Aufregung am frühen Morgen in Duhok. Im Fernsehen, im Radio, in den Sozialen Medien - überall. In Windeseile verbreitet sich die Nachricht. "Sie haben 36 Personen befreit! Heute Nacht!" Wir Ausländerinnen verstehen diese Aufregung erst einmal überhaupt nicht. 36 Personen sind in Duhok eingetroffen, haben den Kriegshorror in Mosul hinter sich gelassen. Täglich haben wir solche Menschen gesehen, die es geschafft haben, dem Terror des Bombenhagels und den Kämpfen am Boden in und um Mosul irgendwie zu entkommen. Warum nun plötzlich überall diese strahlenden Gesichter? "Eine Familie ist zurück", erklärt Khalil, unser Begleiter. "Es war der dritte Versuch ihrer Befreiung. Heute Nacht hat es endlich geklappt." Nun verstehen auch wir. Es geht um etwas ganz anderes. Eine verschleppte Familie der Jesiden wurde dem IS wieder entrissen und aus ihrer Versklavung befreit!
Khalil vereinbart ein Treffen mit dem Leiter dieser Aktion. Später halten wir in der Innenstadt vor einem dunklen Gebäude, ringsum hell erleuchtete Hotels. Sicherheitskräfte begleiten uns hinein. Gähnende Leere überall. Lediglich drei Fenster im vierten Stock sind erleuchtet. Kameras auf der Terrasse. Ein Interview wird gegeben. Abbruch, als wir erscheinen. Ein Tisch wird gebracht, Stühle in der Runde aufgestellt. Wir nehmen Platz. Irgendwie merkwürdig alles. Doch dann klärt sich die Situation. Draussen im Dunkel, zwischen Sicherheitsdienst und Securityleuten treffen wir auf Hussein Qaidi, den Leiter des Büros für entführte und gerettete Jesiden in Duhok, der die heutige Befreiungsaktion persönlich geleitet hat. "Wir mussten uns sieben Kilometer in das IS Gebiet zu Fuss durchschlagen, bis wir die Familien in Empfang nehmen konnten", berichtet er, noch sichtlich mitgenommen und beeindruckt vom Erfolg der Aktion. "Das war heute Nacht um zwei Uhr. Um sechs sind wir dann wieder in Duhok angekommen. Wir haben es geschafft, dieses Mal, ALLE Personen sind gerettet! Fünf Frauen, 26 Kinder und fünf Männer haben wir befreit."
Wir fragen nach dem Grund der ersten beide Abbrüche. War die Situation zu gefährlich? Es sei immer gefährlich, lebensgefährlich, eine solche Befreiungsaktion. Der letzte Abbruch hatte jedoch einen anderen Grund. Eine der Frauen war durch die Bombardierung der Flugzeuge schwer verletzt worden. Daher wurde alles abgeblasen und die Frau erst einmal versorgt. Sie wollten alle zusammen fliehen. Niemanden sollte verletzt allein zurückgelassen werden. Deshalb haben sie gewartet.
Wieder sind wir beeindruckt von den engen Bindungen und dem Zusammenhalt in der Familien. In den vergangenen Tagen haben wir mehrmals gehört, wie sie sich unterstützen. Eine Mutter, die zurückbleibt, damit auch ihre Tochter gerettet wird. Jungen und junge Männer, die versuchen, ihre Mütter zu befreien, todesmutig und ohne Angst. Und nun sind auch diese Verschleppten zurück, alle 36 zusammen. Das ist für Hussein Qaidi zunächst das Wichtigste. Und er fährt fort: "Bis heute haben wir über 3001 Personen gerettet. Weitere 2400 Frauen und Kindern sind noch in Gefangenschaft. Wir wollen sie alle retten! Wir geben nicht auf!" Immer wieder erstaunen mich die konkreten Angaben, gerade in einer so wirren Kriegssituation. Wie funktioniert der Informationsfluss? Woher weiss man so genau, um wieviele Frauen und Kinder es handelt und vor allem, dass diese noch leben?
"Es gibt natürlich auch Kontakte in den IS hinein. Wir wissen von mehr als der Hälfte der versklavten Frauen und Kinder, dass sie noch am Leben sind. Endgültig können wir das natürlich erst sagen, wenn das Gebiet wirklich vom IS befreit ist. Und wenn es uns gelungen ist, alle Massengräber ausfindig zu machen. Dass es Frauen und Kinder sind, ist eine der traurigen Wahrheiten, da in diesen Massengräbern überwiegend unsere Männer verscharrt sind. Die kurdische Regionalregierung hilft uns zu ihrer Identifizierung mit speziellen Geräten und stellt Personen zur Verfügung, die auf DNA-Untersuchungen spezialisiert sind. Bis zum heutigen Tag haben wir 30 Massengräber gefunden. Aber erst wenn alle Städte befreit sind, werden wir tatsächlich Gewissheit haben."
Er fährt fort: "Wir wissen, dass unsere Kinder, die zwischen 5 und 14 Jahre alt sind, in drei verschiedene Trainingslager gebracht wurden. Dort wurden ihre Namen und ihre Religion geändert. Die Mehrheit von ihnen weiss schon heute nicht mehr, wer sie wirklich sind, und wo sie herkommen. Jeden Morgen und Abend werden sie religiös indoktriniert. Nach der religiösen Unterweisung werden die Kinder an den Waffen trainiert und auf Selbstmordattentate vorbereitet. Und sie erlernen alle perversen Tötungsarten und Grausamkeiten, wie der IS sie selbst verübt. So werden unsere Kinder zu Feinden ihrer Religion erzogen und zur Gefahr für ihre eigenen Familien."
Die intensive Gehirnwäsche wirkt schnell bei den Kindern, so dass sie die ‘islamische‘ Welt des IS bald als ihre eigene und das Leben im ‘Kalifat‘ als das einzig wahre ansehen. Gespräche mit befreiten Kindern zeigen, welch geballte Aggression in ihnen steckt, gepaart mit Verwirrung und Hilflosigkeit gegenüber einer Welt, die ihnen fremd geworden ist. Es wird Zeit und viel Geduld brauchen, bis sich diese jungen Menschen wieder in der Welt zurecht finden, der sie so brutal entrissen wurden. Ob es gelingt, dass sie zukünftig zu keiner Gefahr für die Gesellschaft und ihre eigenen Familien werden, hängt unter anderem davon ab, wie ihnen nach ihrer Rückkehr begegnet wird. Daran, welche Hilfe ihnen angeboten wird, damit sie sich aus dem manipulierten Denksystem wieder befreien können. Professionelle Unterstützung gibt es jedoch bisher kaum. Man ist in Duhok dringend auf Kooperation mit den ortsansässigen Hilfsorganisationen angewiesen, die aber angesichts der Massenfluchten aus den Kriegsregionen alle überfordert sind.
Die eigentliche Aufgabe von Hussein Qaidi ist die Planung und Durchführung von Befreiungen der versklavten Personen. Danach endet dann offiziell seine Hilfsaktion für die Familien. Doch alle wissen, dass es nicht damit getan ist, die Familien aus dem Dunkel des IS nach Duhok zurückzuholen. Und somit ist auch diese Rettungsaktion für ihn noch lange nicht beendet. "Wir haben dieses Hotel geschlossen und für die Befreiten reserviert. Sie erhalten hier erst einmal alles für ihren täglichen Bedarf. Wichtig ist, dass sie sofort neue Kleidung erhalten, als ein Symbol zum Abstreifen der Vergangenheit. Sie werden umgehend medizinisch und psychologisch betreut, denn es geht ihnen allen sehr schlecht. Ich selbst kontrolliere diesen Prozess, besuche sie zweimal täglich und bereite alles für ihre Zukunft vor. Wir können diese Hilfe aber nur für kurze Zeit leisten, dann müssen wir das an Hilfsorganisationen abgeben, damit diese weiter unterstützen."
Regionale oder nationalstaatliche Hilfen stehen nicht zur Verfügung, um die Befreiungsaktionen vorzubereiten und durchzuführen. Alle weiteren Befreiungsaktionen sind vom Willen, vom Mut und dem individuellen Einsatz Einzelner abhängig. Ist in manchen Fällen ein Freikauf möglich bzw. notwendig, müssen die Familien riesige Summen auftreiben, um ihre Verwandten auslösen zu können. Eine Vielzahl von ihnen scheitert daran. Auch die Regierung kann und darf nicht helfen, würde sie bei der Beteiligung mit einem 'Freikauf' doch den IS finanzieren. Ist eine Befreiung jedoch geglückt, gibt es staatliche Hilfen, die beantragt werden können. "Wir bitten Euch", beendet Hussein Qaidi das Gespräch "bemüht Euch um unsere Aktionen. Wir brauchen die Unterstützung von überall auf der Welt. Stellt Euch vor, wir hatten eine der befreiten Frauen, die war zuvor dreissigmal weiterverkauft worden! Was das bedeutet, brauch ich Euch ja nicht näher zu erläutern. Für diese Menschen hier ist doch alles noch so viel schlimmer, als für diejenigen, die bereits einen Platz in den Camps gefunden haben. Allein schaffen wird das alles nicht mehr."
Hussein Qaidi sucht mit uns die Familien auf. Khalil klärt mit ihnen den ersten Bedarf und organisiert das Nötigste. Wir stehen stumm daneben. Hier 'Trost spenden' zu wollen, ist unmöglich. Zu groß sind die leidvollen Erfahrungen der befreiten Frauen und Kinder. Kaum ein Auge bleibt trocken in dieser Situation. Und da steht sie auf, M., die im Zimmer auf dem Boden saß, um sie herum auf den Betten ihre schlafenden Kinder. Sie steht auf, geht auf mich zu und umarmt mich. Diesen Augenblick werde ich niemals vergessen! Die zu Tröstenden trösten uns, die wir hilflos vor ihnen stehen.
"Die Freiheit die ich meine ..." diese Freiheit ist für die Befreiten noch lange keine Realität. Zu eng sind sie noch in den Käfig des Erlebten gesperrt. Ob es gelingt, diesen wieder zu verlassen, hängt auch von unserer Hilfe ab, die wir ihnen zukommen lassen. Dazu gehört weit mehr, als den Bedarf für das tägliche Leben abzudecken.
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An dem Gespräch waren Khalil Qasim Bozani und Verena Rösner beteiligt.
An Yazidi advocate helped quietly usher 1.100 ISIS survivors to Germany in an unprecedented asylum programm.