Befreite Jesiden. Zwischen Hoffnung, Angst und trauriger Gewissheit

Khalil stoppt am Strassenrand von Sharya und schaltet den Motor aus. "Wir warten hier. Jemand holt uns."  Ein Auto hält neben uns. Jemand steigt aus. Es ist Idan Shekh Kalo, der Leiter der lokalen Behörde für yezidische Angelegenheiten in Duhok. Khalil umarmt ihn. Die beiden kennen sich seit Jahren.
"Fahrt mir nach" bittet er uns und springt in seinen Wagen. Wir folgen über die staubige Strasse, links und rechts an den alten Dorfhäusern vorbei, an die wie angeklebt zahlreiche weisse Zelte gelehnt sind. Zwischendurch überall Ziegen und Schafe, Gänse und Hühner, eine Dorfidylle. Doch der Schein trügt. Wir sind hier in einem 'Camp'. Camps sind hier die Orte, in denen vom IS Geflüchtete eine vorläufige Bleibe gefunden haben. Es gibt verschiedene Arten von Camps. Die offiziellen Camps, eingezäunt, bewacht und mit einer Lagerleitung, die 'wilden Camps' und die 'verlassenen Dörfer'.

Wir fahren zu einem der wilden Lager in der Nähe eines verlassenen Dorfes. Es liegt am Rande der ... Berge, ganz in der Nähe von neueren Siedlungen. "Warum heissen diese Häuser 'verlassene Dörfer'" frage ich "und warum sind direkt vor ihnen diese Neubauten entstanden?" "Das ist noch aus der Zeit von Saddam" erklärt Khalil "er hat die Dörfler damals angewiesen, ihre Häuser zu verlassen und sich weiter in der Ebene neu anzusiedeln. Er hatte Sorge, dass die Peshmerga sich dort gut verstecken und durch die Nähe der Berge in diese auch schneller wieder fliehen konnten. In der Ebene waren die Dörfer von seinen Leuten besser kontrollierbar."  In diesen verlassenen Häusern wohnen nun die Geflüchteten und versuchen, so gut es geht, mit der Vergangenheit zurechtzukommen und sich im Heute zurechtzufinden.

Wir sind angekommen. ... springt aus seinem Wagen und deutet uns an, ebenfalls auszusteigen. Vor Zelt sitzen im Schatten drei Frauen. Sie stehen auf. Die übliche Begrüssung "ser sera u ser cava." 
"Wir wollen gucken, wie es Euch geht" erklärt Khalil. "Und wir haben die Matratzen dabei, die Euch noch fehlen. "

Es sind Leute aus mehreren Familien, die hier zusammen wohnen. Einige sind befreit, andere Angehörige sind noch vom IS verschleppt. Von einigen wissen sie, dass sie noch leben. Zu einigen haben sie Kontakt. Von anderen wissen sie, dass sie tot sind oder weiter verkauft wurden, so dass kein Kontakt mehr besteht.  Khalil geht es um "das befreite Mädchen." Sie steht auf seiner Liste, und für sie hat er einiges auf seinem Kleinlaster. Er ist schockiert als er sie sieht. "Ich hab' erst nicht geglaubt, dass sie es ist" gibt er zu. "Sie sieht aus wie eine verheiratete ältere Frau mit Kindern. Aber sie ist es. Sie ist das Mädchen S." S. bleibt stumm und blickt starr vor sich hin. Die beiden anderen Frauen reden für sie. Fast zwei und ein halbes Jahr war sie in Gefangenschaft. Von August 2014 bis Februar 2017. Eine Gefangenschaft, die dramatisch war. Wir verzichten auf weitere Fragen, die doch nur die Wunden wieder aufreissen. Drei weitere Personen aus ihrer Familien sind noch immer beim IS. Sie selbst konnte von elf Personen als einzige gerettet werden. "Sie ist psychisch krank und erhält Betreuung" erkärt uns Idan Shekh Kalo. Das braucht er uns eigentlich nicht zu erklären. Wenn jemand Verzweiflung, Trauer oder Trauma ausstrahlt, dann ist es S.

"Er hat noch 23 Leute dort" berichtet er weiter, "Vater, Bruder, Tochter und Sohn, aber auch weitere Verwandte." Er? Wir blicken uns um. Ein Mann ist hinzugekommen, einen Jungen an der Hand. "Wir brauchen irgendwie Geld, um sie herauszubekommen. Aber es ist sehr schwierig. Mein Sohn ist 'zu verkaufen', aber wir bauchen 15.000 Dollar, um ihn rauskaufen zu können. Die Regierung hilft uns da nicht. Und auch die vielen Hilfsorganisationen nicht. Sie sind fast alle wieder verschwunden, nachdem sich hier alles so lange hinzieht. Sind keine schnellen Erfolge da, sind alle auch bald wieder weg. Wir müssen das Geld selbst finden. Irgendwie. Die Regierung gibt uns nichts. Sie würde dann ja auch den IS bezahlen und finanzieren. Das ist nicht möglich, 15.000 Dollar, wo sollen wir die her nehmen."  Er seufzt.  Idan Shekh Kalo erklärt "Unterstützung gibt es nur für befreite Personen, für sie bekommt man das Geld zurück. Aber man muss alles genau erklären, die Vermittler und alles, sagen wie sie befreit wurde, viele Bürokratie erledigen, das ist nicht einfach für die Menschen. Wir müssen da helfen, denn sie bekommen nur das Kaufgeld zurück und ein bißchen für Kleidung, sonst nix."

Wir fragen, wie der Kontakt zu den Angehörigen und später der Kontakt zum IS zustande kommt, um die Verschleppten zurück zu holen. "Das ist ganz verschieden. Ihnen ist ja alles weggenommen. Manche haben noch eine Telefonnummer im Kopf, wenn sie eine Chance haben, ein Telefon zu finden, dann rufen sie an und versuchen Kontakt zu der Familie zu bekommen. Daher haben wir zum Teil Kontakte nach Raqqa. Oder wir wissen, dass eine Tochter an Saudis weiterverkauft wurde ... ."


"Aber wenn jemand zurück gekauft wird, das wird niemals offen bekannt gegeben" erklärt er weiter. "Sie sind befreit worden, heisst es. Mehr sagen wir nicht." Wir fragen nach, ob die Befreiungsaktion der 36 Personen in der Nacht des 29. April ein glücklicher Zufall gewesen ist, da so viele so nahe direkt am Kampfgebiet um Mosul auf einmal befreit werden konnten. "Nein" ist die Antwort, "das war eine sehr gefährliche und geheime Aktion, an der sehr lange gearbeitet worden ist. Wären sie erwischt worden, wäre für sie die Todesstrafe sicher gewesen. Oder es hätten Bomben in der Nähe fallen können. Da man über die Kampflinien muss, hätte man mit dem Feind verwechselt werden können und dann wäre das Feuer eröffnet worden. Und dort gibt es Minen, überall. Nein, das war kein Zufall heute Nacht, sondern eine glücklich verlaufene und geplante Aktion mit vorherigen langen Kontakten zu den Vermittlern."

Wie immer, wenn wieder mal neugierige Fremde vorbei kommen, sind wir mittlerweile von vielen Kindern umringt, die uns aufmerksam betrachten. Ob auch diese Kinder befreit wurden, wollten wir wissen. "Er hier" antwortet der Vater "er hier ist einer unserer Vermittler gewesen." Ungläubig schauen wir auf den Jungen. Er mag ungefähr 10 Jahre alt sein. Sechs Jahre war er alt, erfahren wir, als er gefangen genommen wurde. Sein Glück waren seine guten Mobilphone Kenntnisse. Daher brauchte er nicht ins Kindertrainingslager, sondern er musste ‘verkaufen‘. Der Vater holt sein Handy aus der Tasche und zeigt uns Videos. Zwei schüchterne Kinder, die etwas in die Kamera hinein sprechen. Es sind 'Online-Verkaufsanzeigen'. Kleine Kinder, die darum betteln, 'gekauft' zu werden. Diesen 'Job' musste der Junge ausführen. Ein Video ist er selbst. Das andere ist sein kleiner Bruder. Daher weiss der Vater auch, dass er noch lebt und dass seine kleine Tochter ins Ausland weiterverkauft wurde.

Wir sind entgeistert. Wir sind entsetzt. Wir sind sprachlos. Tränen laufen überall. Vorsichtig beenden wir das Gespräch. Danke, danke, an alle, die uns ihre Geschichten erzählen! Wir wissen, dass das nicht einfach ist. Aber wir müssen nachfragen, um es weitererzählen zu können, damit es vielleicht irgendwo Menschen hören, die bereit sind, mitzuhelfen, dass es weitere geglückte Befreiungen gibt.

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An dem Gespräch waren Khalil Qasim Bozani und Verena Rösner beteiligt. 

An Yazidi advocate helped quietly usher 1.100 ISIS survivors to Germany in an unprecedented asylum programm.