Der Putsch und das Danach nach dem Nach-Putsch - Ein Gespräch mit Selçuk Salih Caydı


Seit dem Putschversuch hat sich viel ereignet. Das Bild, das die Türkei gegenwärtig von sich zeichnet, verwirrt zum Teil mehr, als dass es zu Transparenz und Klärung beiträgt. Zum Teil ist das verständlich, denn das Geschehen war dramatisch. Manche Reaktionen und Ereignisse sind aus externer Beobachtersicht unverständlich und einfach nicht nachvollziehbar. Hinzu kommen Entlassungen, Verhaftungen und Inhaftierungen sowie die Gleichschaltung der Medien. Dadurch sind wohlbekannte und geschätzte Informanten plötzlich nicht mehr verfügbar, oder selbst in die Rolle des Beobachters und ausser Landes gedrängt worden. Es ist also nicht einfach, an erklärende Informationen zu gelangen.

Ja es war und ist eine aufregende, nicht einfache Zeit. Und ich denke, es wird auch noch eine Weile dauern, bis sich die Anspannung im Land etwas legt.

Zum Putschhintergrund hat es verschiedene Erklärungen gegeben und diverse Verschwörungstheorien wurden entworfen. Mittlerweile setzt sich die Sichtweise durch, dass die Gülenisten das Land durch diesen Putsch verändern wollten. Wie kam man zu dieser Einschätzung? Welche Nachweise gibt es hierzu?

Dieser Militär-Putsch oder Putsch-Versuch ist im Grunde der Abschluss einer Entwicklung, die in den letzten 40 Jahren sehr systematisch vorangetrieben wurde. Der Grundgedanke bzw. das Ziel der Gülen-Bewegung ist in der Tat, den Staat zu übernehmen, um ihn in einen islamischen Staat umzuwandeln. Man hat das auch gewusst. Fetullah Gülen hat in seinen Predigten ab 1999 diese Idee bereits ganz klar beschrieben. Man solle sich in alle Institutionen des Staatsgebildes möglichst unbemerkt und gut eingliedern. Wenn dies gelungen und alle Schlüsselpositionen besetzt seien, dann werde man gegen das herrschende Regime putschen und die Macht selbst übernehmen. Das war der Grundgedanke. Mit der Umsetzung dieser Idee wurde bereits in den 1970'er Jahren begonnen. Das geschah sehr subtil. Man pflegte zu den jeweils regierenden Parteien gute Beziehungen und hat sich so unbemerkt in diese hineingeflochten. Das kann man bis in die Regierungszeit der Ecevit Partei zurück verfolgen und es blieb so, gleichgültig welche Partei danach an die Macht kam. Diese Bewegung hat es geschafft, bei Regierungswechseln nicht nur die gewonnenen Positionen zu behalten, sondern diese sogar kontinuierlich auszubauen. Als die AKP 2002 an die Macht kam, ergab sich für die Gülenisten dann eine große Chance. Sie konnten nun mit einer regierungsunerfahren Partei zusammenarbeiten und dadurch die eigene Macht noch mehr stärken. Denn da die AKP sich insbesondere um den Einfluss der Kemalisten sorgte, ging sie ohne weiteres ein Bündnis mit den Gülenisten ein.

Die AKP ist religiös ausgerichtet. Die Gülenisten ebenfalls. Also haben sie an einem Strang gezogen gegen die säkularen Kemalisten. Das ist erst einmal einleuchtend. Doch warum kam es dann zum Bruch? Hätte man nicht eigentlich erwartet, dass die Gesellschaft Zug um Zug von ihnen gemeinsam umgestaltet wird, so wie das gegenwärtig durch Erdoğan nun im Alleingang zu geschehen scheint?

Ja, beide Richtungen sind Islamisten, aber dennoch müssen wir hier unterscheiden. Erdoğan und seine Leute kommen von der Erbakan-Linie, d.h. der Millî-Görüş-Bewegung. Die Gülenisten hingegen stehen in der religiösen Tradition der Nurculuk und deren Führer Said Nursî nahe. Das sind zwei sehr unterschiedliche Ausrichtungen. Die Gülenisten agieren mehr nationalistisch und am "Türkentum" ausgerichtet, während sich die Erbakanisten eher am Islamismus orientieren.

Aber die AKP ist doch ebenfalls sehr nationalistisch ausgerichtet, oder?

Ja, mittlerweile, das stimmt. Aber nur, weil die AKP bemerkt hat, dass sie mit dem Islamismus allein nicht weiterkommt. Die AKP und ihre Führung sind bekannt dafür, dass ihr Pragmatismus keine Grenzen kennt, wenn es darum geht, an der Macht zu bleiben.

Und es kommt noch etwas anderes hinzu, warum es zu diesem Bruch kam, und das ist ein Machtkampf zwischen den beiden Führern. Eine Zeitlang sind sie den Weg zwar gemeinsam gegangen. Doch jeder von ihnen wusste, dass das irgendwann ein Ende hat. Politischer Islamismus ist hierarchisch gedacht mit einer Ein-Mann-Spitze. Und jede Partei oder Bewegung glaubt, dass sie die Einzige ist, die auf Erden im Besitz der Heiligen Wahrheit ist und von daher das Recht auf die alleinige Führung hat. Und so kommt es immer wieder zum Streit der islamischen Richtungen um die Alleinherrschaft und zu Säuberungsaktionen, als heilige Reinigung sozusagen.

Und dieser Zeitpunkt war für die Gülen Bewegung gekommen?

Ja. Sie haben sich nicht nur sehr stark gefühlt, sie waren es auch. Es ist unglaublich, wie gut sie sich organisiert hatten. Verheerend, dass so etwas in einem modernen Land überhaupt noch in dieser verdeckten Art und Weise möglich war.
Nehmen wir die türkische Armee. 50 % der Spitze des Militärs bestand inzwischen aus Gülen Leuten. Sie hatten die wichtigsten Ämter inne. Bei der Polizei waren es sogar 70 bis fast 80 %.
Den Geheimdienst hatten sie infiltriert, das Erziehungsministerium ... überall hatten sie die wichtigsten Posten besetzt. Sie hatten ihre eigenen Leute wie Schläfer überall verdeckt untergebracht. Man konnte sie nicht identifizieren. Das war ihre Strategie. Denn sie können Alkohol trinken, brauchen keine Kopfbedeckung, all das ist ihnen als Muslime erlaubt, jedoch nur, damit sie nicht auffallen. Und somit konnte auch nicht bemerkt werden, wie weit ihre Strategie schon aufgegangen war, und sie den Umsturz planen konnten. Das war vor ungefähr zwei Jahren.
Damals haben sie geglaubt, die benötigte Stärke erreicht zu haben, um den Umsturz wagen zu könnnen. Das hat Erdoğan aber bemerkt. Denn die ursprüngliche Absprache zwischen Erdoğanisten und Gülenisten  war, dass nach der Säuberung von den Kemalisten, auch die Gülenisten im Staatsapparat nicht weiter expandieren würden. Doch an diese Absprache haben diese sich nicht gehalten und ihre Leute weiterhin in allen wichtigen Stellen des Staates untergebracht.

Damals der Ergenekon Prozeß, die Zerschlagung des wirklichen oder angeblichen "tiefen Staates" mit der ersten Verhaftungswelle von Nationalisten im Jahr 2007 und dann in der Folge der Balyoz Prozess im Jahr 2010 gegen hohe Militärfunktionäre, das waren dann doch willkommene Möglichkeiten für die Gülenisten, viele der vakant gewordenen relevanten Stellen zu besetzen?

Ja. Die Gülenisten hatten es mit dem 4-Sterne-General Akın Öztürk sogar bis in die Spitze des Militärs geschafft. Er wurde kommandierender General der Luftwaffe. Aber Erdoğan hat dann irgendwann verstanden, dass die Gülenisten die Absprache nicht einhalten und noch mehr vorhaben. Er konnte das auch verstehen, da er ja ebenfalls von der Vorstellung ausgeht, es gibt nur eine Ein-Mann-Hierarchie. Diese Möglichkeit, Macht an der Spitze zu teilen ist für beide nicht denkbar. Im Grunde ist das ja auch die Tragik, warum der Mittlere Osten nie zur Ruhe kommt, weil jeder glaubt, der "himmliche Auftrag" läge allein bei ihm und seinem Gefolge. Als Erdoğan die Strategie der Gülenisten durchschaute, begann er zu handeln. Als erstes hat er die Polizei säubern lassen.

Ja, das war eine Phase mit Massenentlassungen und Umbesetzungen, die bei der Polizei schon ab Anfang 2014 begann.

Zuvor hatte es im Jahr 2012 die Operationen der gülenistischen Staatsanwälte gegen den Geheimdienstchef Hakan Fidan gegeben. Das war damals der erste Konflikt zwischen Gülenisten und Erdoğanisten. Auch schon vorher gingen Gülenisten in der Polizei  gegen die kemalistischen Offizieren vor, produzierten falsches Beweismaterial usw.  Und so kam es zu den Ergenekon und Balyoz Prozessen. Und in alle diese hohen Positionen sind dann nach den Verhaftungen Gülens Offiziere nachgerückt. 
Diese dann folgenden Säuberungen in der Polizei durch Erdoğan waren natürlich ein Alarmzeichen für die Gülenisten. Anfang Sommer 2016 wurde ausserdem bekannt, dass eine große Operation gegen die Offiziere in der Armee bevor stand, ähnlich wie zuvor bei der Polizei. Der Türkische Geheimdienst hatte das geheime Korrespondenznetz der Gülenisten geknackt und kannte so viele gülenistische Offiziere in der Armee. Und da diese nun befürchten mussten, dass die Armee bis an  de Spitze gesäubert werden könnte, d.h. hin bis zu ihrem 4-Sterne-General, mussten sie den Putsch umplanen und zeitlich vorziehen. Denn sie planten wirklich einen Putsch! Wir wissen heute, dass sie an diesem Plan fast zwei Jahre gearbeitet haben. Jeder Gülenist wusste, was er während und nach dem Putsch zu tun hat. Man muss sich vorstellen, welche logistische Arbeit dahinter steckt, und wie lange es gebraucht hat, bis es in all diese Verästelungen hinein durchdacht und mit allen abgesprochen war. Denn wir reden hier nicht von ein paar Panzern und Flugzeugen, sondern von tausenden von Offizieren, die genau wissen mussten, was sie zu welcher Zeit zu tun haben.
Der Putsch war eigentlich erst für diesen Herbst geplant. Und nun mussten sie ihn aufgrund der aktuellen Ereignisse vorziehen. In sehr kurzer Zeit wurde alles umdisponiert, um bereits im Juli losschlagen zu können. Und dann ereignete sich noch etwas. Geplant war der Putsch für 3 Uhr in der Nacht. Aber aus Russland wurde an den türkischen Geheimdienst gemeldet, dass ein Putsch passieren könnte. Der Geheimdienst informierte umgehend den Generalstabschef und der gab die Order aus, kein Flugzeug dürfe abheben und kein Panzer sich auf die Straße bewegen. Dies war natürlich bis zu den Gülenisten durchgesickert. Aber dieser Befehl wurde durch den Einsatz der Gülenisten nicht richtig verbreitet und die Startzeit des Putsches wurde sofort vorgezogen, um das Ganze nicht abblasen zu müssen. Sie hatten keine andere Wahl.

Das heisst also, es gab einen vorgezogenen Plan, der dann noch einmal vorgezogen werden musste. Das konnte doch gar nicht funktionieren, wenn man den ganzen logistischen Aufwand bedenkt.

Genau. Und so ist es ja auch gekommen. Es wurde entschieden, schnell zu handeln. Aber dass Teile der Armee vorgewarnt waren, war der erste Schwachpunkt. Es gab keine Zeit, die oberste militärische Spitze für sich zu gewinnen und diese konnte auch nicht gezwungen werden, sich am Putsch zu beteiligen. Und dann nahm alles seinen Lauf. Zug um Zug brach der ganze Plan in sich zusammen.

Welche Rolle spielte die Bevölkerung dabei? Als die Ernsthaftigkeit der Situation begriffen wurde, wurde diese ja über SMS aufgerufen, auf die Strasse zu gehen und sich den Putschisten entgegenzustellen.

Der springende Punkt war eigentlich mehr, dass die Kampfflugzeuge nicht aufsteigen konnten. Das Hauptquartier der Putschisten war der Luftstützpunkt  Akıncı in Ankara. Der wurde umgehend von generalstabstreuen Flugzeugen aus Eskişehir bombardiert. So wurde im Grunde gleich zu Beginn das Hauptquartier des Putsches getroffen. Das war der eigentliche Auslöser des Scheiterns, dass dann nichts mehr funktionierte. Also nicht so sehr, dass die Leute auf die Straße gingen und sich dem Militär entgegenstellten, denn das Militär ist ja gar nicht richtig zum Zuge gekommen. Natürlich hat die Bevölkerung auch eine Rolle gespielt. Aber mehr auf der psychologischen Ebene. Die demonstrierenden Bürger haben das Scheitern des Putsches beschleunigt. Der Erfolg gegen die Putschisten kam jedoch, weil ihr Stützpunkt übel bombardiert wurde, sodaß ihre Flugzeuge nicht mehr aufsteigen konnten.

Was in der Nacht und in den nächsten Tagen passierte, ist ja allgemein bekannt. Was mich aber noch interessiert, welche Bedeutung und welchen Einfluss hat der Putschversuch für die AKP und für Erdoğan gehabt. Wie ist ihre Sicht auf die Ereignisse, denn nur so kann man die nachfolgenden Aktionen genauer verstehen und analysieren.

Also erst mal war das für alle ein Riesenschock. Zum einen für die Gülenisten, dass alles schief gelaufen ist. Aber auch Erdoğan und seine Leute gerieten in Panik. Sie verstanden, dass das eigentliche und primäre Ziel des Putsches war, Erdoğan gefangen zu nehmen oder ihn sogar zu töten. Es war Zufall, dass dies nicht gelungen ist, denn hätte es dieses Zeit-Chaos nicht gegeben, wäre dieses Ziel sehr strikt verfolgt worden. Nur konnte man eben in dieser Situation nicht feststellen, wo Erdoğan sich befand, da er zuvor die Warnung bekommen hatte. Wo man ihn erwartet hatte, da war er nicht. D.h. auch dieser Plan musste noch einmal geändert werden. Und es ist fast wie in einem schlechten Film, zuletzt hatte der Hubschrauber, der ihn entführen sollte,  einfach nicht mehr genug Sprit zum Fliegen. Und so ist es auch einleuchtend, da alle Schritte genau durchgeplant und miteinander verschränkt waren, dass nun die Kette riss und viele falsche Reaktionen nach sich zog, so dass alles in sich einstürzte.

Dies alles erkennen und zu verstehen, war für Erdoğan Schock und Erkenntnis zugleich. Zum einen ist ihm nun klar, dass er seinen eigenen Leuten nicht vertrauen kann. Er hat verstanden, dass Teile seiner eigenen Partei gegen ihn putschen würden. Er weiss aber nicht genau, wer in seiner Partei Gülenist ist, da diese nach aussen nicht erkennbar sind. Er weiss nur, die Partei ist von ihnen infiltriert. Er weiss auch, dass man ihn in seiner Partei nicht besonders mag aufgrund seines politischen Verhaltens, seines aussenpolitischen Gebarens, des Abbaus demokratischer Strukturen. Er bemerkt auch, dass es für seine Leute in der Partei immer schwerer wird, in der Politik eine eigene Meinung durchzusetzen, und die Türkei immer mehr isoliert wird. Es fällt AKP'lern schwer, im Ausland Erdoğans politischen Schritte zu erklären. Diese Stimmung in der Partei ist Erdoğan schon bewusst. Und er weiss auch, dass die Gülenisten nicht nur in der AKP, sondern gleichfalls in allen anderen Parteien - ausser in der kurdischen HDP – sitzen. Damit muss er nun umgehen. Und das macht ihn noch einsamer.

Gleichzeitig hat er aber entdeckt, dass er mit seinen Anhängern eine Art paramilitärische Kraft hat, die man auf die Straße schicken kann. Er hat gemerkt, dass diese Leute für ihn sogar türkische Soldaten töten und ihnen die Kehle durchschneiden, wie man im TV sehen konnte. Und so hat er am Anfang nach dem Scheitern des Putsches auch noch in der bekannten Art reagiert. Er tobte und drohte alle Beteiligten schwerst zu bestrafen.

Als er nach einigen Tagen mit Obama ein Telefongespräch führte, begann die Wandlung in seiner Sprache und in seinem politischen Verhalten. Man glaubt, er habe wahrscheinlich gemerkt, dass von den Amerikanern keine Unterstützung zu erwarten war. Vielleicht hat er auch gemerkt, dass die Amerikaner tatsächlich irgendwie an dem Putsch beteiligt waren. Irgendwann wird man die Wahrheit erfahren. Aber sicherlich hat Obama ihn spüren lassen, dass man ihn nicht mehr will und seine Vorstellungen mit denen der USA nicht übereinstimmen. 

Erdogan weiss nun, dass er trotz seiner Anhänger auf der Straße und mit der breiten Zustimmung der Wähler, die über 50 Prozent oder sogar noch höher liegen mag, nicht ohne noch weiteren Rückhalt an der Macht bleiben kann. Und von da an hat er sein Verhalten grundlegend geändert. Er hat die Oppositionsparteien in seinen "Sieg" einbezogen und sie zu einem Bündnis "für die Demokratie" aufgerufen. Diese sind das auch bereitwillig eingegangen, was verständlich ist, angesichts der Erkenntnis, was da gerade verhindert worden war. Nur die HDP wird weiter ausgegrenzt. Die nationalistische Feindschaft aller Parteien gegen Kurden ist zu groß. Die Abgrenzung zur HDP bildet neben dem Kampf gegen die Gülenisten eine wichtige Klammerfunktion für die AKP mit den Oppositionsparteien, indem der HDP im Verlaufe der Krise das Label "Kurdenpartei ist PKK-hörig und somit terroristenfreundlich" verpasst wurde.

Ist es vielleicht nicht nur die geschürte und wieder aufgeflammte Kurdenfeindschaft im Land, die die Ausgrenzung der HDP zur Folge hat? Verknüpft sich da vielleicht auch etwas mit dem Syrien Konflikt und der Rolle der USA und ihrer bisherigen Nähe zu den Kurden, so dass man jetzt ein doppeltes Feindbild braucht, um noch enger zusammenzurücken? Die Statements aus der Türkei in den Wochen nach dem Putsch über die angebliche Rolle der USA deuten doch darauf hin, oder?

Ja, das kann auch sein. Aber ich glaube Erdoğan betreibt jetzt eine mehr nationalistische Politik, da er so Leute von der MHP zu sich herüber ziehen und gleichzeitig die HDP noch mehr schwächen kann. Da Erdoğan sich als Alleinherrscher sieht, kann er auch keine Koalitionen bilden. Daher muss er sehen, wie er möglichst viele Wähler an sich bindet, um sich als einziger islamischer Herrscher fühlen zu können. Dieses Gefühl braucht er. Das gibt ihm Stabilität. Dadurch kann er auch seine Einsamkeit kompensieren.

Das heisst, der gescheiterte Putsch hat jetzt zur Folge, dass eine Säuberungsaktion in ganz grossem Ausmaß durchgeführt wird. Und damit hat Erdoğan auch Erfolg. Nachdem nun die erste Verwirrung vorüber ist, kommt in der Türkei langsam ins Bewusstsein, welche Konsequenz es gehabt hätte, wenn der Putsch gelungen wäre. Und das wäre dann eben doch eine Katastrophe für das Land gewesen, da man ja nun weiss, wie tief im Staat das Gülenistische Netz verwurzelt war, und dass es auf lange Zeit unmöglich wäre, in der Türkei wieder etwas zu verändern und den säkularen Staat wieder einzurichten. 

Lass uns abschliessend noch die jetzige Lage ansprechen. Die Gülenisten werden, soweit sie auffindbar sind, aus allen Ämtern entfernt, zum großen Teil verhaftet. Andere sind noch immer da und zum Teil nicht aufindbar. Wie ist die Strategie zu verstehen, dass gegenwärtig nicht nur gegen diese Gruppierung vorgegangen wird, sondern mittlerweile von einer witch-hunt gegen alles was irgendwie opponiert gesprochen wird?

Wir können davon ausgehen, dass ungefähr die Hälfte der Gülenisten aus den Ämtern gesäubert wurde und auch ihre Netze nicht mehr funktionieren. Das gilt besonders für die Armee und für das Bildungswesen. Aber was bedeutet das nun für die AKP als Regierungspartei, die jahrzehntelang darauf angewiesen war, mit denjenigen, die entfernt wurden, die staatlichen Geschäfte zu regeln? Es scheint, als stehe die AKP wieder ganz am Anfang, wie zu Beginn ihrer Regierungszeit. Sie ist nun plötzlich auf sich allein gestellt. Wir wissen, dass es um gut ausgebildete Leute in der AKP nicht sonderlich gut bestellt ist. Es gibt schon einige wenige, aber mit denen allein ist kein Staat zu regieren.

Das heisst Erdoğan und die AKP haben – und das macht sich ja mittlerweile breit bemerkbar – nicht nur ein Personalproblem, sondern auch ein fundamentales Problem im Hinblick auf die politische Leitung des Staates auf allen Ebenen. Wie werden sie damit umgehen?

Es deutet sich eine ganz interessante Entwicklung an. Sie müssen auf diejenigen ausserhalb ihrer Reihen zurückgreifen, die Staatsführungserfahrung haben und nicht zu den Gülenisten gehören. Das sind zum einen erst einmal die Kemalisten, auf die nun wieder zugegangen wird. Das betrifft mehr das Militär, da die kemalistischen Offizieren gut ausgebildet sind und sich aufgrund der gegenwärtigen Entwicklung auch loyal zu Erdoğan verhalten.
Im Bildungswesen sieht die Situation anders aus. Hier sind im Moment – das haben wir ja zum Schulanfang bemerkt – riesige Lücken zu verzeichnen, obwohl es in der Türkei eine große Anzahl von arbeitslosen Lehrern gibt. Viel zu viele Lehrer wurden in der Türkei ausgebildet. Eingestellt wurden vorwiegend diejenigen, die den Gülenisten zugeordnet werden konnten. Und die sind nun alle entfernt worden. Und zwar gründlich. Diese meist jungen arbeitslosen Lehrer sollen nun die Lücke füllen. Doch daraus ergibt sich ein weiteres Problem. Die meisten dieser jungen Leute haben sich aufgrund ihrer Situation politisiert und sind nicht unbedingt regierungsfreundlich. Wenn wir zurückschauen, jedes Jahr hat es Demonstrationen der Lehrer gegeben, die gegen ihre hohe Arbeitslosigkeit demonstriert haben. Sie werden daher auch nicht einfach als neue Lehrer eingestellt, sondern haben eine Art mündliche Prüfung zu absolvieren. Ihre Regierungsfreundlichkeit wird getestet. Dabei spielt natürlich auch ihr Religionswissen eine Rolle, das mit abgefragt wird.

Aber dann könnten das ja auch wiederum Gülenisten sein, die sich in diesen Fragen ja nun wirklich gut auskennen.

Ja und genau das ist jetzt das Problem. Folglich wird nachgeschaut, ob sie eine Gülen-Schule besucht haben oder einschlägige Gymnasien oder Universitäten, ein Konto bei einer Gülen-Bank haben und so weiter. Und man arbeitet mit der Verbreitung von Angst. Überall ist bemerkbar, was es bedeutet, plötzlich aus allen Ämtern herausgeworfen zu werden. Diese Personen dürfen danach in keinem Amt als Beamte arbeiten. Viele werden sogar von ihren Berufen ausgeschlossen. Es trifft ja nicht nur die entlassenen Personen, sondern auch ihre Familien und ihr soziales Umfeld. Niemand stellt jemanden ein, der aufgrund seiner wirklichen oder angeblichen Zugehörigkeit zu den Gülenisten seinen Job verloren hat. Familien werden zerstört, die ersten Selbstmorde sind zu verzeichnen. Das alles hat auch Auswirkungen auf das Verhalten derjenigen, die dringend einen Job suchen und brauchen und sich als Lehrer bewerben. Und somit stellt man vielleicht seine eigene politische Überzeugung erst einmal zurück.

Die Lücke in den Schulen wird sich wahrscheinlich in absehbarer Zeit schliessen lassen. Doch das ist ja nicht die einzige Lücke, die entstanden ist. Mir ist völlig unklar, wie die Probleme in den anderen Bereichen gelöst werden können.

Die AKP schafft das mit ihren Kapazitäten und ihrer mangelnden Erfahrung natürlich nicht allein. Und man bemerkt, dass erste Versuche beginnen, auf diejenigen Schichten im Land zurückzugreifen, die gut ausgebildet sind, unabhängig davon ob sie Kurden oder Säkulare sind, weil das akute Problem sonst nicht gelöst werden kann. Und jeder weiss, dass die Kemalisten noch immer die Bildungselite in diesem Land bilden.

Da Du die Kurden ansprichst, kommt deshalb vielleicht jetzt auch wieder Öcalan ins Spiel. Es ist doch auffällig, wie lange man ihn isoliert hat und gerade jetzt wieder Kontakte zu ihm erlaubt werden. Und besonders auffällig war, dass es nicht Angehörige der HDP gewesen sind, die ihn besuchen durften, obwohl er offensichtlich nach diesen gefragt haben soll, sondern Familienangehörige.

Das kann gut sein, dass Öcalan wieder ins Spiel kommt. Im Moment ist wirklich eine große Ratlosigkeit zu spüren. Man braucht gute Leute im Staatsdienst. Gleichzeitig hat man Angst, dass genau diejenigen wieder zurückkommen, die man nicht will, nämlich die Kemalisten.

Dann macht ja die gegenwärtige Einschüchterungs- und Verfolgungskampagne gegen jegliche Art von Opposition wieder einen Sinn. Alle diejenigen einzuschüchtern, die es wagen, in der gegenwärtig schwierigen Situation Kritik zu üben oder sich gegen die Methoden zu stellen, die die AKP anwendet, um die gegenwärtige Krise zu meistern. Kritik wird nicht als Bereicherung, sondern als Gefahr wahrgenommen.


Ja, diese Einschüchterung passiert im Moment wohl sehr bewusst. Aber Angst ist auf Dauer kein guter Ratgeber. Und diejenigen, die für den Staat wieder zurückzugewinnen sind, die ticken anders als die AKP und sind mit der islamistischen Ideologie nicht einzufangen. Aber auf sie muss die AKP zurückgreifen, wenn kein Kollaps in vielen staatlichen Bereichen erfolgen soll. Wir werden in den nächsten Wochen und Monaten sehen, ob eine Entspannung gelingt. Gegenwärtig ist noch immer die Erleichterung vorherrschend, dass es gelungen ist, eine 40 Jahre lang verdeckt gewachsene Krake, die sich überall festgesetzt hat, so plötzlich aus dem Staatsgebilde verschwinden zu lassen. Keiner konnte sich das vorstellen. Und das ist eine Chance für die gegenwärtigen Regierung und für die Türkei. Ob sie mit dieser neuen Lage klug umgehen und den Wert des säkularen Staates, der Demokratie und der Versöhnung wieder schätzen lernen - das werden wir sehen.



Aslı Erdoğan – Eine Schriftstellerin verschwindet.

Ein neuer Brief:     9. Eylül – Bakırköy 




Aus dem Gefängnis: "Vergesst mich nicht und meine Bücher" (4.9.16) [3]
Aslı Erdoğan wurde mittlerweile ins Bakırköy-Gefängnis überführt. (20.8.16)
İrfan Aktan: "Bu ülke bazı insanları haketmiyor."
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Stell Dir vor, es ist Nacht, und Du wachst auf, weil es klingelt. Verschlafen öffnest Du die Tür und – man erklärt Dir, Du seiest nun festgenommen.
Am nächsten Tag bemerken es dann auch die Anderen: Du bist weg. Einfach so. Geklaut. Mitten in der Nacht. Und niemand weiss, wo Du bist.
So ist es Aslı Erdoğan am Mittwoch den 17. August 2016 ergangen. Und nicht zum ersten Mal.



Während der Frankfurter Buchmesse im Jahr 2008 merkte es man ihr noch an, dass sie während einer solchen polizeilichen Festnahme so schwere Verletzungen erlitten hatte, dass sie bis zum heutigen Tag auf Medikamente angewiesen ist. [1] Schlafen konnte sie lange Zeit nicht, berichte sie später einer Journalistin der Neuen Züricher Zeitung, als sie 2012 für ein Jahr als Asylschreiberin in Graz weilte: "Das hatte ich aus der Türkei mitgebracht, die Furcht, nachts verhaftet zu werden". [2] Offensichtlich weiss sie sehr genau, wovor sie solche Angst hat. Sie fühle sich wie eine Ertrinkende, die wieder auftaucht, beschrieb sie ihre Situation, dann wenn sie über Menschen schreibe, die in der Türkei im Gefängnis einsitzen, denn da schreibe sie in gewissem Sinn auch über ihr eigenes Gefangensein.
Diese Erfahrung scheint so tief zu sitzen, dass sie sie herausschreiben musste, denn eigentlich ist Aslı Erdoğan Physikerin. Von 1991 bis 1993 arbeitete sie am CERN, der Europäischen Organisation für Kernforschung in der Schweiz. Schon damals schrieb sie literarische Texte und gab letztlich ihre wissenschaftliche Karriere für das Schreiben auf.

1990 gewann Aslı Erdoğan  den Yunus-Nadi-Literaturpreis, der seit dem Jahr 1946 in der Türkei vergeben wird.
1994 erschien ihr erster Roman Kabuk Adam.
Einige ihrer Schriften sind in deutscher Sprache erschienen, so ihr Roman Die Stadt mit der roten Pelerine. Nach einem Aufenthalt in Rio de Janeiro kehrte sie in die Türkei zurück und lebt seither als freie Schriftstellerin in Istanbul.
1997 gewann sie bei der Deutschen Welle mit ihrer Kurzgeschichte Holzvögel, den Autorenwettbewerb.
2010 erhielt Aslı Erdoğan für ihren Roman Taş Bina ve Diğerleri den Sait-Faik-Preis, der seit dem Jahr 1955 verliehen wird  und als einer der bedeutendsten Literaturpreise der Türkei gilt. In ihren Werken beschreibt sie Fremdes und Anderes vor dem Hintergrund der türkischen Gesellschaft und den globalen Entwicklungen und versucht den Erfahrungen von Leid, Einsamkeit und Gewalt etwas Anderes entgegen zu setzen.

Warum wird eine solche Romanschreiberin so einfach mal festgenommen? Weil sie Mitglied beim P.E.N ist und dort im Komitee "Schriftsteller in Haft", oder bei der türkischen Schriftstellervereinigung, oder Mitglied des Kunst- und Literaturforums von Diyarbakır? Oder sind es ihre Themen, mit denen sie sich beschäftigt? Denn trotz aller Repressalien, denen sie immer wieder ausgesetzt ist, engagiert sie sich bis heute für politisch Inhaftierte und für Frauenrechte in der Türkei. Sie warnt vor Präsident Erdoğans wachsendem Autokratismus und prangert die staatlichen Repressionen gegen Kurden an. Sie ist eine der ersten, die sich öffentlich bei den Armeniern für das erlittene Unrecht entschuldigt. Sie schrieb in der Zeitung radikal und war im Beirat der Zeitung Özgür Gündem, in der auch ihre Kolumnen erschienen. Aber all dies ist gegenwärtig Vergangenheit, denn Radikal musste ihr Erscheinen einstellen und Özgür Gündem wurde auf gerichtliche Anordnung am 16.8.2016 "geschlossen".

Aslı Erdoğan, offensichtlich keine "Gülen-Anhängerin", sondern eine Oppositionelle mit scharfem Verstand und spitzer Feder. Was ist los in diesem Staat, wenn man dort glaubt, eine solche Frau verhaften zu müssen?

Aslı Erdoğan

Minen Krause: "Read Aslı Erdoğan not because she is in prison, but because she is an extraordinary writer" (Paris, 13.12.2016)

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1 Asli Erdogan spricht aus, worüber andere schweigen.
2 Zu nah am Feuer. 
3 Vergesst mich nicht und meine Bücher. Es sind meine Kinder.



LaserTag – "Ist da nicht Gewalt im Spiel?"

Mit jeder Generation beschwört das öffentliche Bewusstsein eine neue Gefahr herauf, die es zu unterbinden gelte, damit die Heranwachsenden keinen Schaden erlangen. War es früher der Rock'n Rolldurch den Jugendliche ausser Rand und Band geraten könnten oder die Flower Power Ideologie, die dem Kampfesmut entgegenwirken könne, wenn es das eigene Land zu verteidigen gelte; so ist das Thema heute die Zunahme von Gewalt. Es besteht die Sorge, Heranwachsende würden von radikalen Ideologien in den digitalen Medien beeinflusst. Man glaubt, dass "Killerspiele" zum Amoklauf inspirieren. Oder man behauptet, dass bestimmte Spiel- und Sportarten Aggressionen von Kindern und Jugendlichen fördern und diese dadurch zu Gewalttätigkeit verleiten.

Und schon wird der Jugendschutz aktiv. Das ist verständlich und richtig, denn seine Aufgabe ist es, mögliche Jugendgefährdungen im virtuellen und im öffentlichen Raum aufzuspüren und zu unterbinden. "Killerspiele" geraten auf den Index oder erhalten Altersbeschränkungen. Aggressive und gewaltverherrlichende Videos werden aus dem Netz verbannt. Auch die in den letzten Jahren entstandenen LaserTag Spiel- und Sportarenen werden in den Blick genommen und die Frage gestellt "Ist da nicht Gewalt im Spiel?"

LaserTag, so ist bei Wikipedia zu lesen, "ist ein Spiel, bei dem zwei oder mehrere Spieler versuchen, verschiedene Aufgaben auf einem speziellen Parcours oder in mehreren Räumen zu erfüllen. Generell ist das Spielprinzip vergleichbar mit Räuber und Gendarm." Dieses Spielprinzip ist bekannt, und zu ihm gibt es in jedem Kinderspielzeug-laden die passenden Akteure: Kasperl, Gretel, Wachtmeister und Räuber ... . Das Gute sucht das Schlechte, haut ihm eins über den Kopf und entfernt es aus dem öffentlichen Raum. Da fällt ein Vergleich mit LaserTag auf den ersten Blick zunächst einmal schwer, denn beim Räuber und Gendarm Spiel geht es nicht um das Ausleben von Aggression und Gewalt, sondern um den Sieg über das Böse.

Räuber und Gendarm ist aber auch ein altes Versteck-Fang-Spiel. Ein Spiel, bei dem die Partei der Gendarmen die Partei der Räuber bis zu einer vereinbarten Zeit einfangen muss, andernfalls erhalten die Räuber den Sieg. Gemeinsam ist beiden Spielformen die Zuordnung zur ethischen Kategorie des Guten. Und es bedarf der Anstrengung, braucht Mut, Kraft und Ausdauer, um letztlich doch den Sieg über das Böse zu erlangen. Im Verlauf der Jahrhunderte wurde diese Spielstruktur vielfach variiert. Wir spielten in unserer Kindheit Cowboy und Indianer. Das Besondere an dieser Variante ist die Möglichkeit des Perspektivwechsels. Je nach subjektiver Einstellung wechselt das Böse die Seite. Einmal sind es die Indianer, ein anderes Mal die Cowboys. Aber jedes Mal ist es der Kampf um das Gute, der zum Spielsieg führen und die Ordnung im öffentlichen Raum wiederherstellen soll.

Doch wer hat die Definitionsmacht darüber, was als das Böse angesehen wird? Beim Räuber, der in den Augen der Gesellschaft unerlaubt und böse handelt, fällt die Bewertung eindeutig aus. Anders verhält es sich beim Spiel um die Einwanderer nach Amerika. Je nach nationalistischer Einstellung, ethischer Grundhaltung, nach subjektiver Lebenserfahrung oder eingelerntem Wissen können hier die Zuschreibungen von Gut oder Böse variieren, denn die Kinder erspielen sich diese aufgrund ihres eigenen Eingebettetseins in die jeweiligen Sichtweisen der Erwachsenenwelt. Das Kinderspiel also lediglich ein Nachspiel zur Einübung in die Sichtweisen der Erwachsenenwelt?

Erinnert noch jemand den Film "Der Krieg der Knöpfe"? [1] Er spielt in Frankreich. Es geht dort um einen seit Ewigkeiten andauernde Streit zwischen den Bewohnern der Dörfer Longeverne und Velrans. Und wie die Erwachsenen so bekämpfen sich dort auch die Kinder dieser Nachbardörfer. Hierzu erfinden sie eine heimtückische 'Kriegslist'. Sie schneiden ihren ‘Gefangenen‘ die Knöpfe an den Lederhosen ab. Fazit und Lehre des Films ist jedoch, dass die Jugendlichen den Krieg von Erwachsenen sehr wohl als etwas Falsches erkennen und ihn einstellen, unabhängig davon, wie die Erwachsenenwelt hinter ihnen dazu steht.

Doch was hat das mit LaserTag zu tun, als einer Gefahr für die Jugend, wie sie die Gerichte und der Jugendschutz in Bayern gegenwärtig heraufzubeschwören versuchen? Um dies zu verstehen, kann es nützen, auf die Herkunft dieser Spielentwicklung zu verweisen. Die Lasertechnik wurde in den 70er Jahren erstmals von den US-Streitkräften genutzt, um im Gefechtstraining die Treffer zu simulieren und deren Genauigkeit zu berechnen. Unter Nutzung dieser Technik und angelehnt an den Film "Star Wars" [2] wurden in den 80er Jahren die ersten LaserTag-Arenen in den USA gegründet. Eine kommerzielle Spielidee also, die sich schnell über die Welt verbreitet und seit ca. 10 Jahren auch in Deutschland ihren Einzug gehalten hat. Ein Wettkampfspiel, bei dem sich zwei gegnerische Teams über ein Spielfeld verteilen, sich mit Geschick und taktischem Verhalten gegenseitig durch einen Infrarotstrahl markieren und so um das Erreichen der höchsten Punktzahl kämpfen. Ein Kriegsspiel also? Oder doch eher das alte Räuber und Gendarm Spiel mit gegenseitigem Abklatschen? Betrachtet man die Ausstattung der ersten Arenen aus den 80er Jahren und das zugehörige Equipment, so ist der ursprüngliche Kriegsspielcharakter eindeutig sichtbar und kann nicht ignoriert werden.

Heute ist LaserTag in Deutschland jedoch nicht mehr so einfach und ausschliesslich dem Genre des Kriegsspiels zuzuordnen. Zu viele neue Spielkonzepte wurden entwickelt und erprobt und an die Altersstufen der Spielenden angepasst. In den Bundesländern existieren mittlerweile futuristisch ausgestaltete Arenen neben märchenhaften Szenarien, schlichte einfache Arenen neben beeindruckende Spielzentren und das mit jeweils völlig unterschiedlichen Spielkonzepten, in denen zum Teil mit Mannschaften gegeneinander aber auch als ein Gesamtteam gespielt werden kann.

Dennoch wird gegenwärtig versucht, das Thema LaserTag verallgemeinernd als Kriegsspiel und damit als eine Gefahr für Kinder- und Jugendliche zu brandmarken. Das ist verständlich, wenn man ausschliesslich die ursprüngliche Konzeptidee zugrunde legt und diese mit der Sorge um diejenigen Jugendlichen verknüpft, die aufgrund von persönlichen Erlebnissen in ihrem Leben psychische Störungen aufweisen und jede Möglichkeit nutzen, ihre Aggressionen weiter hochzuschrauben oder nach einem Ventil suchen, um ihre innere Wut herauslassen zu können. Aber ist es angemessen, ausschliesslich eine möglicherweise hilflose Art der 'Selbsttherapie' vereinzelter Jugendlicher, die sich in schwierigen persönlichen Situationen befinden, zur Bewertung einer Spiel- und Sportart heranzuziehen und dabei nicht einzubeziehen, dass die Mehrheit der Spielenden LaserTag für sich ganz anderes bewertet?

Vielleicht haben sich ja die heutigen Variationen zu einer Spielart weiterentwickelt, die nicht nur Freude, Spaß und Spiel in einem Gruppengeschehen ermöglicht und bei der man sich zusätzlich noch sportlich derart intensiv betätigen muss, dass gerade der Alltags-Stress und/oder die Aggressionen nicht - wie zugeschrieben - aufgebaut, sondern ganz im Gegenteil sogar abgebaut wird? Vielleicht sollte hier noch genauer hingeschaut werden und nicht aufgrund mangelnder empirischer Ergebnisse und veralteter Erkenntnisse Urteile gefällt werden, die auf die heutige Alltagsrealität überhaupt nicht mehr zutreffen?

Wo sind eigentlich die Bewertungen durch die Spielenden selbst in die juristischen Begründungen eingegangen? Oder wurde hier einfach nur über sie hinweg entschieden? Wir haben uns umgesehen und über hundert Spielende zu LaserTag befragt. Sie haben unsere Einschätzung bestätigt, dass die Beschreibung von LaserTag als einem Kriegsspiel eher eine Projektionsfläche zur Kanalisierung von Erwachsenenängste abgibt, als dass sie das reale Erleben in dieser Spielart nur annähernd trifft und beschreibt [3].

Vielleicht wäre es sinnvoll, nicht hinter jedem Spiel gleich Kriegsgelüst oder Gewaltbereitschaft von Jugendlichen zu vermuten, sondern erst einmal die in diesem Zusammenhang zu stellenden ethischen Fragen neu und anders zu denken. Es hat seine historische Bedeutung und Berechtigung, gerade in Deutschland primär die Friedensbereitschaft unter den Jugendlichen zu fördern. Nur muss dann den Jugendlichen auch die Möglichkeit gegeben werden, für sich selbst und untereinander herauszufinden, wie sich sich dazu in der heutigen globalisierten Welt positionieren wollen.

Ihnen Möglichkeitsräume zu nehmen, in denen sie sich im spielerischen Wettkampf zu von ihnen gewählten Szenarien erproben können, entmündigt Jugendliche. Und es versperrt ihnen die Möglichkeit zum Wirklichkeitstransfer, der ja gerade in der Adoleszenzphase im geschützten Raum und in Peers ohne den mahnenden Zeigefinger der älteren Generation erfahren werden soll.[4] Sicherlich kann dies heutzutage im Jugendalter nicht mehr durch Kasperl und Schutzmann oder durch Cowboy und Indianer passieren, sondern mit Hilfe von zeitgemäßen Medien und Bildern, denn jede Generation erschafft sich ihre eigenen Phantasiewelten mit ihren eigenen Helden.

Wie anders sollen Jugendliche sonst zu Ergebnissen kommen, wie die Jungs von Longeverne und Velrans es ihnen vormachten? Sie haben weder durch den pädagogischen Zeigefinger noch durch Verbote ihr Verhältnis zur Gewalt für sich geklärt, sondern indem  sie in spielerischem Ernst die Erfahrung von Demütigung und auch körperlichem Schmerz selbst durchlebt haben. Und wir wissen es doch seit Jahrzehnten: nur so kann man für sich und in der eigenen Gruppe zu einer eigenen ethisch positiven Entscheidung kommen.

Der Schutz von Kindern und Jugendlichen vor Gewalt und Gefahr ist eine wichtige Errungenschaft in unserer Zeit und kann nicht hoch genug bewertet werden. Dieser darf allerdings nicht dazu beitragen, dass vor lauter Sorge eindimensionale Blicke ausschliesslich auf die möglichen Gefahren geworfen werden und dabei mögliche Chancen, die sich gleichfalls bieten, einfach auszublenden. Ist es nicht zu einfach, die Ängste aus der Erwachsenenwelt auf ein Spielgenre zu übertragen? Wird da nicht von den eigentlichen Ursachen der Gewalt nur abgelenkt? Die jüngsten Gewalttaten von Jugendlichen weisen doch eindeutig darauf hin, dass hier ein mehrdimensionaler Blick angesagt ist.


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1 Er basiert auf dem gleichnamigen Roman von Louis Pergaud aus demJahr 1912.
2 Star Wars Filme: http://de.starwars.com/filme
3 Befragung von über einhundert LaserTag Spielenden zu ihrer Einschätzung zum Spiel und zum Thema Gewalt. Erscheint demnächst.
4 Im Sozialgesetzbuch (SGB VIII) ist verankert, dass Kindern und Jugendlichen Angebote zur Verfügung gestellt werden sollen, die an ihren Interessen anknüpfen, von ihnen mitbestimmt und mitgestaltet werden sollen, sie zur Selbstbestimmung befähigen und zu gesellschaftlicher Mitverantwortung .... hinführen sollen. Offensichtlich ist dies in den letzten Jahren immer weniger gelungen, aus welchen Gründen auch immer. Die Jugendzentren sind leer. In diese Lücke sind die private Betreiber gestossen. Sinnvoll könnte es sein, letztere nicht nur dem kritischen Blick zu unterziehen, sondern gemeinsam zu überlegen, ob durch Kooperation und gegenseitiger Verknüpfungen neue Impulse in der Kinder- und Jugendarbeit entstehen können, die mithelfen, mehr Jugendliche aus der Vereinzelung zu führen und/oder sie von der - virtuellen und realen – Strasse zurückzuholen.

LaserTag - "Da schiessen die doch aufeinander, oder?"

Wenn ein Studiensemester zu Ende geht, dann kommt die Frage nach dem gemeinsamen Abschluss. "Gehen wir LaserTag spielen," betteln einige. "Ihr spinnt," sagen die anderen, "das ist doch das Spiel, da schiessen die aufeinander. Eeeeh ist doch Gewaltspielen, oder!" Nach kontroverser Diskussion dann das Fazit: Wir machen dazu ein Projekt. Gehen dann aber doch erstmal zusammen spielen.

Es gibt ein Einführungsvideo. Die Spielwesten werden angelegt. Die Fazer in die Hände und ab gehts in die Arena. Ich begebe mich auf meinen Beobachtungsposten, blicke durch eine Glasscheibe auf das Geschehen und traue meinen Augen nicht. Innerhalb von Sekunden verwandelt sich diese zurückhaltende Studierendengruppe – wenn es um gelesenen Texte geht – in eine Schar herumrasender, quietschender und lachender Jugendlicher, die sich gegenseitig im Halbdunkel zu fangen versucht. Dieses 'Fangen' geschieht durch das Markieren mit dem Fazer in ihren Händen. Durch einen Infrarotstrahl wird markiert, ob der oder die Andere erreicht wurde. Hat es funktioniert, dann gibt es Punkte für den Einzelnen und für die Mannschaft. Das Ergebnis wird zeitgleich an den Punktecomputer im Foyer weitergegeben. Die Mannschaft mit den meisten Punkte hat gewonnen. Und das ist wohl auch der Grund, warum im Spiel mit so viel lautstarkem Eifer herumgerannt wird.
"Boah eeyh, das war echt geil". Verschwitzt und abgekämpft umringt mich die Gruppe nach dem Spiel. "Ich hätte nie gedacht, dass das so anstrengend ist." "Macht Spaß" "Echt geil." "Gleich nochmal, ok?" "Nee, bin total kaputt!" Die Stimmung ist ausgelassen, Getränke löschen den Durst, während darüber nachgedacht wird, was dieses LaserTag eigentlich bedeutet.
"Spielen, Rumrennen." "Naja, wenn wir in Mannschaften gegeneinander antreten, dann ist das eher Wettkampf." "Gewaltspiel?" frage ich in die Runde. "Nee, eigentlich wirklich nicht." "Es wird doch immer wieder so bezeichnet, und wie verknüpfen wir das mit unseren eigenen Erfahrungen?" 
"Erstmal ne Medienanalyse, um zu sehen, warum das so gesehen wird." "Befragung von Spielenden, wie die das sehen." "Mal gucken, wo das Spiel herkommt, wofür wurde es entwickelt und ob das mit der Gewalt da herkommt." Wir verteilen die Arbeiten in den Gruppen und das Projekt beginnt unter dem Themendach "Gewaltspiel - ja oder nein":
o   Entwicklung von LaserTag in Deutschland (folgt)
o   Befragung von Spielenden (folgt)
o   Medienanalyse (folgt).
Doch dann die Frage: "Wir gehn jetzt aber noch nicht, wir spielen doch nochmal, oder?"


Eine weitere Gruppe entschliesst sich, das Thema unter einem anderen Aspekt aufzugreifen: Ein Bildungsprojekt mit Migrantenvätern. Auch hier gibt es wieder grosse Zustimmung zum Spiel. "Das kann man Generationen übergreifend spielen. Väter treten mit den Kindern an. Es gibt so viele verschiedene Spielmodi, da kann man gut was finden, das passt." "Und ab welchem Alter würdet ihr sie mitnehmen?" frage ich. "Naja, elf, zwölf sollte er schon sein", bekomme ich zur Antwort. "Er?" "Ja, wieso?" "Ich weiss, was Sie meinen" lacht ein Studierender. "Er hat aber keine Tochter. Meine würde ich mitnehmen. Klar doch, wir machen immer alles zusammen." "Man kann auch die älteren Mädchen spielen lassen. Die zieren sich doch immer so vor den Jungs, finden sich nicht schön genug und sind dann so verkrampft. Hier im Halbdunkel, mit den schwarzen Klamotten, da ist es doch völlig egal, wer man ist und wie man aussieht."
Auch die Betreiber von LaserTag sind offen und überlegen, welche weiteren Spielkonzepte für diese Zielgruppe entworfen werden könnten. Darüber sollten wir nachdenken, ab welchem Alter diese Spiele für Kinder und Jugendliche geeignet sind. Und schon hat die Gruppe eine neue Aufgabe:
o   LaserTag - für jedes Alter? (folgt)
o   Eltern-Kind-Spiele bei LaserTag? (folgt)


Am Fachbereich spricht sich herum, dass wir spielen gehen. "Können wir nicht auch mal mitgehen" fragt der Musikkurs? "Nur wenn wir eine Projektidee entwickeln," gebe ich zur Antwort. Schon sind wir bei LaserTag. "Und? Schon eine Idee," frage ich die abgekämpfte Gruppe, die sich mit hochroten Köpfen und völlig erschöpft wieder im Foyeur sammelt. "Nee", bekomme ich zur Antwort, "das ist doch gut hier, die haben doch, was sie brauchen." Ich bohre weiter "Transferdenken meine Lieben, hier ist die Arena, da ist das Spiel, das LASER-Spiel und ihr habt das Thema Musik. Also denkt nach." Stille. Plötzlich holt M. sein Smartphone heraus. "Ich habs, wartet mal. Guckt mal hier! Laser. Guckt mal hier, was das ist." Er zeigt auf sein Display. "Hier, das ist eine Laser-Harfe. Wir machen Laser-Musik!" "Eeeh, wie geht das denn?" alle drängeln sich um das Smartphone, doch keiner sieht was. Die Betreiber schaffen die Verbindung zu einem großen Bildschirm und da ist sie zu sehen, die Laserharfe. "Wir bauen eine Laserharfe?" "Warum nicht", ist die Antwort meiner Musik-Kollegin, "Eine solche macht doch Musik, oder?" Doch das Projekt erweist sich als unrealistisch. Es ist wegen der Laserstrahlen zu gefährlich, und es muss immer jemand zur Beobachtung abgestellt werden. Was nun? Wieder haben die Betreiber eine Idee. Sie führen uns durch die Anlage. "Hier, hier ist ein Raum ungenutzt. Hier könnt ihr Musik machen." "Ja, wie jetzt?" "Ja, wir entwickeln mit Euch hier ein Jugendzentrum Laser 2.0. Denkt mal drüber nach. Den Raum kriegt ihr." 

Ein Semester hat es gedauert, bis die zündende Idee kam:

Die Konzeptidee
Das Raumkonzept





















Wir  entwickeln eine Musikmaschine, eine mit "Musik für alle", egal ob jemand ein Instrument spielt oder auch nicht. Ein Raum, eine Musikmaschine, die Musik zum Spiel, als Wettbewerb, welche Musik passt zu welchem Spielkonzept von LaserTag. Es werden iPads gekauft, GarageBand geladen, und schon geht das Experimentieren los:

Die Planung



Die Verknüpfung offener Jugendarbeit, privaten Betreibern von Spiel- und Sport-Arenen und Hochschule - ein möglicher Ausweg aus der Krise der Offenen Jugendarbeit? Neues entsteht in der Zusammenarbeit von Know-How, von Ideen und durch das Realisieren von Möglichkeitsräumen? Das ist nicht mehr einfach so von der Hand zu weisen, angesichts knapper öffentlicher Kassen und der Verödung von Jugendhäuser in den Stadtteilen und auf dem Land.


Bisher sind lediglich die Bauämter und zum Teil die Jugendämter an den Genehmigungsverfahren solcher neuen Spiel- und Sportstätten beteiligt. Daher rührt u.E. auch der eingeschränkte kritische Blick in den öffentlichen Kommentaren zu dieser Entwicklung. Sozialpädagogische Kenntnisse und erlebnispädagogische Erfahrungen werden bei den Bewertungen bisher noch nicht hinzugezogen.

Dabei ist diese Entwicklung bereits in vollem Lauf, die ersten Zentren Jugend 2.0 sind dabei zu entstehen. Sie müssten bloss einmal wahrgenommen und mehr unterstützt werden. Es ist völlig falsch und unzureichend, Neues immer nur aus der Perspektive potentieller Gefahren in den Blick zu nehmen.