LaserTag – "Ist da nicht Gewalt im Spiel?"

Mit jeder Generation beschwört das öffentliche Bewusstsein eine neue Gefahr herauf, die es zu unterbinden gelte, damit die Heranwachsenden keinen Schaden erlangen. War es früher der Rock'n Rolldurch den Jugendliche ausser Rand und Band geraten könnten oder die Flower Power Ideologie, die dem Kampfesmut entgegenwirken könne, wenn es das eigene Land zu verteidigen gelte; so ist das Thema heute die Zunahme von Gewalt. Es besteht die Sorge, Heranwachsende würden von radikalen Ideologien in den digitalen Medien beeinflusst. Man glaubt, dass "Killerspiele" zum Amoklauf inspirieren. Oder man behauptet, dass bestimmte Spiel- und Sportarten Aggressionen von Kindern und Jugendlichen fördern und diese dadurch zu Gewalttätigkeit verleiten.

Und schon wird der Jugendschutz aktiv. Das ist verständlich und richtig, denn seine Aufgabe ist es, mögliche Jugendgefährdungen im virtuellen und im öffentlichen Raum aufzuspüren und zu unterbinden. "Killerspiele" geraten auf den Index oder erhalten Altersbeschränkungen. Aggressive und gewaltverherrlichende Videos werden aus dem Netz verbannt. Auch die in den letzten Jahren entstandenen LaserTag Spiel- und Sportarenen werden in den Blick genommen und die Frage gestellt "Ist da nicht Gewalt im Spiel?"

LaserTag, so ist bei Wikipedia zu lesen, "ist ein Spiel, bei dem zwei oder mehrere Spieler versuchen, verschiedene Aufgaben auf einem speziellen Parcours oder in mehreren Räumen zu erfüllen. Generell ist das Spielprinzip vergleichbar mit Räuber und Gendarm." Dieses Spielprinzip ist bekannt, und zu ihm gibt es in jedem Kinderspielzeug-laden die passenden Akteure: Kasperl, Gretel, Wachtmeister und Räuber ... . Das Gute sucht das Schlechte, haut ihm eins über den Kopf und entfernt es aus dem öffentlichen Raum. Da fällt ein Vergleich mit LaserTag auf den ersten Blick zunächst einmal schwer, denn beim Räuber und Gendarm Spiel geht es nicht um das Ausleben von Aggression und Gewalt, sondern um den Sieg über das Böse.

Räuber und Gendarm ist aber auch ein altes Versteck-Fang-Spiel. Ein Spiel, bei dem die Partei der Gendarmen die Partei der Räuber bis zu einer vereinbarten Zeit einfangen muss, andernfalls erhalten die Räuber den Sieg. Gemeinsam ist beiden Spielformen die Zuordnung zur ethischen Kategorie des Guten. Und es bedarf der Anstrengung, braucht Mut, Kraft und Ausdauer, um letztlich doch den Sieg über das Böse zu erlangen. Im Verlauf der Jahrhunderte wurde diese Spielstruktur vielfach variiert. Wir spielten in unserer Kindheit Cowboy und Indianer. Das Besondere an dieser Variante ist die Möglichkeit des Perspektivwechsels. Je nach subjektiver Einstellung wechselt das Böse die Seite. Einmal sind es die Indianer, ein anderes Mal die Cowboys. Aber jedes Mal ist es der Kampf um das Gute, der zum Spielsieg führen und die Ordnung im öffentlichen Raum wiederherstellen soll.

Doch wer hat die Definitionsmacht darüber, was als das Böse angesehen wird? Beim Räuber, der in den Augen der Gesellschaft unerlaubt und böse handelt, fällt die Bewertung eindeutig aus. Anders verhält es sich beim Spiel um die Einwanderer nach Amerika. Je nach nationalistischer Einstellung, ethischer Grundhaltung, nach subjektiver Lebenserfahrung oder eingelerntem Wissen können hier die Zuschreibungen von Gut oder Böse variieren, denn die Kinder erspielen sich diese aufgrund ihres eigenen Eingebettetseins in die jeweiligen Sichtweisen der Erwachsenenwelt. Das Kinderspiel also lediglich ein Nachspiel zur Einübung in die Sichtweisen der Erwachsenenwelt?

Erinnert noch jemand den Film "Der Krieg der Knöpfe"? [1] Er spielt in Frankreich. Es geht dort um einen seit Ewigkeiten andauernde Streit zwischen den Bewohnern der Dörfer Longeverne und Velrans. Und wie die Erwachsenen so bekämpfen sich dort auch die Kinder dieser Nachbardörfer. Hierzu erfinden sie eine heimtückische 'Kriegslist'. Sie schneiden ihren ‘Gefangenen‘ die Knöpfe an den Lederhosen ab. Fazit und Lehre des Films ist jedoch, dass die Jugendlichen den Krieg von Erwachsenen sehr wohl als etwas Falsches erkennen und ihn einstellen, unabhängig davon, wie die Erwachsenenwelt hinter ihnen dazu steht.

Doch was hat das mit LaserTag zu tun, als einer Gefahr für die Jugend, wie sie die Gerichte und der Jugendschutz in Bayern gegenwärtig heraufzubeschwören versuchen? Um dies zu verstehen, kann es nützen, auf die Herkunft dieser Spielentwicklung zu verweisen. Die Lasertechnik wurde in den 70er Jahren erstmals von den US-Streitkräften genutzt, um im Gefechtstraining die Treffer zu simulieren und deren Genauigkeit zu berechnen. Unter Nutzung dieser Technik und angelehnt an den Film "Star Wars" [2] wurden in den 80er Jahren die ersten LaserTag-Arenen in den USA gegründet. Eine kommerzielle Spielidee also, die sich schnell über die Welt verbreitet und seit ca. 10 Jahren auch in Deutschland ihren Einzug gehalten hat. Ein Wettkampfspiel, bei dem sich zwei gegnerische Teams über ein Spielfeld verteilen, sich mit Geschick und taktischem Verhalten gegenseitig durch einen Infrarotstrahl markieren und so um das Erreichen der höchsten Punktzahl kämpfen. Ein Kriegsspiel also? Oder doch eher das alte Räuber und Gendarm Spiel mit gegenseitigem Abklatschen? Betrachtet man die Ausstattung der ersten Arenen aus den 80er Jahren und das zugehörige Equipment, so ist der ursprüngliche Kriegsspielcharakter eindeutig sichtbar und kann nicht ignoriert werden.

Heute ist LaserTag in Deutschland jedoch nicht mehr so einfach und ausschliesslich dem Genre des Kriegsspiels zuzuordnen. Zu viele neue Spielkonzepte wurden entwickelt und erprobt und an die Altersstufen der Spielenden angepasst. In den Bundesländern existieren mittlerweile futuristisch ausgestaltete Arenen neben märchenhaften Szenarien, schlichte einfache Arenen neben beeindruckende Spielzentren und das mit jeweils völlig unterschiedlichen Spielkonzepten, in denen zum Teil mit Mannschaften gegeneinander aber auch als ein Gesamtteam gespielt werden kann.

Dennoch wird gegenwärtig versucht, das Thema LaserTag verallgemeinernd als Kriegsspiel und damit als eine Gefahr für Kinder- und Jugendliche zu brandmarken. Das ist verständlich, wenn man ausschliesslich die ursprüngliche Konzeptidee zugrunde legt und diese mit der Sorge um diejenigen Jugendlichen verknüpft, die aufgrund von persönlichen Erlebnissen in ihrem Leben psychische Störungen aufweisen und jede Möglichkeit nutzen, ihre Aggressionen weiter hochzuschrauben oder nach einem Ventil suchen, um ihre innere Wut herauslassen zu können. Aber ist es angemessen, ausschliesslich eine möglicherweise hilflose Art der 'Selbsttherapie' vereinzelter Jugendlicher, die sich in schwierigen persönlichen Situationen befinden, zur Bewertung einer Spiel- und Sportart heranzuziehen und dabei nicht einzubeziehen, dass die Mehrheit der Spielenden LaserTag für sich ganz anderes bewertet?

Vielleicht haben sich ja die heutigen Variationen zu einer Spielart weiterentwickelt, die nicht nur Freude, Spaß und Spiel in einem Gruppengeschehen ermöglicht und bei der man sich zusätzlich noch sportlich derart intensiv betätigen muss, dass gerade der Alltags-Stress und/oder die Aggressionen nicht - wie zugeschrieben - aufgebaut, sondern ganz im Gegenteil sogar abgebaut wird? Vielleicht sollte hier noch genauer hingeschaut werden und nicht aufgrund mangelnder empirischer Ergebnisse und veralteter Erkenntnisse Urteile gefällt werden, die auf die heutige Alltagsrealität überhaupt nicht mehr zutreffen?

Wo sind eigentlich die Bewertungen durch die Spielenden selbst in die juristischen Begründungen eingegangen? Oder wurde hier einfach nur über sie hinweg entschieden? Wir haben uns umgesehen und über hundert Spielende zu LaserTag befragt. Sie haben unsere Einschätzung bestätigt, dass die Beschreibung von LaserTag als einem Kriegsspiel eher eine Projektionsfläche zur Kanalisierung von Erwachsenenängste abgibt, als dass sie das reale Erleben in dieser Spielart nur annähernd trifft und beschreibt [3].

Vielleicht wäre es sinnvoll, nicht hinter jedem Spiel gleich Kriegsgelüst oder Gewaltbereitschaft von Jugendlichen zu vermuten, sondern erst einmal die in diesem Zusammenhang zu stellenden ethischen Fragen neu und anders zu denken. Es hat seine historische Bedeutung und Berechtigung, gerade in Deutschland primär die Friedensbereitschaft unter den Jugendlichen zu fördern. Nur muss dann den Jugendlichen auch die Möglichkeit gegeben werden, für sich selbst und untereinander herauszufinden, wie sich sich dazu in der heutigen globalisierten Welt positionieren wollen.

Ihnen Möglichkeitsräume zu nehmen, in denen sie sich im spielerischen Wettkampf zu von ihnen gewählten Szenarien erproben können, entmündigt Jugendliche. Und es versperrt ihnen die Möglichkeit zum Wirklichkeitstransfer, der ja gerade in der Adoleszenzphase im geschützten Raum und in Peers ohne den mahnenden Zeigefinger der älteren Generation erfahren werden soll.[4] Sicherlich kann dies heutzutage im Jugendalter nicht mehr durch Kasperl und Schutzmann oder durch Cowboy und Indianer passieren, sondern mit Hilfe von zeitgemäßen Medien und Bildern, denn jede Generation erschafft sich ihre eigenen Phantasiewelten mit ihren eigenen Helden.

Wie anders sollen Jugendliche sonst zu Ergebnissen kommen, wie die Jungs von Longeverne und Velrans es ihnen vormachten? Sie haben weder durch den pädagogischen Zeigefinger noch durch Verbote ihr Verhältnis zur Gewalt für sich geklärt, sondern indem  sie in spielerischem Ernst die Erfahrung von Demütigung und auch körperlichem Schmerz selbst durchlebt haben. Und wir wissen es doch seit Jahrzehnten: nur so kann man für sich und in der eigenen Gruppe zu einer eigenen ethisch positiven Entscheidung kommen.

Der Schutz von Kindern und Jugendlichen vor Gewalt und Gefahr ist eine wichtige Errungenschaft in unserer Zeit und kann nicht hoch genug bewertet werden. Dieser darf allerdings nicht dazu beitragen, dass vor lauter Sorge eindimensionale Blicke ausschliesslich auf die möglichen Gefahren geworfen werden und dabei mögliche Chancen, die sich gleichfalls bieten, einfach auszublenden. Ist es nicht zu einfach, die Ängste aus der Erwachsenenwelt auf ein Spielgenre zu übertragen? Wird da nicht von den eigentlichen Ursachen der Gewalt nur abgelenkt? Die jüngsten Gewalttaten von Jugendlichen weisen doch eindeutig darauf hin, dass hier ein mehrdimensionaler Blick angesagt ist.


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1 Er basiert auf dem gleichnamigen Roman von Louis Pergaud aus demJahr 1912.
2 Star Wars Filme: http://de.starwars.com/filme
3 Befragung von über einhundert LaserTag Spielenden zu ihrer Einschätzung zum Spiel und zum Thema Gewalt. Erscheint demnächst.
4 Im Sozialgesetzbuch (SGB VIII) ist verankert, dass Kindern und Jugendlichen Angebote zur Verfügung gestellt werden sollen, die an ihren Interessen anknüpfen, von ihnen mitbestimmt und mitgestaltet werden sollen, sie zur Selbstbestimmung befähigen und zu gesellschaftlicher Mitverantwortung .... hinführen sollen. Offensichtlich ist dies in den letzten Jahren immer weniger gelungen, aus welchen Gründen auch immer. Die Jugendzentren sind leer. In diese Lücke sind die private Betreiber gestossen. Sinnvoll könnte es sein, letztere nicht nur dem kritischen Blick zu unterziehen, sondern gemeinsam zu überlegen, ob durch Kooperation und gegenseitiger Verknüpfungen neue Impulse in der Kinder- und Jugendarbeit entstehen können, die mithelfen, mehr Jugendliche aus der Vereinzelung zu führen und/oder sie von der - virtuellen und realen – Strasse zurückzuholen.

LaserTag - "Da schiessen die doch aufeinander, oder?"

Wenn ein Studiensemester zu Ende geht, dann kommt die Frage nach dem gemeinsamen Abschluss. "Gehen wir LaserTag spielen," betteln einige. "Ihr spinnt," sagen die anderen, "das ist doch das Spiel, da schiessen die aufeinander. Eeeeh ist doch Gewaltspielen, oder!" Nach kontroverser Diskussion dann das Fazit: Wir machen dazu ein Projekt. Gehen dann aber doch erstmal zusammen spielen.

Es gibt ein Einführungsvideo. Die Spielwesten werden angelegt. Die Fazer in die Hände und ab gehts in die Arena. Ich begebe mich auf meinen Beobachtungsposten, blicke durch eine Glasscheibe auf das Geschehen und traue meinen Augen nicht. Innerhalb von Sekunden verwandelt sich diese zurückhaltende Studierendengruppe – wenn es um gelesenen Texte geht – in eine Schar herumrasender, quietschender und lachender Jugendlicher, die sich gegenseitig im Halbdunkel zu fangen versucht. Dieses 'Fangen' geschieht durch das Markieren mit dem Fazer in ihren Händen. Durch einen Infrarotstrahl wird markiert, ob der oder die Andere erreicht wurde. Hat es funktioniert, dann gibt es Punkte für den Einzelnen und für die Mannschaft. Das Ergebnis wird zeitgleich an den Punktecomputer im Foyer weitergegeben. Die Mannschaft mit den meisten Punkte hat gewonnen. Und das ist wohl auch der Grund, warum im Spiel mit so viel lautstarkem Eifer herumgerannt wird.
"Boah eeyh, das war echt geil". Verschwitzt und abgekämpft umringt mich die Gruppe nach dem Spiel. "Ich hätte nie gedacht, dass das so anstrengend ist." "Macht Spaß" "Echt geil." "Gleich nochmal, ok?" "Nee, bin total kaputt!" Die Stimmung ist ausgelassen, Getränke löschen den Durst, während darüber nachgedacht wird, was dieses LaserTag eigentlich bedeutet.
"Spielen, Rumrennen." "Naja, wenn wir in Mannschaften gegeneinander antreten, dann ist das eher Wettkampf." "Gewaltspiel?" frage ich in die Runde. "Nee, eigentlich wirklich nicht." "Es wird doch immer wieder so bezeichnet, und wie verknüpfen wir das mit unseren eigenen Erfahrungen?" 
"Erstmal ne Medienanalyse, um zu sehen, warum das so gesehen wird." "Befragung von Spielenden, wie die das sehen." "Mal gucken, wo das Spiel herkommt, wofür wurde es entwickelt und ob das mit der Gewalt da herkommt." Wir verteilen die Arbeiten in den Gruppen und das Projekt beginnt unter dem Themendach "Gewaltspiel - ja oder nein":
o   Entwicklung von LaserTag in Deutschland (folgt)
o   Befragung von Spielenden (folgt)
o   Medienanalyse (folgt).
Doch dann die Frage: "Wir gehn jetzt aber noch nicht, wir spielen doch nochmal, oder?"


Eine weitere Gruppe entschliesst sich, das Thema unter einem anderen Aspekt aufzugreifen: Ein Bildungsprojekt mit Migrantenvätern. Auch hier gibt es wieder grosse Zustimmung zum Spiel. "Das kann man Generationen übergreifend spielen. Väter treten mit den Kindern an. Es gibt so viele verschiedene Spielmodi, da kann man gut was finden, das passt." "Und ab welchem Alter würdet ihr sie mitnehmen?" frage ich. "Naja, elf, zwölf sollte er schon sein", bekomme ich zur Antwort. "Er?" "Ja, wieso?" "Ich weiss, was Sie meinen" lacht ein Studierender. "Er hat aber keine Tochter. Meine würde ich mitnehmen. Klar doch, wir machen immer alles zusammen." "Man kann auch die älteren Mädchen spielen lassen. Die zieren sich doch immer so vor den Jungs, finden sich nicht schön genug und sind dann so verkrampft. Hier im Halbdunkel, mit den schwarzen Klamotten, da ist es doch völlig egal, wer man ist und wie man aussieht."
Auch die Betreiber von LaserTag sind offen und überlegen, welche weiteren Spielkonzepte für diese Zielgruppe entworfen werden könnten. Darüber sollten wir nachdenken, ab welchem Alter diese Spiele für Kinder und Jugendliche geeignet sind. Und schon hat die Gruppe eine neue Aufgabe:
o   LaserTag - für jedes Alter? (folgt)
o   Eltern-Kind-Spiele bei LaserTag? (folgt)


Am Fachbereich spricht sich herum, dass wir spielen gehen. "Können wir nicht auch mal mitgehen" fragt der Musikkurs? "Nur wenn wir eine Projektidee entwickeln," gebe ich zur Antwort. Schon sind wir bei LaserTag. "Und? Schon eine Idee," frage ich die abgekämpfte Gruppe, die sich mit hochroten Köpfen und völlig erschöpft wieder im Foyeur sammelt. "Nee", bekomme ich zur Antwort, "das ist doch gut hier, die haben doch, was sie brauchen." Ich bohre weiter "Transferdenken meine Lieben, hier ist die Arena, da ist das Spiel, das LASER-Spiel und ihr habt das Thema Musik. Also denkt nach." Stille. Plötzlich holt M. sein Smartphone heraus. "Ich habs, wartet mal. Guckt mal hier! Laser. Guckt mal hier, was das ist." Er zeigt auf sein Display. "Hier, das ist eine Laser-Harfe. Wir machen Laser-Musik!" "Eeeh, wie geht das denn?" alle drängeln sich um das Smartphone, doch keiner sieht was. Die Betreiber schaffen die Verbindung zu einem großen Bildschirm und da ist sie zu sehen, die Laserharfe. "Wir bauen eine Laserharfe?" "Warum nicht", ist die Antwort meiner Musik-Kollegin, "Eine solche macht doch Musik, oder?" Doch das Projekt erweist sich als unrealistisch. Es ist wegen der Laserstrahlen zu gefährlich, und es muss immer jemand zur Beobachtung abgestellt werden. Was nun? Wieder haben die Betreiber eine Idee. Sie führen uns durch die Anlage. "Hier, hier ist ein Raum ungenutzt. Hier könnt ihr Musik machen." "Ja, wie jetzt?" "Ja, wir entwickeln mit Euch hier ein Jugendzentrum Laser 2.0. Denkt mal drüber nach. Den Raum kriegt ihr." 

Ein Semester hat es gedauert, bis die zündende Idee kam:

Die Konzeptidee
Das Raumkonzept





















Wir  entwickeln eine Musikmaschine, eine mit "Musik für alle", egal ob jemand ein Instrument spielt oder auch nicht. Ein Raum, eine Musikmaschine, die Musik zum Spiel, als Wettbewerb, welche Musik passt zu welchem Spielkonzept von LaserTag. Es werden iPads gekauft, GarageBand geladen, und schon geht das Experimentieren los:

Die Planung



Die Verknüpfung offener Jugendarbeit, privaten Betreibern von Spiel- und Sport-Arenen und Hochschule - ein möglicher Ausweg aus der Krise der Offenen Jugendarbeit? Neues entsteht in der Zusammenarbeit von Know-How, von Ideen und durch das Realisieren von Möglichkeitsräumen? Das ist nicht mehr einfach so von der Hand zu weisen, angesichts knapper öffentlicher Kassen und der Verödung von Jugendhäuser in den Stadtteilen und auf dem Land.


Bisher sind lediglich die Bauämter und zum Teil die Jugendämter an den Genehmigungsverfahren solcher neuen Spiel- und Sportstätten beteiligt. Daher rührt u.E. auch der eingeschränkte kritische Blick in den öffentlichen Kommentaren zu dieser Entwicklung. Sozialpädagogische Kenntnisse und erlebnispädagogische Erfahrungen werden bei den Bewertungen bisher noch nicht hinzugezogen.

Dabei ist diese Entwicklung bereits in vollem Lauf, die ersten Zentren Jugend 2.0 sind dabei zu entstehen. Sie müssten bloss einmal wahrgenommen und mehr unterstützt werden. Es ist völlig falsch und unzureichend, Neues immer nur aus der Perspektive potentieller Gefahren in den Blick zu nehmen.


Jugend im Netz – "Boah-eeeh! Der schneidet dem echt jetzt den Kopf ab!"

LaserZone Spiel- und Sportstätte in Essen
Einmal im Jahr stehen Studierende vor mir und stressen, sie hätten keinen Praktikumsplatz gefunden. Zu ihrem erfolgreichen Studienabschluss gehört aber der reflexive Austausch mit der Praxis. Den müssen sie nachweisen. Also müssen sie sich weiter auf die Suche begeben, bis sie irgendwann fündig werden.
Da ist z.B. A., der sich für die Jugendarbeit interessiert. Bei etlichen Jugendhäusern hat er bereits angefragt. Und immer wieder hörte er: "ja, eigentlich sehr gerne. Aber wir haben keinen Bedarf für Dich im Moment. Ganz ehrlich, es ist hier zwar alles sehr schön, aber die Jugendlichen kommen einfach nicht mehr, Du hättest hier fast immer nur leere Räume und würdest Dich nur langweilen." Und so geht die Suche nach den verlorenen Jugendlichen für A. weiter.

Vor einem Jugendhaus in Bad Vilbel

Ich begebe mich selbst auch auf die Suche. Sie sind zum Teil wirklich beeindruckend, diese Jugend-Einrichtungen. Und die Jugendlichen die sich dort aufhalten, die können auch etwas. Hier zum Beispiel haben sie einen LKW fantasievoll bemalt. "Was macht ihr alles damit?" frage ich die Sozialarbeiter im Zentrum. "Naja, wir sind da mal mit rumgefahren", bekomme ich zu hören, "und heute stehen da unsere Fahrräder drin." Es ist nicht das einzige Beispiel, das mir begegnet, wo sich gute Ideen im wahrsten Sinne des Wortes leergelaufen haben, da die Jugendlichen wegbleiben.


Jugendraum mit Kicker und Billard
Esslingen
Und da hilft auch kein Kicker und kein Billard und auch keine Toleranz gegen über extremistischen Ideologien und kein Wegschauen gegenüber weichen Drogen und Alkohol. Kistenweise schleppen Jugendliche das Bier in einem Nordhessischen Dorf in ihr autonomes Jugendzentrum, wenn sie die jährliche traditionelle Zeltkirmes planen. Mehr gibt es dort nicht. Und das Trinken, das gehört nun halt mal dazu, sagen die Älteren. Hier ist doch ansonsten nix mehr los, auf dem Land.
Jugendarbeit heute. Wo gibt es die noch? Ist sie überholt? Oder hat sie versagt? Läuft sie an den Interessen der Jugendlichen vorbei? Nicht überall. Noch immer gibt es Engagierte, die Jugendliche mit spannenden Projekten an sich binden können. Aber es sind wenige. Und so forderte der Kriminologe C. Pfeiffer bereits vor einem Jahrzehnt die Abschaffung der herkömmlichen Offenen Kinder- und Jugendarbeit, da diese aufgrund ihrer Überpädagogisierung überwiegend wie Erziehungscamps, Jugendheime oder Hauptschulen agiere und „in verschiedener Hinsicht sehr belastete Jugendliche zusammenballen“ würde, so dass benachteiligte Jugendliche weiterhin nur unter sich bleiben würden. Eine lebendige Mischung sei für ihn in diesen Häusern kaum noch gegeben. [1] Obwohl wir Pädagogen und Erzieher gegen diese Einschätzung Sturm liefen, sind seine Argumente damals wie heute nicht ganz von der Hand zu weisen, denn ein Stadtteilzentrum ist ein Stadtteilzentrum und ein Jugendzentrum auf dem Land ist eben auch dort verankert.

Wo aber finden wir die Jugendlichen heute in ihrer freien Zeit, wenn sie nicht durch Schulanwesenheitszeiten reglementiert oder durch zu erledigenden Schulkram blockiert sind? Haben sich ihre Interessen etwa gewandelt? Der Medienpädagogische Forschungsverbund Südwest (mpfs) führt in jährlichem Turnus hierzu eine repräsentative Studie durch und hofft, dass diese Daten "zur Erarbeitung von Strategien und Ansatzpunkten für neue Konzepte" in den Bereichen Bildung und Kultur dienen. Doch diese Studien sind offenbar nur den wenigsten Fachkräften in der Jugendarbeit bekannt. Dabei geben sie Hinweise, was Jugendliche gerne machen und wohin der Blick in der Jugendarbeit vielleicht einmal verstärkt gerichtet werden sollte.














Wie schon seit Jahren gewinnen im Vergleich zur Kindheit in dieser Altersphase der autonome Umgang mit Freunden und Peergroups an Wichtigkeit. Auch der Sport spielt eine nicht zu unterschätzende Rolle. Das alles hat sich kaum verändert. Aber eines ist anders geworden: Das Bild vom einsamen, unbeweglichen Jugendlichen, der vor seinem PC-Bildschirm im abgedunkelten Zimmer weltweit vernetzt in Action- und Gewaltspiele versunken ist. Dieses Bild scheint der Realität nicht mehr zu entsprechen. Die Jugendlichen haben sich heute eindeutig anderen Bereichen zugewandt.



Die Beschäftigung mit Computer- und Spielkonsolen oder Onlinespielen ist dem flexiblen Surfen durch das transportable Handy gewichen. Die Jugendlichen sind heute überall auf der Welt zu Hause. Sie vernetzen sich mit dem Rest der Welt und blicken von ihren Geräten kaum noch auf und in das Alltägliche vor ihnen hinein.
Da ist zum Beispiel das Pokémon-Go-Fieber, das gegenwärtig um sich greift. Ausgelöst durch ein virtuelles Spiel, das dazu animiert, das Virtuelle in der realen Welt zu suchen und mit ihr zu verknüpfen.


Einzeln oder auch in Gruppen laufen Jugendliche - und nicht nur die - mit dem Blick auf das Handy durch die Welt, egal ob andere Personen oder gar Fahrzeuge ihnen in den Weg kommen. Sie nehmen Unfälle in Kauf, laufen Strassenschilder um, und das nur, um bei diesem Online-Erlebnis voranzukommen und etwas zu gewinnen. Das perverseste Beispiel kommt aus Bosnien, wo Jugendliche durch vermintes Gelände stapfen, um diesen besonderen Hype des Spiels zu erleben: Ein Spiel bis in den möglichen Tod.


Kaum jemand weiss heute genau, was Jugendliche mit ihren Handys gerade so tun, was sie dort suchen und/oder finden. Eine Kontrolle findet nicht statt, weder zeitlich, noch inhaltlich und ist auch gar nicht mehr möglich. Die Jugendlichen sind zwar präsent und sichtbar, entwischen aber gleichzeitig in eine andere, in ihre virtuelle Welt. Manchmal lassen sie die Aussenwelt am Geschehen in ihren Geräten auch teilhaben.
"Boah-eeeh! Der schneidet dem echt jetzt den Kopf ab!" Es sei dem Aufschrei nicht zu entnehmen gewesen, ob es sich um Entsetzen oder um Bewunderung gehandelt habe, berichtet die Betreuerin einer Hausausgabenhilfe in einem unserer Seminare. Und sie ist nicht die Einzige, der sich wie durch Schlaglicht erhellt, was die Jugendliche denn da so treiben, wenn sie ihnen erlaubt, nach erledigten Hausaufgaben das Handy wieder aus der Tasche zu holen. Sie surfen mit den Keyboard-Jihadisten, den Fanboys und immer öfter auch Fangirls, die mithelfen, die brutalen Foltervideos der Terroristen des selbsternannten Islamischen Staates (IS) in der ganzen Welt zu verbreiten.
Das sei "doch nur Sensationslust, Nervenkitzel, action virtuell und ein Dazugehörenwollen, eine Mode, die vergeht", beruhigen die Einen. "Das gehört heute doch dazu, diese Faszination und Identifikation mit den Salafis, als Auflehnung und Hilfe zur totalen Ablehnung dessen, wie sie sein sollen" wissen die Anderen. Diese Videos – so beruhigt man – würden doch nur von Gerät zu Gerät weiterverschickt. Das wäre doch nichts Neues. Ich bin erstaunt. Ist das eine professionelle Reaktion von ausgebildeten Fachkräften zu einer Form der Auseinandersetzung von Jugendlichen mit Gewalt gegen Menschen bis hin zur Tötung?

Andere wiederum übernehmen mehr Verantwortung und machen sich auf den Weg, diese Jugendlichen, die ihnen doch face-to-face gegenübersitzen, im Netz zu suchen. Und sie finden die Videos, das Propagandamaterial und auch die Rap-Songs, die bei den Jugendlichen gerade in sind, wie z.B. von SadiQ. Hier ein Auszug aus einem seiner Songs:

"Illegal im Benz, in FFM
Komm mit der AK-Al-Qaida Slang
Schieße für Gaza, Guantanamo, Mali ich baller mit Arabern, Pariser renn'
Für Palestine Sham, leb im Ghetto
Der Khorasani wir lieben den Tod
Stürme wie Pogba, Ribery, Benzema,
doch spuck auf den Hand der Équipe tricolore
Schieße, schieße, schieße
Schieße die Kugel ne 9mm 
..." [2]

Ja, das hören sie, die Kopfhörer auf den Ohren und das rappen sie nach, bei ihren Treffs irgendwo in den Ecken und Strassen der Stadt. Doch diese Plätze sind immer schwerer aufzufinden, und auch kaum erkennbar, wenn eine Gruppe sich im Rap-Rhythmus wiegt, mit geschlossenen Augen vor sich hinmurmelnd. Dazu braucht es heute kein Jugendhaus, es reicht eine Bank, ein Handy, Kopfhörer und eine Flatrate. Aber Streetwork kann sich ebenso auch auf die virtuellen Strassen begeben. Denn hier sind die Jugendlichen wieder zu finden, als Einzelne und oder in Gruppen. In ihren Chats, auf ihren Fan-Seiten und manchmal bereits mit ihren Hilfeschreien bei einer der zahlreichen virtuellen Beratungsstellen der Sozialen Verbänden. Vielleicht ist das ein Weg, zu den Jugendlichen zu finden, die zwar körperlich anwesend sind, aber mit ihren Sinnen in einer ganz anderen Welt.

Gehen wir hinein in diese Welt und fragen  die Jugendlichen dort einmal selbst, was mit ihnen los ist. Hören wir auf mit den Workshops zur politischen Bildung, den Mediationskursen gegen Aggression. Sehen und hören wir ihnen doch erst einmal zu, was sie bewegt. Das Netz ist voll von ihren Geschichten, vom Mobbing, von Gewalt, allerorts auf vielfältige Weise erlebt, zu Hause, auf der Strasse, in den Institutionen. Es ist all das "gegen das Du dich nicht wehren darfst, weil DU dann zum Täter wirst, egal was DIR vorher widerfahren ist." 

Warum glauben wir ihnen das eigentlich nicht, oder erst immer dann, wenn es zu spät ist?

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1 Pfeiffer, Christian/ Rabold, Susann / Baier, Dirk (2008): Sind Freizeitzentren eigenständige Verstärkungsfaktoren der Jugendgewalt? In: ZJJ 3/2008, S. 258-268
2 Das zugehörige Video wurde aufgrund einer Entscheidung der Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien mittlerweile aus dem Netz genommen. Zum Thema Rap-Musik als Einstieg ins islamistische Denken demnächst mehr.


Zur Gleichzeitigkeit von Stärke und Schwäche in der einen Idee – Ein Gespräch mit Selçuk Salih Caydı - Teil 2

Red Bull Anadolu Break
Pera Museum Istanbul
Wir haben von der Stärke und der Schwäche der AKP Regierung gesprochen. Ihre Stärke ist die Umsetzung der Idee "WIR sind wieder wer". Ihre Schwäche ist die mangelhafte Ausführung dieser Idee und vor allem aber deren ideologische Ausrichtung.

Genau. Die Schwäche der AKP ist, dass sie den Wunsch der Bevölkerung nach diesem "WIR sind wieder wer" einlöst, diesen aber mit dem salafistischen Islam zu füllen versucht, und dabei von einem ottomanischen Reich redet, obwohl es doch einzig und allein um die Etablierung einer Ein-Mann-Herrschaft geht.
Das ist nicht weltgewandt, d.h. so etwas können sie in der heutigen Welt auf Dauer nicht mehr durchsetzen. Das wird auch von keinem ihrer Nachbarn anerkannt, niemand wird dieser Idee nachfolgen, egal wo auch immer in der Region dass versucht wird. Dafür gibt es genügend Beispiele aus der jüngsten Vergangenheit. Aufgabe der Opposition wäre es aus meiner Sicht, diese Grundidee richtig umzusetzen. Wenn die Opposition nämlich eine ganz eigene Internationalisierungs-strategie entwickeln würde und in diese das vorhandenen breite türkische Kulturangebot einbindet, wäre damit ein Gegengewicht zur AKP geschaffen, da diese einen solchen Rahmen nicht bieten kann.

Sie kann einen solchen Rahmen nicht bieten, da sie über die kulturelle Vielfalt in der Türkei den islamistischen Mantel deckt und nur diesen nach außen zeigt?

Ja. Und genau hier liegt die Chance der Opposition, wenn sie nämlich im Rahmen einer neuen Internationalisierungsstrategie mit der kulturellen Vielfalt anders umgehen und diese mehr herausstellen würde. Wenn sie in allen internationalen politischen und kulturellen Gremien präsent wäre und dort das reale, vielfältige Bild von der Türkei präsentieren würde, als das nur islamistische der AKP Regierung, dann würde sie auch wieder an Stärke gewinnen. Und im internationalen Rahmen würde dann auch klarer aufgezeigt, dass die AKP lediglich 50 %Prozent - beziehungsweise noch weniger - der türkischen Bevölkerung vertritt.

Ich habe den Eindruck, dass dies der HDP besser gelingt, als der CHP. Deren Vorsitzender Demirtaş ist in der EU und in den USA weitaus präsenter als Kılıçaroğlu von der CHP. Gerade vor kurzem war Demirtaş in Deutschland. Aber natürlich sind auch seine öffentlichen Auftritte kein Vergleich zu den 'Wahlkampfauftritten' von Erdoğan im letzten Jahr. Aber Demirtaş tut wenigstens etwas, um die HDP im Ausland zu präsentieren. Doch das gelingt der CHP überhaupt nicht. Sie könnte schließlich ein gutes laizistisches Gegengewicht zur AKP Partei bilden. Sie ist assoziiertes Mitglied der Sozialistischen Partei Europas und Vollmitglied der Sozialistischen Internationale. Warum vertritt sie nicht lautstark ihre Position und holt sich für ihr Land dort mehr Unterstützung?

Stimmt. Bislang hat die CHP darauf viel zu wenig Wert gelegt. Aber sie hat damit begonnen. Delegationen wurden nach Syrien geschickt, um mit Assad zu sprechen, Abgeordnete reisten nach Russland… Aber Du hast Recht, im Grunde ist das viel zu wenig für eine Partei, die die Republik gegründet hat und die wieder an die Macht kommen will. Dabei gäbe es so gute Möglichkeiten, wenn sie z.B. in diesem Zusammenhang auch ihre eigenen Geschäftsleute und ihr eigenes ausländisches Kapital animierten, so dass durch sie die eigenen säkularen Kulturen mehr unterstützt werden könnten und überall in der Welt sichtbarer würden. So könnten die Leute in der Türkei aus den Medien erfahren, wie präsent ihre kulturelle Vielfalt im Ausland ist. Das wäre dann eine ganz  andere Art, zu zeigen "Seht her, dass sind wir auch." Und hieraus entstände dann wieder eine selbstbewusste Gegenkultur zu dem inhaltsleeren islamistischen 'WIR sind wieder wer' der AKP.

Es stimmt, diese Vielfalt der 'säkularen Kultur' ist im europäischen Kontext nicht lebendig. Lediglich ausgewanderte oder im Ausland geborene Künstler – wie beispielsweise Fatih Akın – versuchen gegenzusteuern und zeichnen ein anderes Bild, das Bild der modernen Türkei, auch mit all ihren Widersprüchen.

Fatih Akın – und das muss man auch immer wieder betonen – ist ein ganz wichtiges Beispiel dafür, was aus jemandem mit türkischem Hintergrund werden kann, wenn ihm das freie Denken nicht verboten wird!

Ja, aber dann stößt sein Film über die Armenier in der Türkei genau auf diese Ablehnung und diesen Widerstand, beziehungsweise er wird erst gar nicht öffentlich gezeigt.

Ja, aber das ist ihm egal, denn er lebt in Deutschland. Und er hat seine Öffentlichkeit außerhalb der Türkei. Aber genau das meine ich: Die Präsenz 'unserer' Künstler in der ganzen Welt, das ist es, was für uns in der Türkei so wichtig wäre.

Gibt es in der Türkei eigentlich vergleichbare Beispiele mit einem solchen Erfolg wie Fatih Akın?

Aus dem Pera Museum - Istanbul

Nein. Und das hat einen ganz einfachen Grund, weil hier alles verboten ist. Hier musst du auf so viele Sachen achten. Du musst deinen Ausdruck und deine Sprache total kontrollieren. Du musst genau wissen, was erlaubt und was verboten ist ... Es gibt tausend Hürden. Wir lesen ja täglich, was passiert, wenn man sich nicht genau daran hält, in der Kunst, in der Wissenschaft oder in den Medien. Wenn man der Kunst und der Wissenschaft aber keinen freien Raum gibt, dann bleibt sie oberflächlich und ist für den internationalen Austausch uninteressant, da sie die weltweiten Standards verfehlt.


Wenn dieser Freiraum nicht gegeben ist, dann sollte sich die Opposition ihn wieder erobern, gegebenenfalls mithilfe von Partner-Organisationen und -Gruppierungen im Ausland? Ist das der Weg, den Du siehst?

Ja, wenn die türkische Bevölkerung wieder merkt, dass sie geachtet und akzeptiert wird, dass ihre kulturellen und wissenschaftlichen Vertreter wichtig sind, dass sie wieder in internationalen Gremien und Jurys einen Platz erhalten, dass sie von Franzosen, Afrikanern, Amerikanern, Chinesen und Japanern akzeptiert und wieder mehr eingeladen werden, dass sie Preise gewinnen, ihre Vorstellungen von Politik, Kunst und Kultur und sozialem Leben öffentlich diskutieren ... dann wird plötzlich die ganze Breite sozialer, politischer und kultureller Vielfalt sichtbar, wie sie im Lande ja real vorhanden ist. Und so kann man Zug um Zug das Gegenbild zu diesen beschränkenden islamistischen Vorstellungen aufzeigen.
Dann wird das auch im Inland gesehen, zumal es sich hier nicht um etwas von außen Aufgesetztes handelt, sondern im Gegenteil das Eigene und Besondere in diesem Lande wieder mehr hervorgehoben wird.

Ich könnte mir das gut als Gegenbewegung zu dem vorstellen, was gegenwärtig aus der Türkei zu uns so hinüberschwappt. Erdoğan und seine ihm ‘noch‘ Vertrauten versuchen ja die im Land bestehende Polarisierung auch in die europäischen Länder hineinzutragen und die im Ausland lebende türkische und türkisch-stämmige Bevölkerung damit ebenfalls zu spalten. Durch diese Spaltungsversuche werden die rechtsnationalistische Gruppierungen im Inland und im Ausland gestärkt. Diese Versuche stossen bei der Mehrheitsbevölkerung auf harsche Ablehnung und führen zum weiteren Erstarken der sowieso latent vorhandenen Islamophobie in den europäischen Ländern. Eine Gegenbewegung zum dem Unfrieden stiftenden Teil aus der Türkei also.

Das wäre ein Versuch wert, denn diese nationalistische konservative islamistische Schiene der AKP hat in Europa – das sieht man ja jetzt bereits –absolut keine Erfolgschance. Sie ist rückständig und wirkt auf die Europäer nicht gerade attraktiv. Sie führt zur weiterer Ghettoisierung und Ausgrenzung und letztlich – wie wir gesehen haben –  zur Radikalisierung eines Teils in der Bevölkerung, wie diejenigen, die aus den europäischen Ländern aufbrechen, um in den Heiligen Krieg gegen den Westen zu ziehen.
Ich denke, es geht vielmehr darum, ein in die Welt gewandtes, integriertes neues Türkentum entstehen zu lassen. Atatürk hat das einmal auf seine Weise angefangen. Seine Art, wie er es durchsetzen wollte, die ist gescheitert. Das muss man heute akzeptieren und muss jetzt etwas Neues daraus machen. Es gilt einiges neu zu ordnen, und zwar auf der Grundlage einer neuen Qualität, die nicht zerstörerisch und spaltend wirkt, sondern die integrierend, offen und zeitgemäß ist. Ich glaube hier müssen wir in der Türkei noch viel lernen, zu fest verankert ist das spaltende polarisierende Denken im Land.

Ziel der Opposition sollte daher weiterhin der Beitritt der Türkei zur EU sein. Doch hierzu muss sie selbst erst einmal die demokratische Basis für eine säkulare Türkei schaffen bzw. wiederherstellen. Das versäumt sie aber bisher. Innenpolitisch blickt sie lediglich auf die Aktivitäten der AKP und versucht, den allergrößten Schaden für das Land noch zu verhindern. Zu mehr ist sie im Moment nicht in der Lage.

Und genau dabei müsste sie eine breite Unterstützung aus den europäischen Ländern erhalten, damit sie sich auch auf andere Aufgaben konzentrieren kann. Die Unterstützung sehe ich bislang kaum.

Das ist ja zum Teil auch verständlich. Die offizielle Politik in der Türkei wird gegenwärtig halt von der AKP gemacht. Und mit der AKP-Türkei muss man dann verhandeln. In Europa darf man nur nicht in den Fehler verfallen und so tun, als stehe man hinter dieser islamistischen AKP-Politik. Hier deutet sich in der EU nur sehr langsam ein Umdenken an. Man konnte ja auch lange Jahre davon ausgehen, dass man es mit einer laizistisch denkenden Regierung zu tun hat. Das hat sich durch die jüngsten Ereignisse geändert und muss in den politischen Gremien und Parteien der EU erst einmal verstanden und verarbeitet werden. Das heißt, im europäischen Raum müssen die eigenen roten Linien in Bezug auf die Türkei neu gefunden und klar definiert werden. Es muss klar Position bezogen werden, worin man übereinstimmt und wozu es keinen Kompromiss geben kann

Du bringst Deine ablehnende Haltung zur islamistischen Umwandlung in der Türkei sehr klar zum Ausdruck. Das ist verständlich, denn die Auswirkungen dieser Veränderungen sind ja täglich spürbar.
Deutschland ist in Bezug auf den Islam jedoch in einer etwas anderen Situation. Zum einen sind einem Großteil der Bevölkerung Ausrichtung und Unterschiede im Islam und Abgrenzungen zu radikal islamistischen Gruppen unbekannt. Und sie kennen die Hintergründe der aktuellen islamistischen Entwicklungen nicht. 
Zum anderen verstärkt sich durch die Ankunft von Flüchtlingen aus den Kriegsgebieten die Ablehnung gegenüber einreisenden Muslimen und führt zu einer Verstärkung islamophober Einstellungen. Wir haben es also auch in Deutschland mit einer Spaltung in der Gesellschaft zu tun. Viele im Lande lebenden Muslime fühlen sich von der Bevölkerung diskriminiert und sind gekränkt. So entsteht auch bei uns die Gefahr des verstärkten Zulaufs zu extremistischen islamistischen Gruppen.
Insofern ist der Idee einer breiten Kooperation antiislamistischer säkularer Strömungen im In- und im Ausland zuzustimmen. Dazu bedarf es aber in beiden Ländern noch eine umfassendere Auseinandersetzung mit der komplexen und emotionsgeladenen Problematik, bevor gemeinsame Strategien entworfen werden können.
















      links: Katalog Duvarları Dili: Graffiti / SokakSanatı
rechts: Fotosammlung Rumelihisarı İskelesi
Pera Museum - Istanbul





Zur Gleichzeitigkeit von Stärke und Schwäche in der einen Idee – Ein Gespräch mit Selçuk Salih Caydı - Teil 1