"Wir geben nicht auf! Niemals! Wir befreien sie, unsere vom IS versklavten Frauen und Kinder!"

Aufregung am frühen Morgen in Duhok. Im Fernsehen, im Radio, in den Sozialen Medien - überall. In Windeseile verbreitet sich die Nachricht. "Sie haben 36 Personen befreit! Heute Nacht!" Wir Ausländerinnen verstehen diese Aufregung erst einmal überhaupt nicht. 36 Personen sind in Duhok eingetroffen, haben den Kriegshorror in Mosul hinter sich gelassen. Täglich haben wir solche Menschen gesehen, die es geschafft haben, dem Terror des Bombenhagels und den Kämpfen am Boden in und um Mosul irgendwie zu entkommen. Warum nun plötzlich überall diese strahlenden Gesichter? "Eine Familie ist zurück", erklärt Khalil, unser Begleiter. "Es war der dritte Versuch ihrer Befreiung. Heute Nacht hat es endlich geklappt." Nun verstehen auch wir. Es geht um etwas ganz anderes. Eine verschleppte Familie der Jesiden wurde dem IS wieder entrissen und aus ihrer Versklavung befreit!

Khalil vereinbart ein Treffen mit dem Leiter dieser Aktion. Später halten wir in der Innenstadt vor einem dunklen Gebäude, ringsum hell erleuchtete Hotels. Sicherheitskräfte begleiten uns hinein. Gähnende Leere überall. Lediglich drei Fenster im vierten Stock sind erleuchtet. Kameras auf der Terrasse. Ein Interview wird gegeben. Abbruch, als wir erscheinen. Ein Tisch wird gebracht, Stühle in der Runde aufgestellt. Wir nehmen Platz. Irgendwie merkwürdig alles. Doch dann klärt sich die Situation. Draussen im Dunkel, zwischen Sicherheitsdienst und Securityleuten treffen wir auf Hussein Qaidi, den Leiter des Büros für entführte und gerettete Jesiden in Duhok, der die heutige Befreiungsaktion persönlich geleitet hat. "Wir mussten uns sieben Kilometer in das IS Gebiet zu Fuss durchschlagen, bis wir die Familien in Empfang nehmen konnten", berichtet er, noch sichtlich mitgenommen und beeindruckt vom Erfolg der Aktion. "Das war heute Nacht um zwei Uhr. Um sechs sind wir dann wieder in Duhok angekommen. Wir haben es geschafft, dieses Mal, ALLE Personen sind gerettet! Fünf Frauen, 26 Kinder und fünf Männer haben wir befreit." 

Wir fragen nach dem Grund der ersten beide Abbrüche. War die Situation zu gefährlich? Es sei immer gefährlich, lebensgefährlich, eine solche Befreiungsaktion. Der letzte Abbruch hatte jedoch einen anderen Grund. Eine der Frauen war durch die Bombardierung der Flugzeuge schwer verletzt worden. Daher wurde alles abgeblasen und die Frau erst einmal versorgt. Sie wollten alle zusammen fliehen. Niemanden sollte verletzt allein zurückgelassen werden. Deshalb haben sie gewartet.

Wieder sind wir beeindruckt von den engen Bindungen und dem Zusammenhalt in der Familien. In den vergangenen Tagen haben wir mehrmals gehört, wie sie sich unterstützen. Eine Mutter, die zurückbleibt, damit auch ihre Tochter gerettet wird. Jungen und junge Männer, die versuchen, ihre Mütter zu befreien, todesmutig und ohne Angst. Und nun sind auch diese Verschleppten zurück, alle 36 zusammen. Das ist für Hussein Qaidi zunächst das Wichtigste. Und er fährt fort: "Bis heute haben wir über 3001 Personen gerettet. Weitere 2400 Frauen und Kindern sind noch in Gefangenschaft. Wir wollen sie alle retten! Wir geben nicht auf!" Immer wieder erstaunen mich die konkreten Angaben, gerade in einer so wirren Kriegssituation. Wie funktioniert der Informationsfluss? Woher weiss man so genau, um wieviele Frauen und Kinder es handelt und vor allem, dass diese noch leben?

"Es gibt natürlich auch Kontakte in den IS hinein. Wir wissen von mehr als der Hälfte der versklavten Frauen und Kinder, dass sie noch am Leben sind. Endgültig können wir das natürlich erst sagen, wenn das Gebiet wirklich vom IS befreit ist. Und wenn es uns gelungen ist, alle Massengräber ausfindig zu machen. Dass es Frauen und Kinder sind, ist eine der traurigen Wahrheiten, da in diesen Massengräbern überwiegend unsere Männer verscharrt sind. Die kurdische Regionalregierung hilft uns zu ihrer Identifizierung mit speziellen Geräten und stellt Personen zur Verfügung, die auf DNA-Untersuchungen spezialisiert sind. Bis zum heutigen Tag haben wir 30 Massengräber gefunden. Aber erst wenn alle Städte befreit sind, werden wir tatsächlich Gewissheit haben."

Er fährt fort: "Wir wissen, dass unsere Kinder, die zwischen 5 und 14 Jahre alt sind, in drei verschiedene Trainingslager gebracht wurden. Dort wurden ihre Namen und ihre Religion geändert. Die Mehrheit von ihnen weiss schon heute nicht mehr, wer sie wirklich sind, und wo sie herkommen.  Jeden Morgen und Abend werden sie religiös indoktriniert. Nach der religiösen Unterweisung werden die Kinder an den Waffen trainiert und auf Selbstmordattentate vorbereitet. Und sie erlernen alle perversen Tötungsarten und Grausamkeiten, wie der IS sie selbst verübt. So werden unsere Kinder zu Feinden ihrer Religion erzogen und zur Gefahr für ihre eigenen Familien."

Die intensive Gehirnwäsche wirkt schnell bei den Kindern, so dass sie die ‘islamische‘ Welt des IS bald als ihre eigene und das Leben im ‘Kalifat‘ als das einzig wahre ansehen. Gespräche mit befreiten Kindern zeigen, welch geballte Aggression in ihnen steckt, gepaart mit Verwirrung und Hilflosigkeit gegenüber einer Welt, die ihnen fremd geworden ist. Es wird Zeit und viel Geduld brauchen, bis sich diese jungen Menschen wieder in der Welt zurecht finden, der sie so brutal entrissen wurden. Ob es gelingt, dass sie zukünftig zu keiner Gefahr für die Gesellschaft und ihre eigenen Familien werden, hängt unter anderem davon ab, wie ihnen nach ihrer Rückkehr begegnet wird. Daran, welche Hilfe ihnen angeboten wird, damit sie sich aus dem manipulierten Denksystem wieder befreien können. Professionelle Unterstützung gibt es jedoch bisher kaum. Man ist in Duhok dringend auf Kooperation mit den ortsansässigen Hilfsorganisationen angewiesen, die aber angesichts der Massenfluchten aus den Kriegsregionen alle überfordert sind.

Die eigentliche Aufgabe von Hussein Qaidi ist die Planung und Durchführung von Befreiungen der versklavten Personen. Danach endet dann offiziell seine Hilfsaktion für die Familien. Doch alle wissen, dass es nicht damit getan ist, die Familien aus dem Dunkel des IS nach Duhok zurückzuholen. Und somit ist auch diese Rettungsaktion für ihn noch lange nicht beendet. "Wir haben dieses Hotel geschlossen und für die Befreiten reserviert. Sie erhalten hier erst einmal alles für ihren täglichen Bedarf. Wichtig ist, dass sie sofort neue Kleidung erhalten, als ein Symbol zum Abstreifen der Vergangenheit. Sie werden umgehend medizinisch und psychologisch betreut, denn es geht ihnen allen sehr schlecht. Ich selbst kontrolliere diesen Prozess, besuche sie zweimal täglich und bereite alles für ihre Zukunft vor. Wir können diese Hilfe aber nur für kurze Zeit leisten, dann müssen wir das an Hilfsorganisationen abgeben, damit diese weiter unterstützen."

Regionale oder nationalstaatliche Hilfen stehen nicht zur Verfügung, um die Befreiungsaktionen vorzubereiten und durchzuführen. Alle weiteren Befreiungsaktionen sind vom Willen, vom Mut und dem individuellen Einsatz Einzelner abhängig. Ist in manchen Fällen ein Freikauf möglich bzw. notwendig, müssen die Familien riesige Summen auftreiben, um ihre Verwandten auslösen zu können. Eine Vielzahl von ihnen scheitert daran. Auch die Regierung kann  und darf nicht helfen, würde sie bei der Beteiligung mit einem 'Freikauf' doch den IS finanzieren. Ist eine Befreiung jedoch geglückt, gibt es staatliche Hilfen, die beantragt werden können. "Wir bitten Euch", beendet Hussein Qaidi das Gespräch "bemüht Euch um unsere Aktionen. Wir brauchen die Unterstützung von überall auf der Welt. Stellt Euch vor, wir hatten eine der befreiten Frauen, die war zuvor dreissigmal weiterverkauft worden! Was das bedeutet, brauch ich Euch ja nicht näher zu erläutern. Für diese Menschen hier ist doch alles noch so viel schlimmer, als für diejenigen, die bereits einen Platz in den Camps gefunden haben. Allein schaffen wird das alles nicht mehr."

Hussein Qaidi sucht mit uns die Familien auf. Khalil klärt mit ihnen den ersten Bedarf und organisiert das Nötigste. Wir stehen stumm daneben. Hier 'Trost spenden' zu wollen, ist unmöglich. Zu groß sind die leidvollen Erfahrungen der befreiten Frauen und Kinder. Kaum ein Auge bleibt trocken in dieser Situation. Und da steht sie auf,  M., die im Zimmer auf dem Boden saß, um sie herum auf den Betten ihre schlafenden Kinder. Sie steht auf, geht auf mich zu und umarmt mich. Diesen Augenblick werde ich niemals vergessen! Die zu Tröstenden trösten uns, die wir hilflos vor ihnen stehen.


"Die Freiheit die ich meine ..." diese Freiheit ist für die Befreiten noch lange keine Realität. Zu eng sind sie noch in den Käfig des Erlebten gesperrt. Ob es gelingt, diesen wieder zu verlassen, hängt auch von unserer Hilfe ab, die wir ihnen zukommen lassen. Dazu gehört weit mehr, als den Bedarf für das tägliche Leben abzudecken.
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An dem Gespräch waren Khalil Qasim Bozani und Verena Rösner beteiligt. 

An Yazidi advocate helped quietly usher 1.100 ISIS survivors to Germany in an unprecedented asylum programm.

Liberated Yazidis. Between Hope, Fear and Sad Certainty


Khalil stops by the roadside near Sharya and turns off the engine. "We're waiting here. Someone is coming to pick us up." A car stops next to us. Somebody gets out. It is Idan Shekh Kalo, the director of the local Yazidi Affairs Authority in Dohuk. Khalil hugs him. They've known each other for years.

"Follow me," he asks, jumping into his car. We follow the dusty road, past the old village houses on the left and right, which are decorated with numerous white tents. Between them are goats and sheep, geese and chickens, an idyllic village; but appearances are deceiving. We are here in a camp. Camps are the places where those fleeing the Islamic State have found a temporary refuge. There are diverse kinds of camps; the official camps, which are fenced and guarded and with a camp management, the 'wild camps', and the 'abandoned villages'. 

We drive to one of the wild camps near an abandoned village. It lies on the edge of the mountains, very close to newer settlements. "Why are these houses called 'abandoned villages'?" I ask, "And why have these new buildings been built directly in front of them?" "This comes from the time of Saddam," Khalil says. "He told the villagers to leave their houses and resettle in the plains again; he was worried that the Peshmerga could hide well there, and because of the close proximity of the mountains, they would be able to flee to them quickly.  In the plains, the villages were more easily controlled by his people." Now, refugees live in these abandoned houses, trying to cope with the past, to the extent possible, and to find their way in the present. 

We have arrived. Idan Shekh Kalo jumps out of his car and tells us to get out too. There are three women sitting in front of the tent. They stand up. The usual greeting "ser sera u ser cava." "We want to see how you are doing," explains Khalil. "And we have the mattresses that you needed."

These are people from several families who live here together. Some are liberated, other relatives remain captives of IS. Some of them are known to still be alive. They are in contact with some of them. Others are known to be dead or resold, so there is no contact anymore. Khalil is concerned with "the liberated girl." She is on his list, and he has a lot in his pickup truck for her. He is shocked when he sees her. "I did not believe it was her," he admits. "She looks like a married elderly woman with children, but it is her, she is the girl S." S. remains silent and stares fixatedly in front of her. Two other women speak for her. She was in captivity for almost two and a half years, from August 2014 to February 2017; a dramatic captivity. We forgo any further questions, to avoid reopening wounds. Three more relatives from her family are still held by IS. She was the only one from eleven people who could be saved. "She is mentally ill and receives care" explains Idan Shekh Kalo. He does not need to explain this to us; if there is a person who exudes despair, grief, or trauma, then it is S.

"He still has 23 people there," he continues, "father, brother, daughter and son, but also other relatives." He? We look around. A man has joined, a boy by the hand. "We need some money to get them out, but it's very difficult. My son is ‘for sale’, but we would need $15,000 to buy him out. The government does not help us; even the many aid organizations do not. Almost all of them have disappeared again, because all this has been going on for so long. If there are no quick successes, they all leave again quickly. We must find the money ourselves somehow; the government will not give us anything. In that case they would also be paying to finance IS. It is impossible, $15,000, where could we get that from?” He sighs. Idan Shekh Kalo explains, "Support is available only for liberated people; for them, you get the money back. However, you have to explain everything very specifically, to the agents and everything, like how they were liberated; it is lot of bureaucracy, which is not easy for them. "We have to help because they only get the purchase money back and a little for clothes, nothing else."

We ask how to contact the relatives, and later contacting IS works, in order to bring back the abducted ones. "It depends. They have taken everything away from them. Some of them still have a phone number in their minds when they have a chance to find a phone, then call and try to get in touch with the family. That is why we have occasional contact with Raqqa. Or why we know that a daughter was sold to the Saudis .... "
"But if someone is bought back, it will never be disclosed openly," he continues. "They have been liberated, it is said". 


We ask whether the liberation action of the 36 people on the night of April 29th was a fortunate coincidence, that so many could be liberated at once so close to the battlefield around Mosul. "No," is the answer; "it was a very dangerous and secret action that had been worked on for a very long time, and if they had been caught, they would have received the death penalty. Or, bombs could have fallen close by. If you were confused with the enemy, they would have opened fire; there were mines everywhere as well. No, it was not a coincidence tonight, but rather a happy outcome of a planned action through previous long-term contact with the intermediaries."


As always, when curious strangers pass by, we are surrounded by many children who look at us attentively. We also wanted to know whether these children were liberated. "Him here" answers the father "he has been one of our agents." We look at the boy in disbelief. He is maybe around 10 years old. He was six years old when he was captured, we were told. His luck was his good knowledge of cell phone use. Therefore, he did not need to go to the children's training camp, but rather to 'sell'. His father takes his mobile phone out of his pocket and shows us videos. Two timid children are talking something into the camera. These are 'online sales listings'. Little children begging to be 'bought'. The boy had to perform this 'job'. He is in one video himself. In another is his little brother. Through these videos, his father knew that his son was still alive and also that his little daughter was sold abroad.

We are disgusted. We are horrified. We are speechless. Tears run everywhere. We carefully finish the conversation. Thank you, thank you so much, to all who told us their stories! We know it is not easy, but we must ask in order to tell others about what happened, so that perhaps somewhere people will hear, people who are willing to help to ensure that there are more successful liberations.

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Khalil Qasim Bozani and Verena Rösner took part in this conversation.

An Yazidi advocate helped quietly usher 1.000 ISIS survivors to Germany in an unprecedented asylum program.



Befreite Jesiden. Zwischen Hoffnung, Angst und trauriger Gewissheit

Khalil stoppt am Strassenrand von Sharya und schaltet den Motor aus. "Wir warten hier. Jemand holt uns."  Ein Auto hält neben uns. Jemand steigt aus. Es ist Idan Shekh Kalo, der Leiter der lokalen Behörde für yezidische Angelegenheiten in Duhok. Khalil umarmt ihn. Die beiden kennen sich seit Jahren.
"Fahrt mir nach" bittet er uns und springt in seinen Wagen. Wir folgen über die staubige Strasse, links und rechts an den alten Dorfhäusern vorbei, an die wie angeklebt zahlreiche weisse Zelte gelehnt sind. Zwischendurch überall Ziegen und Schafe, Gänse und Hühner, eine Dorfidylle. Doch der Schein trügt. Wir sind hier in einem 'Camp'. Camps sind hier die Orte, in denen vom IS Geflüchtete eine vorläufige Bleibe gefunden haben. Es gibt verschiedene Arten von Camps. Die offiziellen Camps, eingezäunt, bewacht und mit einer Lagerleitung, die 'wilden Camps' und die 'verlassenen Dörfer'.

Wir fahren zu einem der wilden Lager in der Nähe eines verlassenen Dorfes. Es liegt am Rande der ... Berge, ganz in der Nähe von neueren Siedlungen. "Warum heissen diese Häuser 'verlassene Dörfer'" frage ich "und warum sind direkt vor ihnen diese Neubauten entstanden?" "Das ist noch aus der Zeit von Saddam" erklärt Khalil "er hat die Dörfler damals angewiesen, ihre Häuser zu verlassen und sich weiter in der Ebene neu anzusiedeln. Er hatte Sorge, dass die Peshmerga sich dort gut verstecken und durch die Nähe der Berge in diese auch schneller wieder fliehen konnten. In der Ebene waren die Dörfer von seinen Leuten besser kontrollierbar."  In diesen verlassenen Häusern wohnen nun die Geflüchteten und versuchen, so gut es geht, mit der Vergangenheit zurechtzukommen und sich im Heute zurechtzufinden.

Wir sind angekommen. ... springt aus seinem Wagen und deutet uns an, ebenfalls auszusteigen. Vor Zelt sitzen im Schatten drei Frauen. Sie stehen auf. Die übliche Begrüssung "ser sera u ser cava." 
"Wir wollen gucken, wie es Euch geht" erklärt Khalil. "Und wir haben die Matratzen dabei, die Euch noch fehlen. "

Es sind Leute aus mehreren Familien, die hier zusammen wohnen. Einige sind befreit, andere Angehörige sind noch vom IS verschleppt. Von einigen wissen sie, dass sie noch leben. Zu einigen haben sie Kontakt. Von anderen wissen sie, dass sie tot sind oder weiter verkauft wurden, so dass kein Kontakt mehr besteht.  Khalil geht es um "das befreite Mädchen." Sie steht auf seiner Liste, und für sie hat er einiges auf seinem Kleinlaster. Er ist schockiert als er sie sieht. "Ich hab' erst nicht geglaubt, dass sie es ist" gibt er zu. "Sie sieht aus wie eine verheiratete ältere Frau mit Kindern. Aber sie ist es. Sie ist das Mädchen S." S. bleibt stumm und blickt starr vor sich hin. Die beiden anderen Frauen reden für sie. Fast zwei und ein halbes Jahr war sie in Gefangenschaft. Von August 2014 bis Februar 2017. Eine Gefangenschaft, die dramatisch war. Wir verzichten auf weitere Fragen, die doch nur die Wunden wieder aufreissen. Drei weitere Personen aus ihrer Familien sind noch immer beim IS. Sie selbst konnte von elf Personen als einzige gerettet werden. "Sie ist psychisch krank und erhält Betreuung" erkärt uns Idan Shekh Kalo. Das braucht er uns eigentlich nicht zu erklären. Wenn jemand Verzweiflung, Trauer oder Trauma ausstrahlt, dann ist es S.

"Er hat noch 23 Leute dort" berichtet er weiter, "Vater, Bruder, Tochter und Sohn, aber auch weitere Verwandte." Er? Wir blicken uns um. Ein Mann ist hinzugekommen, einen Jungen an der Hand. "Wir brauchen irgendwie Geld, um sie herauszubekommen. Aber es ist sehr schwierig. Mein Sohn ist 'zu verkaufen', aber wir bauchen 15.000 Dollar, um ihn rauskaufen zu können. Die Regierung hilft uns da nicht. Und auch die vielen Hilfsorganisationen nicht. Sie sind fast alle wieder verschwunden, nachdem sich hier alles so lange hinzieht. Sind keine schnellen Erfolge da, sind alle auch bald wieder weg. Wir müssen das Geld selbst finden. Irgendwie. Die Regierung gibt uns nichts. Sie würde dann ja auch den IS bezahlen und finanzieren. Das ist nicht möglich, 15.000 Dollar, wo sollen wir die her nehmen."  Er seufzt.  Idan Shekh Kalo erklärt "Unterstützung gibt es nur für befreite Personen, für sie bekommt man das Geld zurück. Aber man muss alles genau erklären, die Vermittler und alles, sagen wie sie befreit wurde, viele Bürokratie erledigen, das ist nicht einfach für die Menschen. Wir müssen da helfen, denn sie bekommen nur das Kaufgeld zurück und ein bißchen für Kleidung, sonst nix."

Wir fragen, wie der Kontakt zu den Angehörigen und später der Kontakt zum IS zustande kommt, um die Verschleppten zurück zu holen. "Das ist ganz verschieden. Ihnen ist ja alles weggenommen. Manche haben noch eine Telefonnummer im Kopf, wenn sie eine Chance haben, ein Telefon zu finden, dann rufen sie an und versuchen Kontakt zu der Familie zu bekommen. Daher haben wir zum Teil Kontakte nach Raqqa. Oder wir wissen, dass eine Tochter an Saudis weiterverkauft wurde ... ."


"Aber wenn jemand zurück gekauft wird, das wird niemals offen bekannt gegeben" erklärt er weiter. "Sie sind befreit worden, heisst es. Mehr sagen wir nicht." Wir fragen nach, ob die Befreiungsaktion der 36 Personen in der Nacht des 29. April ein glücklicher Zufall gewesen ist, da so viele so nahe direkt am Kampfgebiet um Mosul auf einmal befreit werden konnten. "Nein" ist die Antwort, "das war eine sehr gefährliche und geheime Aktion, an der sehr lange gearbeitet worden ist. Wären sie erwischt worden, wäre für sie die Todesstrafe sicher gewesen. Oder es hätten Bomben in der Nähe fallen können. Da man über die Kampflinien muss, hätte man mit dem Feind verwechselt werden können und dann wäre das Feuer eröffnet worden. Und dort gibt es Minen, überall. Nein, das war kein Zufall heute Nacht, sondern eine glücklich verlaufene und geplante Aktion mit vorherigen langen Kontakten zu den Vermittlern."

Wie immer, wenn wieder mal neugierige Fremde vorbei kommen, sind wir mittlerweile von vielen Kindern umringt, die uns aufmerksam betrachten. Ob auch diese Kinder befreit wurden, wollten wir wissen. "Er hier" antwortet der Vater "er hier ist einer unserer Vermittler gewesen." Ungläubig schauen wir auf den Jungen. Er mag ungefähr 10 Jahre alt sein. Sechs Jahre war er alt, erfahren wir, als er gefangen genommen wurde. Sein Glück waren seine guten Mobilphone Kenntnisse. Daher brauchte er nicht ins Kindertrainingslager, sondern er musste ‘verkaufen‘. Der Vater holt sein Handy aus der Tasche und zeigt uns Videos. Zwei schüchterne Kinder, die etwas in die Kamera hinein sprechen. Es sind 'Online-Verkaufsanzeigen'. Kleine Kinder, die darum betteln, 'gekauft' zu werden. Diesen 'Job' musste der Junge ausführen. Ein Video ist er selbst. Das andere ist sein kleiner Bruder. Daher weiss der Vater auch, dass er noch lebt und dass seine kleine Tochter ins Ausland weiterverkauft wurde.

Wir sind entgeistert. Wir sind entsetzt. Wir sind sprachlos. Tränen laufen überall. Vorsichtig beenden wir das Gespräch. Danke, danke, an alle, die uns ihre Geschichten erzählen! Wir wissen, dass das nicht einfach ist. Aber wir müssen nachfragen, um es weitererzählen zu können, damit es vielleicht irgendwo Menschen hören, die bereit sind, mitzuhelfen, dass es weitere geglückte Befreiungen gibt.

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An dem Gespräch waren Khalil Qasim Bozani und Verena Rösner beteiligt. 

An Yazidi advocate helped quietly usher 1.100 ISIS survivors to Germany in an unprecedented asylum programm.










Kurdische Akademiker Tagung: Schafft die Republik sich ab?

Grund- und Freiheitsrechte auf dem Prüfstand. Wohin driftet die Türkei? (1)


Herzlichen Dank für die Einladung zum heutigen Tag, die ich gerne angenommen habe. Eingeladen wurde ich wohl stellvertretend für alle diejenigen Akademikerinnen und Akademiker in Deutschland, die das Geschehen in der Türkei aufmerksam und erschrocken betrachten und mit Sorge fragen, ob die Bevölkerung im Land nicht mittlerweile so tief gespalten ist, dass eine friedliche Lösung der gegenwärtigen Konflikte kaum noch möglich ist. 


I.
Als ich mich mit den Veranstalterinnen vor Monaten absprach, zu welchem Thema ich mir Gedanken machen sollte, ging es noch um die Frage, ob sich die Grund- und Freiheitsrechte in der Türkei auf dem Prüfstand befänden. Heute müssen wir konstatieren, dass sich das Thema wohl überholt hat. In der Türkei sind seither Veränderungen mit einer solchen Geschwindigkeit im Gang, die einem zum Teil den Atem rauben und einem die Worte zur Bewertung des Ganzen immer öfter im Halse stecken bleiben. Denn heute geht es m.E. nicht mehr um ein Nachdenken darüber, ob die Republik sich abschaffen will. Heute geht nur noch darum, ob es dieser Republik wirklich gelingt, sich selbst abzuschaffen.

Da soll ein Jemand per Gesetzesänderung unbegrenzte uneingeschränkte Macht erlangen und die Freiheit erhalten – aber auch die Befugnis – ohne Kontrollinstanz die Geschicke eines Landes innen- und außenpolitisch zu lenken. Über eine solche Änderung der bestehenden Verfassung stimmte die Mehrheit des Parlaments der Türkei in den letzten Tagen ab. Hierzu wird sicherlich gleich Konkreteres berichtet. Wichtig ist jedenfalls, dass das Parlament beschloss, es einem Volksentscheid zu überlassen, ob es sich selbst abschaffen und die Macht in die Hände einer einzigen Person legen soll. 

Im Allgemeinen werden Volksentscheide als ein demokratisches Mittel zur Willensbekundung der Bevölkerung angesehen. Nach Umfragen in der Türkei sind es gegenwärtig jedoch 78% der Bevölkerung, die überhaupt nicht wissen, mit welchen Konsequenzen eine solche Entscheidung verbunden ist, und welche Auswirkungen diese Verfassungs-Veränderung für das Zusammenleben im Lande hätte. D.h. ein solcher Volksentscheid kann gegenwärtig gar keine Willensbekundung der Bevölkerung sein. Im Gegenteil. Mit der Befürwortung dieses Gesamtpakets an Gesetzesänderungen würde dem Volk seine Souveränität ohne vorherige Aufklärung einfach entwendet und in die Hände nur einer Person gelegt. „Vertraut uns, stimmt mit ja - EVET - und alles wird gut“ so ungefähr können wir uns die jetzige Aufklärungskampagne staatlicherseits vorstellen, „wählt den starken Mann, er wird sich dann schon um euch kümmern und hört auf, euch Gedanken und Sorgen zu machen.“

Hinzu kommt das mittlerweile bekannte Spiel mit der Angst. Denn wird Aufklärung öffentlich betrieben, um Argumente auch für ein „HAYIR“, ein Nein zu benennen, dann werde man schon wissen, so Sedat Peker sinngemäss, wie dies zu unterbinden sei. Und die Ausführungen dieses Mannes, das hat die Vergangenheit gezeigt, sind absolut ernst zu nehmen.

II.
Wir haben uns heute aber nicht als interessierte Privatpersonen versammelt, sondern als Akademikerinnen und Akademiker, die einen Diskurs darüber führen wollen, ob diese Türkei als Republik sich gegenwärtig abschafft, und wie sich dazu zu positionieren ist.

Es gilt, die Grund- und Freiheitsrechte in der Gesellschaft zu bewahren. Ja, natürlich. Immer und überall. Aber um welche Rechte, um welche Freiheit geht es denn da überhaupt noch? Hat sich diese Frage aus der Sicht der Machthabenden nicht schon längst beantwortet, ja sogar erledigt? Oder vielleicht doch noch nicht? Was ist zu tun? Jetzt, heute, morgen und in der nahen Zukunft?

Gestatten Sie mir dazu einen kurzen Rückblick. 

Vor einem Jahr erreichte mich am frühen Morgen ein Hilferuf aus der Universität Kocaeli. Kolleginnen und Kollegen würden verhaftet. Sie hatten den mittlerweile weltweit bekannten Friedensaufruf initiiert und verbreitet, in dem für eine friedliche Lösung des kurdischen Konfliktes eingetreten und dafür geworben wird. Sie erinnern sich sicher, eine Welle weltweiter Empörung unter den Akademikerinnen und Akademikern war die Folge. Allein die vom Kollegen Cağlar und mir verfasste Erklärung zur Unterstützung dieses Aufrufes und zur Entkriminalisierung der Verfasserinnen und Verfasser durch die Akademikerschaft an den deutschen Hochschulen haben über 6.000 Personen unterzeichnet. Und das ist nicht der einzige Aufruf, der in Deutschland verfasst wurde. (2)
In anderen europäischen Ländern geschah das Gleiche. Und nicht nur dort.
Keiner von uns hat sich damals vorstellen können, mit welcher Geschwindigkeit die Situation im Lande weiter eskalieren würde.

Diese Entwicklung hat sich aber m.E. nicht erst zu Beginn des letzten Jahres abgezeichnet, als massiv versucht wurde, die Geschehnisse im Osten des Landes zu legitimieren und/oder zu verheimlichen und Andersdenkende zu „Vaterlandsverrätern“ oder gar zu „Terrorsympathisanten“ abzustempeln. Auch der gescheiterte Putschversuch Mitte letzten Jahres  ist m.E. nicht die wirkliche Ursache der gegenwärtigen Entwicklung. Es ist eher die Sorge um einen möglichen Machtverlust der gegenwärtig Regierenden und die Anstrengung, sich die weiterhin Macht auf Dauer zu sichern, koste es was es wolle.

Und diese Sorge begann, wie im Vorspann zum diesjährigen Fachtag von den Veranstalterinnen beschrieben, mit einem ganz konkreten Ereignis am 7. Juni im Jahr 2015. Ein Tag, den ich in Istanbul erlebt habe:
An diesem Sonntag lag über dem Stadtteil Tarlabaşı eine angespannte Ruhe. 
Wenige waren auf den Straßen. Etliche Autos am Rande. Das wars.
Dann zeichnete sich das Ergebnis der Wahl ab. Von einer Sekunde zur anderen begann der gesamte Stadtteil zu beben. Ein Trillern, ein Klatschen, ein Rufen und Schreien, Autohupen, Autokorsos, plötzlich kurdische Fahnen überall. Und alle strömten um die Ecke in Richtung HDP Büro.  Das hat nicht aufgehört in dieser Nacht, das Singen und Tanzen, das Hupen … Dieser kaputte, vergessene Stadtteil Istanbuls hatte sich in Sekundenschnelle in ein kunterbuntes Etwas verwandelt. 
Frauen in ihren schönsten Gewändern, Männer mit Fahnen und lautem Hupen und überall  Musik. Tanz die ganze Nacht hindurch, es war unbeschreiblich.

Und genau das gab m.E. den Anlass zur Sorge. 
84 % der Bevölkerung hatten gewählt.
Nur 40,87 % stimmten für die AKP.
Und 13,12 % stimmten für die HDP.
Das war eine Revolution. Das hatte niemand erwartet. 
Und das wurde in der Nacht nicht nur in Tarlabaşı gefeiert. 
Friedlich, freundlich, offen und glücklich.

Und heute? 

Vor ein paar Wochen, am Abend des 31.12. mit dem Flughafenbus ankommend, 
da war Tarlabaşı für mich mit Gittern abgesperrt. Ein Durchkommen war nur Einzeln möglich, mit vorheriger Ausweiskontrolle. 17.000 Polizisten waren an diesem Abend im Einsatz, rund um Taksim und Istiklal. Geholfen hat es nicht, das geplante Attentat zu verhindern. Es war dann eben nicht auf Istiklal, sondern fand in Reina statt. 

Warum erzähle ich das?
Diese beiden Ereignisse symbolisieren für mich den Anfang und den jetzigen Ist-Zustand als eine Art Zeitschiene dieses Prozesses, den wir alle beobachten konnten, und der eben nicht erst seit dem gescheiterten Putschversuch seinen Lauf nahm.  Im Grunde hat er genau mit dem Juni 2015 seinen Anfang genommen. Und es ist überhaupt nicht absehbar, ob die Chance noch besteht, dass sich in naher Zukunft wieder etwas zum Guten wenden könnte.

D.h. nicht der Putschversuch, nein, die Wahl im Juni 2015 UND wie dann in der Folgezeit mit der HDP von ALLEN anderen Parteien umgegangen wurde, um jeweils die eigene Macht zu stabilisieren und perspektivisch nicht wieder zu verlieren. Das ist für mich der eigentliche Wendepunkt. Und dabei habe ich nicht nur das Verhalten der Regierungspartei und ihr Anhängsel – die MHP – im Blick.
Seitdem ist vermehrt zu beobachten, wie allein aus dem Machterhaltungs-Grund die Grund- und Freiheitsrechte im Land Zug um Zug so stark und so bedrohlich eingeschränkt werden, dass sich Opposition dagegen kaum noch regen kann, bzw. sofort als illegal unterbunden wird. Da muss man auch gar nicht erst in den Osten des Landes fahren – falls man da überhaupt noch hingelassen wird – um die Stimmung zu spüren, die sich seit dieser Wahl Zug um Zug wie ein Teppich über das gesamte Land gelegt hat. Besorgnis, Vorsicht und ängstliche Stille. 

III.
Lassen Sie uns diese Entwicklung einmal aus der Perspektive unseres Berufsstandes betrachten. Welche Aufgabe haben Wissenschaften, haben unsere jeweiligen Fachdisziplinen in der Gesellschaft? Und insbesondere in einer solchen Situation, in der sich die Türkei gegenwärtig befindet? 

Jeder Berufsstand hat seine eigene Kultur, sein ethisches Korsett. Und das gilt für unsere Wissenschaftscommunity ebenfalls und zwar weltweit. Dazu gehört, dass  Wissenschaft im Dienste des Menschen steht und dass sie nicht im Dienste des Staates zu stehen hat. In diesem festgelegten und nicht hinterfragbaren Rahmen bewegen sich die Aufgabenstellungen in unserer jeweiligen Fach-Disziplin. 
Nicht nur in Deutschland, sondern in den Ländern der westlichen Welt ist dabei grundlegender Konsens, dass „Wissenschaftler … in Staat und Gesellschaft die Aufgabe (haben), Wissen und Erkenntnis zu mehren und zu vermitteln sowie Kraft ihrer Expertise Legislative, Exekutive und Jurisdiktion zu beraten.“ 
Für Deutschland ist das beim Deutschen Hochschulverband nachzulesen. 
Dort heißt es weiter: „Wissenschaftler sind zur Unparteilichkeit verpflichtet. .., 
Wissenschaft ist weisungsfrei. Und: Ihre Unparteilichkeit steht unter grundrechtlichem Schutz.“ 

Es ist nach unseren Wissenschaftsstandards daher nicht nur Aufgabe, sondern sogar unsere Pflicht, bei gesellschaftlichen Konflikten nach friedlichen Lösungen zu suchen und die Politik auf diese hinzuweisen. Akademikerinnen und Akademiker aus diesem Grunde zu diskriminieren, ja sogar zu verfolgen ist untragbar und widerspricht drüber hinaus ihrem grundrechtlich verbrieften Auftrag. Unsere Empörung in der westlichen Welt über den Umgang mit jenen Akademikerinnen und Akademikern ist berechtigt. Und eigentlich brauchen wir das überhaupt nicht gesondert zu begründen. 

Dass dies für alle anderen gesellschaftlichen Gruppen und Individuen ebenfalls gilt, ist selbstverständlich und gehört mit in den Kontext unserer Analysen. Eine Gesellschaft, in der das eigenständige Denken zunehmend verboten wird und man versucht, die Bevölkerung in parteipolitisch und/oder religiös Vorgedachtes hineinzuzwängen, um diese umzuformen, begibt sich in Gefahr der Indoktrinierung. Denn entwickelt sich dieses parteipolitisch Vorgedachte zu einem geschlossenen System, entsteht auf Dauer ein Druck in der Bevölkerung, der zu einem explosionsartigen Ausbruch kommen kann. 
Das hat uns die Geschichte doch zur Genüge bewiesen.

Und Druck durch Angst in Schach halten zu wollen, in der Hoffnung, dadurch entstandene Spannungen abfangen und deckeln zu können, um eine Entladung zu verhindern, hat meines Wissens noch nirgendwo funktioniert und wird auch in der Türkei nicht funktionieren. 
Man täte also gut daran, Dialoge nicht zu kappen, sondern im Gegenteil, von der vorhandenen Vielfalt zu profitieren, anstatt diese zu verbieten. Doch das geschieht ja mit aller Macht.

„Wir haben den Zeitpunkt verpasst, als man das Rad noch hätte zurückdrehen können“, bekomme ich bei meinen Besuchen in der Türkei zu hören. „Die Opposition ist zu schwach, zu uneinig, und wir schaffen es nicht, gemeinsam an einem Strang zu ziehen.“ Dann macht sich wieder diese Resignation breit und die Diskussion verstummt. 

Ist der Riss, ist die Spaltung in der Gesellschaft wirklich so tief, dass durch die Unterbindung der Meinungs- und Informationsfreiheit das Denken in Richtung auf eine positive Zukunft verunmöglicht wird?

Hat die berechtigten Angst, durch die aktuellen Etikettierungen als „Gülensympathisant“ oder „PKK-Sympathisant“ in die Terroristenecke gestellt zu werden zur Folge, das eigene Handeln zu lähmen? Denn wer in diesem „Kampf um das Böse“, dem „Kampf gegen den Terror“ selbst zum Terroristen wird, das haben wir bemerkt, ist weniger durch reale Tatsachen, als durch politisch inszenierte Meinungen bestimmt. Hinzu kommt, dass „Terrorismus“ ein schwammiger und undefinierter Begriff ist, unter den alles passt. Paart man ihn mit dem Begriff des „Verdachtes“ ist es mit der Freiheit vieler nicht mehr weit her, wie wir es in den letzten Wochen und Monaten leider erfahren haben.

Was das für die einzelnen Personen und ihre Familien bedeutet, können wir uns hier in Deutschland kaum ausmalen, obwohl bereits die Beschreibungen der Zustände einen täglich erschaudern lassen. Denn es geht ja staatlicherseits gar nicht (mehr) darum, mögliche Bedrohungen ausfindig zu machen und zu unterbinden. Es gilt vielmehr, Angst zu schüren und Widerstand schon im Keim zu ersticken. Jede könnte die Nächste sein, an deren Tür in der Nacht geklopft wird, und die Erfahrungen erleben muss, wie sie Aslı Erdogan in ihren letzten Berichten über ihre Verhaftung und ihren Gefängnisaufenthalt beschrieben hat. Die Angst der Regierung, das Vorgenommene doch nicht zu schaffen, muss sehr groß sein, wenn sie als Folge glaubt, derartig agieren müssen. 




IV.
Ist also gegenwärtig nur Resignation angesagt? 
Ich denke nein. Die Geschichte zeigt, dass Menschen immer dann besondere Stärke beweisen, wenn ihr Grundrecht auf die Freiheit im Denken und Handeln durch Machtmissbrauch vom Staat eingeschränkt zu werden droht. Aber wir alle wissen auch, es braucht großen Mut und breite Unterstützung, solche Wege öffentlich zu bestreiten. Damals wie heute. Gerade wenn der Wind einem ins Gesicht bläst und nicht zu erkennen ist, ob dieser dabei ist, sich zum Sturm oder gar zum Orkan zu entwickeln. Doch seien wir ehrlich. Der Wind um die Grund- und Freiheitsrechte in der Türkei hat sich bereits zum Sturm entwickelt und wir haben Grund zur Sorge, dass dieser wie ein Orkan über das Land hinwegfegt und dabei noch mehr Zerstörung und Vernichtung hinter sich lässt. Diesen Prozess aufzuhalten ist m.E. unser aller Pflicht, jede und jeder an seinem Ort.

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1) 28. Januar 2017
2) Aufruf und Presseberichte: