Ich sitze in einer von Selçuks Stammkneipen in Istanbul, bin
mit ihm verabredet und warte. "Komme
gleich" lese ich auf Twitter.
"Komme gleich" kann bei Selçuk sehr Verschiedenes bedeuten und
ist abhängig davon, von wie weit entfernt er anreist. Kommt er aus z.B.
Antalya, dann stimmt das "Komme
gleich" meist mit der verabredeten Uhrzeit so ungefähr überein. Ist Selçuk
allerdings irgendwo in Istanbul und läuft gar quer durch Beyoğlu, dann kann das
"Komme gleich" Stunden
bedeuten, weil Selçuk manchmal einfach vergisst, was er eigentlich gerade
vorhat. Da wird dann eine Katze fotografiert oder es werden zwei, drei ... und
dann, ja, wenn da nicht so viele Buchläden und Antiquariate wären ...
Ich habe Selçuk bereits mehrmals getroffen. Fast jedesmal
stürmt er herein mit einem ent- oder unschuldigenden Lächeln und packt erst
einmal seine Tüten aus. Bücher. "Hier schau mal, das hab ich gefunden ...
und hier ein und das auch noch und ...".
Ja und nun sitze ich hier am Abend nach den Wahlen und warte
neugierig auf ihn und auf seine Kommentare zu diesem Ereignis ... Mal sehn. – Kommt! – Hach! Na denn ...
Fangen wir an mit der HDP, dem eigentlichen Sieger der Wahl.
Kurdische Parteien hatten es in der Vergangenheit doch immer mal wieder ins
Parlament geschafft. Mir kommt Leyla Zana in Erinnerung, wie sie als
eine der ersten kurdischen Abgeordneten im Jahr 1991 ihren Amtseid in
kurdischer Sprache ergänzte. War das damals eine Aufregung. Sprechen wir also erst einmal darüber, welche besondere Bedeutung dieser Einzug der HDP in das
Parlament hat.
Das eigentlich Besondere an der HDP ist die Wandlung der
Partei in ihrer Ausrichtung im letzten Jahr. Sie ist zwar aus der kurdischen
Bewegung entstanden und hat dadurch natürlich auch eine Nähe zur PKK. Sie ist aber
weit über diese Anfänge hinausgewachsen. Dadurch ist sie Öcalan und der PKK
entglitten und kann von dort aus nicht mehr so kontrolliert werden, wie dies in
der Vergangenheit mit den politischen kurdischen Gruppierungen der
Fall war.
Alle kurdischen Parteien, die seit den
neunziger Jahren entstanden sind – und die allerdings auch ebenso schnell wieder
verboten wurden – wurden immer von der PKK
kontrolliert. Sie waren der legale Arm der PKK, und sie sind auch als
ein solcher konzipiert worden. Aber Öcalan weiss heute sehr genau, dass er aus
dieser Illegalität heraus seinem Ziel nicht näher kommen kann. Daher war auch
für ihn die Gründung der HDP ein wichtiger und von ihm begrüsster Schritt.
Mit der HDP unter Demirtaş ist jetzt aber etwas Unvorhergesehenes geschehen. Er hat diese
Partei mit einem Anteil von 13,05 % der Stimmen mit 81 Sitzen ins türkische Parlament
gebracht. Das heisst, die HDP ist mit einem Sitz drittstärkste Kraft und mit einem Sitz vor der MHP im Parlament vertreten und hat dabei insgesamt
einen Zuwachs von über 100 Prozent zu verzeichnen.
Was hat Demirtaş anders gemacht, um
diesen sensationellen Erfolg für die HDP verbuchen zu können?
Erst einmal wurde
anlässlich der Wahlen im Jahr 2014 der Name der Partei Partiya Aştî û Demokrasiyê / Barış ve Demokrasi Partesi (BDP – zu deutsch: Partei des
Friedens und der Demokratie) in Halkların Demokratik Partisi (HDP –
zu deutsch: Demokratische Partei der Völker) umgewandelt.
Oder denken wir an die traditionellen
kurdischen Farben rot, gelb und grün und sehen uns das Logo der Partei an. Klar
sind diese Farben auch im Logo der Partei wieder zu finden. Aber sie wurden
ergänzt. Eine Sensation! Es wurde das Violett als die Farbe der Frauen aufgenommen.
Sie haben das Grün der Grünen Bewegung und das Rot der Linken Bewegung integriert.
Auch auf diese Weise weichen sie von ihrem kurdische Ursprung ab. Und diese
Öffnung, das ist die eigentliche Sensation, insbesondere, wenn man den
jahrzehntelangen Kurdenkonflikt dieses Landes vor Augen hat.
Sie dokumentieren damit ihre politische Vorstellung eines demokratischen
Politikansatzes mit dem Blick auf Diversity und dessen Anerkennung? Wie
peinlich ist da doch der Versuch noch in den letzten Tagen vor der Wahl sogar
in deren Logo ausschliesslich die PKK wiedererkennen zu wollen.
Ja, sie sind heute wirklich nicht mehr nur
kurdisch. Und das ist die eigentliche Sensation, wenn man den jahrzehntelangen
Kurdenkonflikt dieses Landes und die Kämpfe der Kurden vor Augen hat. Auch Demirtaş
und seine Leute haben aus der Geschichte gelernt. Sie wissen, dass mit der PKK zusammen
immer wieder eine unsichtbare Grenzlinie in Bezug auf die Kurdenfrage entsteht, die
nicht zu überwinden ist. Und genau das haben sie nun verändert. Und es hat
funktioniert. Es ist unglaublich, wenn man sich diese Wahlergebnisse ansieht. Nicht
nur im Osten des Landes, überall hat die HDP Stimmen bekommen, an der
Schwarzmeerküste und da leben ja keine Kurden, in dieser Region sind eher MHP-Wähler zu finden. Am Marmara, der Ägäis ... überall.
Daher irritierte mich auch diese Karte
erst einmal, weil sie die HDP ausschliesslich in den Osten des Landes verweist,
da sie keinen Einblick in die tatsächliche Verteilung der Wählerschaft im Lande
gibt. Aber sie zeigt etwas anderes Wichtiges, nämlich in welchen Provinzen die
angetreten Parteien den ersten Platz errungen haben. Und das ist bei der HDP wiederum eindeutig
im Osten des Landes.
Ja das stimmt.
Aber bei der genaueren Wahlanalyse bemerken wir, wie weit ins Land
hinein sich die HDP mittlerweile Anerkennung erworben hat und wieviele
Stammwähler anderer Parteien diesmal HDP gewählt haben. Mindestens
ein Viertel sind türkische Stimmen (Vatan 10.6.). Dabei sind auch Leihstimmen und das
verpflichtet die Partei in Bezug auf die Breite ihrer Themen.
Stimmt. Und es ist auch eine irrige Annahme, die
Wählerwanderung sei überwiegend von der AKP zur HDP hin gegangen, da die CHP
wenige Verluste habe, wie auf Twitter zu lesen war. Es hat insgesamt
Umschichtungen untereinander gegeben.
Ich kann diese Interpretation verstehen, auch wenn sie nicht der Realität entspricht. Denken wir zurück an die ersten Wahlerfolge der
AKP und die damalige Situation in Bezug auf die Kurdenfrage. Als die AKP an die Macht
kam, war alles total festgefahren und blockiert. Und ein großer Teil der Unterstützung der AKP kam damals von
Gruppierungen, die glaubten, nur so könne ein Friedensprozess mit den Kurden
vorangehen. Man hatte die Hoffnung, dass eine auf den ersten Blick
nicht-nationalistische sondern religiös ausgerichtete Partei hier Änderungen
herbeiführen könnte. Diesen Kredit für die AKP hat Erdoğan im Verlaufe der Zeit
aber sehr gründlich verspielt. Angetreten als muslimischer Demokrat wandelte er sich
dann ja zum allein herrschen wollenden Despoten, der die Friedensfrage mit dem
kurdischen Bevölkerungsteil immer nur taktisch behandelt hat.
Erdoğans Verhalten gegenüber den islamistischen
Widerstandsgruppen in Syrien, seine Unterstützungsaktionen, seine Hoffnung auf
den Fall von Kobané, das hat ihm im Osten das Landes – und nicht nur da – offensichtlich
niemand vergessen. Wäre es da nicht ein guter taktischer Schachzug für Erdoğan,
sich jetzt dafür einzusetzen, Öcalan aus dem Gefängnis zu entlassen, in der
Hoffnung, dass dann eine Konkurrenz dieser beiden führenden Köpfe der
kurdischen Bewegung das gerade erzieltes Ergebnis der HDP stören, wenn nicht gar
gefährden könnte?
Stimmt, ein solcher Machtkampf könnte Erdoğan gefallen. Und Öcalan
ist ja auch immer noch sehr wichtig. Aber er ist nicht mehr der wichtigste Führer der kurdischen
Bewegung. Und zwar auf seinen eigenen Wunsch hin. Er hat wohl verstanden, dass er
mit der PKK zusammen seine Grenze erreicht ist. Er weiss, der Freiheitskampf
der Kurden hat nur eine Chance, wenn er in die demokratische Bewegung des
Landes eingebunden ist, beziehungsweise dieser mithilft, sich neu zu bündeln.
Nur so kann die noch immer vorhandene Spaltung in der Kurdenfrage gemildert und
perspektivisch vielleicht sogar aufgehoben werden. Er weiss sehr genau, dass
kriegerische Auseinandersetzungen keine Erfolge mehr erzielen und der Frieden mittlerweile
ein allseitiger Wunsch ist. Und nur wenn die Kurden selbst eine nicht mehr zu
übersehende, politisch aktive Rolle spielen, können sie auch dieses Ziel durchsetzen.
Könnte Erdogan die beiden nicht doch irgendwie gegeneinander
ausspielen?
Ich denke nein. Beide Kurdenführer bewegen sich doch auf zwei
völlig verschiedenen Ebenen. Öcalan ist bereits heute eine anerkannte heroische
Figur für die kurdische Bevölkerung. Er hat sich in der Geschichte einen Platz
erworben, den er nicht mehr verspielen kann. Er muss daher heute auch kein
Parteivorsitzender mehr sein. Demirtaş hingegen ist Realpolitiker. In diesem
Sinne ist er nicht vergleichbar mit Öcalan. Und als Politiker ist er – andes
als Öcalan – sehr angreifbar, wenn sich nämlich seine Visionen nicht in die
gewünschten Erfolge für das Land – und ich sage bewusst für das Land – umwandeln. Nur wenn diese
beiden Führungspersönlichkeiten miteinander kooperieren, ohne sich dabei im
Wege zu stehen, kann der begonnene Weg zum Erfolg führen und sich die Bewegung sogar
weiter ausdehnen. Und das wissen sie beide.
Das Neue ist also zum Einen, dass die HDP nicht mehr von
der PKK kontrolliert wird, quasi als "ihr Eigentum" angesehen wird,
sondern Bewegung und Partei miteinander kooperieren müssen, wenn sie Erfolg
haben wollen. Hinzu kommt, dass die HDP durch den hohen Anteil an geliehenen
Stimmen verpflichtet ist, die demokratische Bewegung insgesamt voranzutreiben und kann
daher nicht ausschliesslich die kurdische Frage im Blick haben.
Ja und wenn das nicht gelingt, dann hätte die HDP alles
verspielt und das haben glaube ich beide –Öcalan und Demirtas – sehr gut verstanden.
Daher wird es auch nicht gelingen, einen Keil zwischen die beiden zu treiben.
Hinzu kommt noch etwas anderes. Die AKP hat diese Entwicklung m.E. völlig
überrumpelt. Mit dieser klaren Aussage durch das Wahl-Ergebnis wurde überhaupt nicht
gerechnet. Daher war auch ihre Strategie in der Wahlkampfzeit sehr einfach. Man
glaubte, es reiche aus, die HDP entweder zu ignorieren und sie im Wahlkampf zu
behindern, z.B. indem ihr in den öffentlichen Medien kaum Raum gegeben wurde.
Und es wurde versucht, sie sogar zu kriminalisieren, wie wir es eben an der
Umzeichnung des HDP-Logos gesehen haben. Auch das Ziel, die Partei als eine mit
zwei Gesichtern zu zeichnen, die sich zwar demokratisch nenne, jedoch die "Terroristen" in sich vereine,
hat nicht funktioniert.
Zu unterschätzen sind auch nicht die Ereignisse der letzten
Tage in Diyabakir. Ich denke, dieser
Anschlag auf die Wahlveranstaltung der HDP mit Toten und an die hundert
Verletzten hat noch einmal einen Ruck durch die Bevölkerung gehen lassen.
Insgesamt hat diese Partei große Akzeptanz im Land erreicht und wird in Zukunft
eine wichtige Rolle spielen. Aber wie kann denn dann eine Regierungsbildung nach diesen
Wahlergebnissen überhaupt aussehen? Welche Möglichkeiten siehst Du, und welche
werden in den Parteien diskutiert?
Sprechen wir als erstes über die Möglichkeit einer Minderheitsregierung durch die AKP. Ich
selbst sehe das zwar als nicht sehr wahrscheinlich an. Aber die AKP ist die stärkste
Partei und wird von Erdoğan zuerst mit der Regierungsbildung beauftragt. Neuwahlen
kommen für die AKP offensichtlich im Moment nicht in Frage, so der
Vizefraktionschef in seiner Rede nach
der Wahl und auch Vizepremier Bülent Arinç sagte vor Journalisten, man solle
die Türen nicht gleich zuschliessen. Und es gibt immer auch die Möglichkeit, einer Minderheitsregierung nicht mit direkter, sondern mit indirekter
Unterstützung zu etablieren. Die AKP ist reich. Somit hat sie immerhin auch
die Möglichkeit, einige Abgeordnete "zu
kaufen". Das ist nicht neu und wurde in den siebziger Jahren in der
türkischen Politik bereits praktiziert. Allerdings werden diesmal 18 Abgeordnete
benötigt. Diese zu finden ist m.E. nicht so einfach.
Warum nenne ich nun diese Möglichkeit einer Minderheitsregierung
als erstes? Erdoğan könnte seine Partei sogar einfach beauftragen, vorübergehend
eine Minderheitsregierung zu bilden. Das ist nach der Verfassung möglich. Neuwahlen
könnten dann unter Umständen so weit hinausgezögert werden, bis sich die Lage
aus seiner Sicht wieder gebessert hat. Dennoch sehe ich diese Lösung als
unwahrscheinlich an.
Mögliche Koalitionen sind für die AKP schwierig. Die MHP hat dies ganz klar
abgelehnt. Auch die HDP hat betont, sie werde nicht mit der AKP koalieren und
zwar in aller Deutlichkeit. Nur die CHP hat sich nicht ganz so klar
positioniert, sondern lediglich formuliert, eine Koalition sei "gegen die Natur der Dinge".
Hier könnte es eventuell Bewegung geben. Es sind nun anderthalb Monate Zeit, dieses Kunststück zu vollbringen und zu versuchen – mit welcher Partei
auch immer – eine gemeinsame Grundlage auszuhandeln.
Hinzu kommt ja noch, dass es den bisherigen Oppositionsparteien im
Moment vielleicht gar nicht so sehr um eine Regierungsbeteiligung zusammen mit
der AKP geht. Warum? Alle wissen um die wirtschaftlich schwierige Situation in
der Türkei, um die vielen Großprojekte, die auf Sand gebaut sind, und von denen
man annimmt, dass hier ein Crash bevorsteht. Hierfür soll die AKP noch die alleinige
Verantwortung übernehmen, so dass die anderen Parteien sich zum gegenwärtigen
Zeitpunkt vielleicht gar nicht so sehr gegen eine Minderheitsregierung durch
die AKP sträuben könnten.
Die Tolerierung einer Minderheitsregierung der AKP also, nicht
nur bis die gegenwärtige Wirtschaftskrise ins Bewusstsein der Öffentlichkeit
gedrungen ist, sondern bis auch die Korruptionsvorwürfe und anderes mehr neu aufgerollt
und dokumentiert sind? Dann hat man die AKP so in die Handlungsunfähigkeit
manövriert, dass die anderen Parteien das Ruder selbst und ohne die AKP in
die Hand nehmen können?
Ja, genau, das wird unter anderem auch diskutiert.
Aber wie könnte eine solche Regierung bei den gegenwärtigen
Konstellationen dann aussehen? MHP und HDP gehen nicht zusammen. Welche Rolle die
CHP spielen will, ist für mich undurchsichtig. Was wird in den Parteien
diskutiert?
Es gäbe mehrere Möglichkeiten, die gegenwärtig
diskutiert werden. Es könnte zum Beispiel eine CHP Minderheitsregierung geben
und zwar von MHP und HDP getragen.
Beide Parteien wären dann nicht in die Regierungsverantwortung gezwungen, da
sie ja nicht miteinander "können".
Aber die Zeit wird auch zeigen, ob beide Parteien bei dieser gegenseitigen
Ablehnung bleiben werden.
Gäbe es eine CHP Minderheitsregierung, würde CHP eine neue
Verfassung schreiben lassen. Das würde dann vieles verändern. Denn auch die CHP
hat sich in der Kurdenfrage gewandelt, und nicht jeder MHPler vertritt die
Auffassung, ein Friedensprozess solle verhindert werden. Es gibt überall
Realpolitiker. Aber was auf jeden Fall durch die Wahl schon jetzt gestoppt
wurde, das ist diese schleichende Islamisierung in der Türkei, und ich denke auch die
antieuropäische Stimmungsmache. Alle drei Parteien sind sich – aus völlig
verschiedenen Gründen – hierin einig.
Die Beschreibung einer schleichenden Islamisierung finde
ich sehr treffend.
Ja. Die Islamisierung der Türkei durch die AKP ist heute
bereits sehr eng verwoben mit dem Staatsapparat, der diese seit etlicher Zeit
mit Macht vorantreibt. Denken wir an die Veränderungen im Bildungssystem, im
Justizapparat usw.. Und da stellt sich in der Tat die Frage, wie das überhaupt
zu stoppen und zu verändern ist.
Die Islamisierung ist ja in Schritten erfolgt
und basierte zuerst auf der Idee, man könne Veränderung dadurch erreichen, dass
man einfach den "kemalistischen
Druck" entfernt, denn schliesslich sei die Türkei ja durch Atatürk
unter Zwang laizistisch geworden. Würde man die Armee entmachten und die
kemalistischen Ideen zurückdrängen – so dachte man – sei die Gesellschaft sehr
einfach zu islamisieren. Dieses Konzept hat jedoch – wie wir alle wissen
– nicht funktioniert.
Seit 2013 fing man dann an, Ge- und Verbote zu etablieren und
diese in Gesetze zu gießen. D.h. die Islamisierung des Landes wurde seiterh ganz
offensichtlich über die staatlichen Institutionen gelenkt. Ich denke, in der
Bevölkerung war hier die Schmerzgrenze erreicht. Auch das ist einer der Gründe für
dieses Wahlergebnis.
Und es kommt noch eine andere Entwicklung hinzu, die nicht
zurückzudrehen ist. Wir leben heute im Internetzeitalter. Das bedeutet, es gibt
eine Gleichzeitigkeit von Ideen, ihrer Umsetzung in Aktionen und ihrer
Bekanntgabe in der Öffentlichkeit, egal wo und wann gerade etwas in der Welt geschieht.
Was vor Jahrzehnten noch Jahre gedauert hat, bis etwas um den Globus gewandert
ist und öffentlich wurde, geschieht heute in Sekundenschnelle. Und es ist dann auch
nicht einfach wieder aus der Welt zu schaffen. D.h. Aktionen werden schneller
bekannt und sind besser organisierbar, aber auch das Wissen über
Ungerechtigkeiten, Gewalttätigkeiten über Korruption und Verbrechen ist nicht
mehr so leicht zu verschleiern und zu unterdrücken. Ich denke, in der Türkei
sind mittlerweile die Telekommunikationsmöglichkeiten ein ganz wichtiger
Faktor, wenn wir die noch immer vorhandenen strukturellen Unterschiede von
Westen nach Osten bedenken.
Ja, und beides – Tradition und Neuerung – haben mit
dazu beigetragen, dass die Islamisierung mit ihrer alten Form der Umsetzung an
ihre Grenze gestossen ist. Gezi war eine solche Zäsur und hat etwas zum
Umkippen gebracht. Gezi war wie eine Explosion des Unmutes, allerdings mit der
Folge eines zunehmend diktatorischen Verhaltens von Seiten Erdoğans und der AKP,
interessanterweise mit dem Versuch, die hier im Land starke Vernetzung des
Social Media Bereiches zu stoppen. Auch dies ist ja gescheitert, hat aber den
Stadtkatzen von Istanbul und anderswo im Lande zu ungewöhnlicher Popularität
verholfen.
Die AKP hat ihre Chance gehabt, und sie hat diese
verspielt und zwar gründlich? Tragisch eigentlich, wenn man sieht, mit welchem
Bonus sie einmal begonnen hat.
AKP wurde vor 12 Jahren mit großer Mehrheit gewählt,
weil man Veränderung wollte. Und im Anschluss hat sich in der Bevölkerung so etwas wie Gewohnheit eingeschlichen. Wir
finden das immer wieder. Veränderungen brauchen Zeit, man gibt ihnen diese
Zeit. Aber genug ist genug. An diesem Punkt sind wir heute wieder.
AKP wurde gewählt, um die Korruption der damals herrschenden
Parteien zu beenden. Nun bemerkte man, dass diese Korruptionsangelegenheiten im
Vergleich mit den heutigen Vorwürfen gegen die AKP äußerst gering waren. Hinzu
kommt die Enttäuschung, dass gerade eine muslimische Partei, die vorgibt
ehrlich zu sein und das Land in eine gute Zukunft führen zu wollen, immer
wieder Gegenteiliges bewiesen hat.
Auch wurde verstanden, dass lediglich ein Schein-Wohlstandsgefühl
entstanden ist. Es wurde die Illusion des Aufstiegs hin zu einer
Wirtschaftsmacht erzeugt. Denn durch Privatisierungen wurden staatlicherseits
zwar Gelder eingenommen und diese auch wieder ausgegeben. Doch im Grunde wurde
das Geld nicht nutzniessend für das Land eingesetzt, sondern verprasst, um die
eigenen Macht zu sichern. Und parallel hat man unter islamischen Vorzeichen
versucht, eine Despotie aufzubauen. Diese Handlungsweise rächt sich jetzt. Zwar
sind die Türken überwiegend Muslime, aber sie sind die pragmatischsten Muslime
in der Welt. Sie sind es gewohnt, Veränderungen anzunehmen und sich in
diese hineinzubegeben. Daher glaube ich, dass diese versuchte Islamisierung des
Landes jetzt ihr Ende hat, und die Türkei in kurzer Zeit wieder eine sichtbare
säkulare Ausrichtung vorweisen wird.
Mich interessiert noch, was diese Entwicklung für die
Gülenbewegung bedeutet, die in Deutschland sehr stark ist. Ursprünglich ist
sie ja selbst mit verantwortlich für diese Entwicklungen in der türkischen
Gesellschaft und wurde nur wegen ihres zu großen Machtzuwachses ein Problem für
Erdoğan.
Die Gülenbewegung wird in der Türkei keine große Rolle mehr spielen,
weil sie sehr geschwächt wurde. Aber sie wird auch wieder ihren Platz finden. Gülenisten
sind sehr westlich orientiert. Im Ausland sind sie die einzige global gut
organisierte Gruppierung, die auch international eine wichtige Rolle spielt. In
der Türkei selbst haben sie jedoch ihr Vertrauen verspielt. Ich denke nicht,
dass es ihnen noch einmal gelingt, wichtige Positionen im Staatsapparat zu erlangen.
Zu sehr sind sie verantwortlich in die Prozesse um Ergenekon und die Türkische
Armee verstrickt. Aber im Ausland werden sie weiterhin als wichtige Auslandiaspora eines
intellektuellen Islamismus respektiert sein.
Es gibt auch radikal islamistische Strömungen im Land. Die
Sympathien und die Unterstützung dieser Gruppen seitens der AKP sind bekannt
und dokumentiert. Im Irak und in Syrien wird gegenwärtig um die Etablierung
eines Islamischen Staates gekämpft. Im Grenzgebiet und nicht nur dort hat die
Türkei immer wieder Hilfestellung und Rückzugs möglichkeiten für diese Kämpfer
geboten. Denken wir an die jüngsten Enthüllungen zu den Waffenlieferungen nach
Syrien. Es ist von über tausend Schläfergruppierungen im Land die Rede. Birgt
das bisherige außenpolitische Verhalten der AKP-Regierung nicht die Gefahr,
dass mögliche Veränderungsprozesse im Inland von ISIS als Gefahr für sich
gesehen werden und mit neuen Angriffen seitens dieser Gruppierung zu rechnen
ist? Auch der Anschlag in Dijarbakır scheint ja auf
das Konto von ISIS zu gehen.
Das kann in der Tat ein Problem im Land werden. Die Türkei
hatte ja eine Tradition, sich allen Nahostländern gleichsam neutral gegenüber
zu verhalten. Aber auch diesen Bonus hat Erdoğan gründlich verspielt. Eine neue
Regierung muss sich völlig neu in der Außenpolitik positionieren. Es wird ein
schwieriger Prozess sein, im Ausland wieder Vertrauen aufzubauen und sich als
verlässlicher Partner zu erweisen. Denken wir nur an die durchlässige Grenze zu
Syrien, die es den Djihadisten erlaubt, unbekümmert hin und her zu reisen.
Hinzu kommt das Problem der Syrer im Land, denn hier hat sich ISIS zum Teil
auch unter die Flüchtlinge gemischt.
Wie dieses Problem zu lösen ist, kann ich mir kaum
vorstellen. Über 3 Millionen Syrer sind bereits im Land.
Man denkt hier an einen mehrstufigen Prozess. In einer
ersten Stufe geht es um die Ansiedlung der Syrer im Südosten, da kaum jemand
davon ausgeht, dass es bald Frieden in Syrien geben wird und eine Lösung für
die 3 Millionen Syrer gefunden werden muss. Sie würden dann einen
Flüchtlingsstatus erhalten und ist ihre Anwesenheit ist dann offiziell und erfasst.
Man erhofft sich dadurch künftig, über Türkischen Sicherheitskräfte und Geheimdienste
auch schlafende islamistisch-terroristische Zellen frühzeitig zu erkennen. Das
könnte in der Tat zu einer Bedrohung für ISIS werden. Sie könnten ihre Zellen hier im Inland
aktivieren. Damit ist zu rechnen, ebenso wie überall auf der Welt, jedoch ist
die Situation hier m.E. etwas bedrohlicher, aufgrund der wichtigen Rolle, die
die Türkei für diese Gruppierung bisher gespielt hat. Doch die CHP hat Erfahrung mit dem strukturellen Aufbau staatlicher Systeme, ich denke, das
könnten sie lösen. Auch hierzu haben wieder alle drei Parteien eine gemeinsame
Position, dass man dringend gegen ISIS vorgehen muss.
Ein weiterer Schritt wäre – auch als vertrauensbildende
Maßnahme in der Anti-ISIS-Koalition – die Syrische Grenze sicher zu schliessen.
Auch dies ist möglich, wenn man es will. USA und Europa würden die Türkei dabei
unterstützen, wenn dieser Keil – den AKP ja doch in die Anti-ISIS-Koalition
getrieben hat – nicht mehr existiert. Damit wäre die erste Stufe einer
Zurückdrängung von ISIS aus der Türkei erreicht. Vielleicht könnte sogar
eine Wende im Krieg gegen ISIS eingeleitet werden, wenn man bedenkt, dass die
Türkei nach den USA in der Nato die zweitgrösste Armee mit militärisch gut
ausgerüsteten Spezialeinheiten besitzt.
Das alles funktioniert aber nur, wenn es gelingt, die
Vetternwirtschaft der AKP zu beenden und die staatlichen Strukturen zu
reformieren und mit qualifizierten Leuten zu besetzen, egal, ob Kurden, Armenier,
Türken oder welcher Gruppierung diese jeweils angehören. Ich glaube, die nächsten
2 Jahre in der Türkei werden sehr spannend. Vielleicht wird es einen totalen
Wandel, gar einen Quantensprung geben.