anklage nicht fürchtet.
Gegenwärtig werden viele Menschen in der Türkei vor Gericht gezerrt, von der Schönheitskönigin bis hin zu Schülerinnen und Schülern und wegen ihrer Kritik an Präsident Recep Tayyip Erdoğan verurteilt. Bei der aktuellen Anklage gegen Geerdink geht es allerdings um etwas anderes, nämlich um die Tradition in der Türkei, Berichte über Gewaltanwendungen gegen die eigenen Bürger in den südostkurdischen Gebieten zu unterbinden und um die hegemoniale Kontrolle in diesen Gebieten aufrecht zu erhalten.
Und in dieser Angelegenheit gewinnen Recep Tayyip Erdoğan und seine AKP-Loyalisten sicherlich neue Freunde selbst unter seinen größten Gegnern, nämlich bei denjenigen, die bis heute die kurdische Agenda als greifbare Bedrohung für den Türkischen Staat ansehen.
Mit anderen Worten: Geerdinks scharfe Berichterstattung über das, was sie sieht, und darüber, wie sie es versteht wird als eine Bedrohung nicht nur von der gegenwärtigen Regierung angesehen, sondern auch von denjenigen in der Opposition, die in der Berichterstattung nichts anderes erkennen können, als eine PKK-Propaganda.
Der Stellenwert dieser Anklage ist deshalb so hoch, weil es keinen Zweifel darüber gibt, dass der "Fall" Frederike Geerdink als Testfall bezüglich zukünftiger Berichterstattungen internationaler Journalistinnen und Journalisten dienen soll.

* Dieser Artikel von Louis Fishman erschien am 6.2.2015 in der Online-Zeitung  Diken und in englischer Sprache. Er wurde ins Deutsche übersetzt mit einigen Änderungen versehen, um ihn sprachlich verständlich zu machen, CHH.





Watch - Schau hin! Der Jihad oder die Reise ins Paradies.

Entnommen - Street Art United Staates: Our 2014 top 20 photographs on facebook.




Ende November 2014 hielt ich in Bern einen Vortrag über "Self-exclusion of young migrants and participation in Jihad." Es ging um die Frage "Why do young migrants exclude themselves from European countries into which their families had immigrated and why they want to participate in Jihad." Denn nicht nur Erwachsene verlassen aus Überzeugung oder aus Abenteuerlust Europa, um nach Syrien oder anderswo in den Heiligen Krieg zu ziehen. Auch Jugendliche werden gezielt angeworben, die jüngsten unter ihnen zwischen 14 und 15 Jahren:


Twitt  A. J. Spang 23.8.2014


Islamophob sei ich, wurde mir von einigen jungen Muslimen vorgehalten. Der Vortrag sei "Propaganda gegen den Islam", so waren ihre Worte.
Aber es hat nichts mit Islamophobie zu tun, wenn wir hinschauen, berichten und analysieren, wie und wo versucht wird, Jugendliche für den Heiligen Krieg zu gewinnen. Auf Schulhöfen, in einigen Moscheen und Moscheevereinen oder über das Internet wird gezielt nach ihnen Ausschau gehalten, um in sie einzudringen und sie davon zu überzeugen, dass der Weg zum wirklichen, eigentlichen Glück im "Paradies" nur über den Heiligen Krieg auf Erden und das eigene Märtyrertum führt.


Tragen wir hier nicht eine Verantwortung? Denn welche Jugendlichen sind in dieser Altersphase bereits so gefestigt, dass sie zwischen Fremd-Verführung und reflektierter eigener Entscheidung differenzieren können? Erinnern wir uns: Haben wir uns im jugendlichen Alter nicht selbst auf der Suche nach der eigenen Identität träumend vielen Abenteuern hingegeben? Wie anziehend mag es da heute für einige sein, den ihnen so "hilfreich" angebotenen "realen" Abenteuern mit ihren paradiesischen Verlockungen einfach nachzugeben? Und so sitzen etliche von ihnen Abend für Abend – meist unbemerkt von ihren Eltern – am Rechner und verschwören sich gegen den Rest der Welt, bis sie eines Tages von zu Hause einfach verschwinden.
Islamophobe Fantasien oder Alltagsrealität?


Im Januar 2014 "reisten" zwei 15jährige französische Jungen nach Syrien, um dort im Heiligen Krieg zu kämpfen. Die Eltern hatten zwar Veränderungen bei ihnen bemerkt, aber niemals mit einem solchen Aufbruch gerechnet: "From the start of December my son was brainwashed online. There were exchanges on facebook, and he watched videos about the war in Syria. With his computer and his phone, he was on social media with his friend." Von zwei weiteren jungen französischen Männern aus Toulouse ist bekannt, dass sie nach Syrien zogen und dort getötet wurden, nicht ohne vorher bei YouTube ihre "Brüder" aufzufordern, sich ebenfalls dem Jihad anzuschliessen [veröffentlicht am 18. Januar 2014]. Und seither mehren sich die Medienberichte über junge Menschen aus fast allen europäischen Ländern, die in einer Nacht- und Nebelaktion aufbrechen und deren Spur sich dann einfach verliert; bis sie da und dort im Internet wieder auftauchen, völlig verändert, der "ungläubigen Welt" den Kampf ansagend oder strahlend ihr Selbstmordattentat ankündigen.


Einzelne verwirrte Kids oder gezielt angeworbene junge Menschen?
Wenn man im Netz herumstöbert, stösst man auf eine Propagandamaschinerie mit Aufrufen zum Heiligen Krieg, die einen erschaudern lässt. Soziale Netzwerke sind dabei ein besonders fruchtbarer Boden für diese Propaganda, denn das Spiel mit den modernen Kommunikationsmitteln beherrschen seine Propagandisten gut.
Wie schwer es ist, gegen die Inszenierungen des selbsternannten Islamischen Staates (IS) anzugehen, zeigt der aussichtslose Kampf von Twitter und YouTube, die ins Netz gestellten grausamen Videos über Tötungen, Kreuzigungen, Verstümmelungen, Enthauptungen und lebendige Verbrennungen der Opfer dieser "heiligen Krieger" wieder zu entfernen:

Twitt  E. J. Magnier  4.2.2015


Es ist ein Netzwerk von Protagonisten des IS entstanden, das von Außenstehenden noch immer kaum wahrgenommen wird, und von dem aus einzelne Jugendliche gezielt eingefangen werden. Einige von ihnen verfangen sich so unwiderruflich in diesem Netz, dass sie sich auf den Weg in ihren sicheren Tod begeben.
Anfang Februar 2015 veröffentlichte Der Spiegel eine Grafik mit ca. 500 "gewaltbereiten" Personen aus Deutschland und stellt deren Verbindungen untereinander vor. Grundlage der Auswertung sind offene, meist aber vertrauliche Quellen, so dass viele der Personen nur anonym dargestellt werden. Etliche sind aber auch namentlich bekannt.



Links: Bekannte Personen und ihr Vernetzungsgrad. 
Rechts: Davon im Jihad umgekommene Personen - rot. 
Interaktive Grafik Der Spiegel vom 3.2.2015


Die Verbindungen zwischen jeweils zwei Punkten in diesen Grafiken markieren die persönlichen Beziehungen dieser Personen. Je grösser ein "Punkte-Knäul", umso vernetzter ist die jeweilige Person. D.h. es existieren Netzwerke – die mittlerweile weltweit gespannt sind –  und in die einzelne Jugendliche bereits aus ihrem Lebensumfeld heraus integriert werden können; um dann nach ihrem eigenen Wunsch zum jeweiligen aktuellen Kriegsgeschehen weitergereicht und begleitet zu werden. Denn in Europa werden die Jugendlichen nicht gekidnappt, um sie in den Kampf zu schicken, so wie das in anderen Ländern geschieht. Hier werden Jugendliche gezielt gesucht und überzeugt, damit sie "aus eigenem Entschluss und Willen" in diesen Krieg ziehen.

Die roten Punkte der rechten Grafik markieren die Toten. Diese Personen sind bereits im Kampf umgekommen oder haben sich als Selbstmordattentäter in die Luft gesprengt. Wie viele von ihnen schon im jugendlichen Alter verstorben sind, können wir nur vermuten, nur wenige Namen sind offiziell bekannt. Aber wir wissen, wenn im Netz Bilder von einem bärtigen, langhaarigen toten "Kämpfer" auftauchen, mit dem Zusatz "al-Almani", dann ist wieder jemand umgekommen, der aus aus Deutschland kam. 


Twitt F. Flade 5.1.2015

So zum Beispiel Abu Jafaar al-Almani, von dem der Journalist Florian Flade annimmt, dass er in Kobane getötet wurde. Flade berichtet auf @FlorianFlade über Ausreisende und ihre Wege, was nicht einfach ist. Auch auch bei ihm steigt die Anzahl der Berichte über umgekommene junge Menschen aus Europa. Wichtigste Quelle ist für mich Erasmus monitor. Sein Wissen ist erstaunlich und seine Informationen sind recherchiert und überprüft und nicht einfach von anderen Medien übernommen. 

Die Ausreisen der Kampfwilligen sind gut organisiert. In zahlreichen Medien ist über die Schlepperrouten berichtet worden und darüber, wie die potentiellen Jihadisten sicher in die verschiedenen Kampfgebiete gebracht werden. In der Basler Zeitung vom 15.9.2014 beschreibt Tina Huber, wie man "für 25 Dollar über den Jihad-Highway" durch die Türkei nach Syrien kommt. Trotz heftiger Dementierung seitens der Türkei zweifelt heute niemand mehr an dem Bestehen dieser Routen, wie sie The Economist am 28.8.2014 unter dem Titel "It ain't half hot here, mum" beschrieben hat. Mit einem one-way Ticket zum Ataturk Airport nach Istanbul geht es weiter über den Landweg oder mit einem Inlandsflug – dem "Djihad-Express" – bis in die türkische Grenzregion nach Syrien. Weiter im Bus z.B. von Antakya im Südosten der Türkei nach Reyhanli, um dann über die Grenze in eines der Trainingslager der Jihadisten geschmuggelt zu werden. Diese Lager – auch "Schlachthäuser" genannt – dienen zur Vorbereitung der "ausländischen Kämpfer" auf die bevorstehenden und ihnen zugewiesenen Aufgaben: zu quälen, zu morden und zu töten, im Kampf gegen "falschgläubige" Muslime und Ungläubige – die "Kuffar".




The Economist 28.8.2014

Mit einem one-way Ticket zum Ataturk Airport nach Istanbul geht es weiter über den Landweg oder mit einem Inlandsflug – dem "Djihad-Express" – bis in die türkische Grenzregion nach Syrien. Weiter im Bus z.B. von Antakya im Südosten der Türkei nach Reyhanli, um dann über die Grenze in eines der Trainingslager der Jihadisten geschmuggelt zu werden. Diese Lager – auch "Schlachthäuser" genannt – dienen zur Vorbereitung der "ausländischen Kämpfer" auf die bevorstehenden und ihnen zugewiesenen Aufgaben: zu quälen, zu morden und zu töten, im Kampf gegen "falschgläubige" Muslime und Ungläubige – die "Kuffar". 


Das Bundesamt für Verfassungsschutz hat den kontinuierlichen Anstieg der über diese Wege nach Syrien Ausreisenden beobachtet. Im Jahr 2013 zählte es noch 60 Ausgereiste aus Deutschland. Ende 2013 waren es dann bereits viermal so viel, und im Frühjahr 2014 betrug die bekannte Zahl bereits cirka 320 nach Syrien ausgereiste Personen.


Die Washington Post informiert regelmässig über die weltweite Entwicklung der Jihad-Reisenden, aufgrund der Zahlen, die ihr vom englischen International Center for the Study of Radicalization and Political Violence (ISCR) zur Verfügung gestellt werden. Das Center schätzt die Zahl der ausländischen Kämpfer zu Beginn dieses Jahres bereits auf ca. 20.000 und in Deutschland auf ca. 600 ausgereiste Personen.

International Center for the Study of Radicalization and Political Violence (ICSR)

The Washington Post 27.1.2015.



Erstaunlich ist immer wieder, wie es gerade auch Jugendlichen gelungen ist, sich mit Erfolg auf einen solchen "Kriegspfad" zu begeben. Ohne grossartige Kontrollen konnten 14- und 15jährige aus Europa sich in der Vergangenheit bis nach Syrien durchschlagen. So berichtete Mailonline am 24.8.2014, wie einfach es sieben britische Jugendliche gelang, den Weg durch das "Tor zum Jihad" nach Syrien zu nehmen.


Doch das Reisen wird schwieriger. Die Türkei beginnt auf die anhaltende Kritik einer direkten und indirekten Unterstützung des IS zu reagieren. Oder sie wird sich langsam der entstandenen Bedrohung und Gefahr durch ihre laissez faire Politik gegenüber dem selbsternannten Islamischen Staat bewusst. Aber die Schlepper sind erfinderisch. Fast klingt es wie der Anfang eines Krimis von Agatha Christie, wenn der Chef von Interpol, Ronald Noble, im November 2014 von den neuen Reiserouten der Jihadisten berichtet, wie nämlich das Ziel Türkei nun unter Nutzung von Kreuzfahrtschiffen erreicht werde und die potentiellen ausländischen "Kämpfer" in Izmit oder in anderen türkischen Küstenstädten zusammen mit Gruppen von Urlaubsreisenden ankämen. Diese Schiffsreisen sind nicht nur eine Alternative zu den zunehmend unter Beobachtung stehenden Landwegen. Sie böten nach Noble ausserdem für die Einzelnen auch eine Möglichkeit, bei Bedarf an jedem Port einfach aussteigen, um unerkannt abzutauchen. Sicherlich eine faszinierende Vorstellung für jede Kriminalromanautorin, erschreckend jedoch in der Realität.



Erschreckend ist für mich aber auch, dass die Zahlen der Ausreisewilligen trotz grauenhafter Berichte aus den Kriegsgebieten, trotz Wintereinbruch und harten Lebensbedingungen, trotz Gräueltaten in Wort und Bild im Internet noch immer nicht ab- sondern weiterhin zunimmt. Es ist das Recht jedes einzelnen erwachsenen Menschen, sich für einen solchen kriegerischen Weg gegen den "Rest der Welt" zu entscheiden. Aber er oder sie trägt dann auch die volle Verantwortung für das eigene Handeln im "Kampf" und auch bei einer eventuellen Umkehr. Zu 12 Jahren Gefängnis wurde Imran Khawaja Anfang Februar 2015 in England verurteilt, ein Jihadist, der sich während seiner "Kampfeszeit" in Syrien u.a. mit Waffen und abgetrennten Köpfen im Internet hat abbilden lassen (BBC News vom 6.2.2015). Khawaja hat als erwachsene, volljährige Person heute die Konsequenzen aus seinem Handeln zu tragen.


Anders sieht es bei den Jugendlichen aus. Hier tragen nicht unbedingt sie und auch nicht nur die Eltern die Verantwortung. Hier hat auch der jeweilige Staat mit seinen eigens für Kinder und Jugendliche geschaffenen Institutionen eine Fürsorgepflicht. Und diese beginnt nicht erst dann, wenn das Kind in den Brunnen gefallen ist und einzelne Jugendliche sich bereits auf den Weg gemacht haben, und man hilflos versucht, ihnen am Flughafen eine Ein- oder Weiterreise zu verweigern. Diese Verantwortung beginnt weitaus früher. Und dieser Verantwortung gegenüber der jungen Generation können sich weder Pädagogen noch Theologen auf Dauer weiterhin entziehen. 


Islamophobie ist sicherlich ein ernstzunehmendes Thema in Deutschland. Das darf aber nicht dazu führen, Themen in der Auseinandersetzung um den Islam einfach auszuklammern, mit der Folge, dass Jugendliche - aus welchen Gründen auch immer – sich in ihr eigenes Verderben begeben.