Eine Frau kämpft – "Mein Sohn will nach Syrien!" – Teil 3

Du hast Deinem Sohn gesagt, wenn er die Salafisten als seine neue Familie ansehen würde, dann solle er gehen und nicht mehr wiederkommen. Seine Familie habe er dann aber verloren. Wie hat er darauf reagiert?  

Er ist geblieben. Ich glaube es war die Liebe seiner Familie, die ihn hat überlegen lassen, doch wieder in die Normalität zurück zu kommen. Ich denke aber, er war noch sehr hin- und hergerissen zwischen dem Extremismus und seinem normalen Leben. Denn das war noch lange nicht das Ende von der Geschichte. Es hat ihn doch noch eine ganze Weile immer wieder zurückgezogen in diese "andere Welt". Ich habe dann aber angefangen, ihm auf eine andere Weise zu zeigen, dass mir das nicht gefällt. Ich bin ihn nicht mehr so direkt angegangen.

Was hast Du anders gemacht?

Naja, immer wenn es Proteste gegen die Salafisten in unserer Gegend gab, da war ich dann vorne mit dabei. Und das war gar nicht so einfach für mich, denn so etwas war ich ja gar nicht gewöhnt.

Bist Du da dann auch wieder alleine hingegangen?

Nein, diesmal nicht. Ich habe meinen ganzen Freundes- und Bekanntenkreis mobilisiert. Und auch die anderen Mütter, die ich mittlerweile kennengelernt hatte. Besonders mit einer, deren Sohn noch minderjährig ist, habe ich mich angefreundet. Denn nachdem die Sache mit meinem Sohn bei uns bekannt geworden war, haben mich plötzlich etliche Mütter angesprochen und mir ihre Sorgen erzählt. Es gab ja auch Mütter, deren Kinder nach Syrien gegangen sind. Die hatten ganz andere Sorgen als ich. Aber irgendwie hatten wir doch alle was Gemeinsames, nämlich die Angst um unsere Kinder.

Du sprichst immer von Deinem Kind. Aber Dein Sohn ist bereits ein erwachsener Mann, oder?

In dem Moment ist es mein Kind, wenn er so fremdgesteuert ist. Und das hab ich ihm auch immer vermittelt. Ich glaube, irgendwann hat er verstanden, was ich meine, wenn ich immer wieder gesagt habe, wage dich nicht mehr zu diesen Veranstaltungen, ich werde auch da sein, und ich krieg dich, ich hol dich da raus.

Und Du bist dann wirklich zu Protestveranstaltungen und Demonstrationen gegangen?

Ja, und solche Demonstrationen waren für mich, aber auch für die anderen Mütter eine ganz neue Erfahrung. Diese Proteste, alle Parteien waren vertreten, von den Grünen bis hin zur NPD. Das war schon ein komisches Gefühl für mich, zusammen mit der NPD gegen etwas zu sein. Ds war damals auch irgendwie merkwürdig, so als würden die Salafisten vor uns, vor den Demonstranten geschützt. Manchmal gab es richtige Absperrungen gegen uns. Und neben uns dann die NPD, man wurde richtig eingekesselt von denen und vor uns, neben uns lauter fremde Leute ... viele mit Trillerpfeifen. Ich auch (lacht).

Und wir Mütter haben dann andauernd geguckt, ob wir nicht doch unsere Kinder irgendwo sehen. Und es gab auch Mütter, die hatten Angst um ihre ziemlich jungen Kinder, wenn einer schon in Syrien war, dann hatten sie Angst, dass nun vielleicht auch noch der zweite auf diese schiefe Bahn kommen könnte. Übrigens war es interessant, dass uns besonders die Konvertiten total böse angeblickt und dumme Sprüche gegen uns von sich gegeben haben. Es gab auch manchmal aufregende Situationen, wenn eine Mutter ihr Kind dann doch gesehen hat. Da war die Polizei aber doch manchmal hilfreich und hat sie durch die Absperrung gelassen, damit sie ihr Kind da rausholen kann. Es war eine verrückte Zeit, manchmal sind wir hinter den Kindern richtig hinterher gehechtet und haben sie eingefangen. Wir haben uns verteilt und uns gegenseitig mit unseren Handys informiert, wenn jemand ein Kind gesehen hat. Und dann haben wir versucht, die zu erwischen. Einmal, das werde ich nicht vergessen, hat ein Paar auf einen jungen Mann eingeredet, er solle mit nach Hause kommen, aber er war so störrisch und hat sie beschimpft. Ich stand direkt daneben. Und irgendwann hat die Frau den jungen Mann losgelassen und hat mit Tränen in den Augen gesagt "dann geh, mach was du willst, du bist frei, aber dann komm auch nie zurück". Und der junge Mann ist dann abgehauen. Auch der Mann hat geweint. Es war eine schlimme Zeit für uns alle, die wir betroffen waren.

Und Du hast das wirklich alles durchgehalten?

Ja, überleg mal, das waren mehrere Jahre. Ich glaube mein Sohn hat auch mit deshalb irgendwann aufgegeben, weil er kapiert hat, diese Frau gibt einfach nicht auf!

Aber ist das nicht eigentlich für den anderen eine unstimmige Sache, wenn er von etwas eigentlich überzeugt ist, dies wegen seiner Mutter aufgibt und nicht aufgrund seiner eigenen Überzeugung? Vielleicht hat er dann lediglich gedacht, gegen die bin ich halt machtlos, die rennt mir ja bis nach Syrien hinterher. Ist das dann nicht eher nur ein Stillehalten und Abwarten auf die nächste Gelegenheit, um dann zu entwischen?

Ja, ich habe ihm gedroht, selbst in Syrien erwische ich dich, ich hol dich zurück! Aber damit war ich nicht allein, da waren noch mehr solche Mütter wie ich es bin. Die waren genauso radikal wie ich. Und vielleicht haben die Jungen dann auch überlegt, wenn unsere Mütter jetzt alle so zusammen sind, gegen die haben wir dann keine Chance mehr. Vielleicht war das wirklich der erste Auslöser, sich wieder etwas von den salfistischen "Freunden" zurückzuziehen. Wir Mütter haben uns gegenseitig richtig abgesprochen, was wir tun und haben uns gegenseitig gestützt. 

Ihr seid schon beeindruckend starke Frauen! Aber wie ist es dann mit Deinem Sohn weitergegangen? Du hast gesagt, er sei wieder zu Euch zurückgekommen.

Ja, ich habe ihm aber überhaupt nicht getraut. Und ich denke heute, die Moschee wollte ihn damals einfach nicht mehr haben.

Wie kommst Du darauf?

Naja, es war doch sehr offensichtlich, dass er mich davon überzeugen wollte, er würde plötzlich dort nicht mehr hingehen. Das war schon sehr merkwürdig, so plötzlich. Ich denke, die wollten ihn nicht mehr. Es war ihnen zu viel mit den Söhnen dieser radikalen Mütter. Und sie haben ihm vielleicht gesagt, geh mal nach Hause und beruhige die erstmal wieder.

Du meinst, sie wollten wieder Ruhe um die Moschee und da verlieren sie lieber Deinen Sohn als einen potentiellen Jihadisten, damit der Moschee nicht zu viel Aufmerksamkeit gewidmet wird?

Ja, genau so.

War Dein Sohn da nicht beleidigt, dass so mit ihm umgegangen wurde?

Ich denke, dass man ihm das nicht offen gesagt hat, man wolle ihn nicht mehr, sondern ihm halt als Aufgabe gestellt hat, die Mutter wieder zu beruhigen, denn bei den anderen radikalen Müttern war es ähnlich. Ich glaube, er hat es damals gar nicht begriffen, dass sie ihn nicht mehr haben wollten. Ja und dann war plötzlich alles anders, er war wieder lieb und ruhig.

Wann war das ungefähr?

Das ist jetzt schon über zwei Jahre her.

Und war dann für Dich plötzlich alles wieder in Ordnung?

Nein, überhaupt nicht. Ich hab ihm nicht getraut, und er hat auch ein doppeltes Spiel gespielt. Ich denke, er ist damals weiterhin in die Moschee gegangen. Freunde haben ihn imer mal wieder gesehen und mich natürlich sofort informiert. Und das hab ich ihm dann auch gesagt. Und da hat er wohl irgendwann die Krise gekriegt, weil er gemerkt hat, egal was er macht und tut, es kommt raus. Immer wieder hat er überlegt, wo ich die ganzen Informationen über ihn herkriege. Einmal hat er mich angeschrien, "machst du jetzt einen auf FBI oder was?!" Diese Kontrolle, die hat ihn total fertig gemacht.

Du hast ja zu der Zeit dann wohl auch nichts anderes mehr tun können, als Dich um ihn zu kümmern, oder?

Ja, bis die Tochter dann irgendwann mal gesagt hat, Mama, mich gibt's auch noch. Und unsere Ehe ist fast daran zerbrochen, da er mich gegen meinen Mann ausgespielt hat.

Wie hat er das gemacht?

Er hat einfach Dinge über mich erzählt, die ein türkischer Mann nicht so gerne hört, und wenn mein Mann nicht so viel Vertrauen zu mir gehabt hätte, dann wäre es bestimmt schief gegangen.

Hat Dein Mann Dir geglaubt? obwohl, ich denke, er hatte ja auch ein großes Interesse daran, dass die Sache mit seinem Sohn wieder in Ordnung kommt.

Ja, klar, und er hat mir vertraut, dass ich den richtigen Weg schon gehen würde. Er wusste auch, dass ich in diesem Fall als Mutter mächtiger war, als er selbst. Er kommt als Mann zwar in bestimmte Kreise eher rein und an viele Informationen eher ran als eine Frau. Aber bestimmte andere Informationen, die habe ich dann eben und er nicht. Mütter sprechen untereinander, informieren sich, geben Hinweise und helfen sich.

Aber wie kommen die Mütter denn an diese Informationen heran, wenn Du sagst, eigentlich ist es mehr der Mann, der alles erfährt?


Das sind ganz verschiedene Informationen. Beim Mann sind es mehr rationale Sachen. Bei den Frauen ist es mehr das Gespür, dem sie nachgehen und durch das sie an die Informationen herankommen. Frauen haben mehr Sensoren, um etwas zu bemerken. Sie bemerken Veränderungen weitaus schneller. Als mein Sohn zum Beispiel anfing, diese blöde Hose anzuziehen, so eine Haremshose, das hat mein Mann überhaupt nicht bemerkt, bis ich es mal laut angesprochen habe. 

Und so haben wir dann begonnen, uns nach seiner Rückkehr in die Familie langsam wieder aneinander heranzutasten, jeder auf seine Weise. Das war ein nicht einfacher Prozess.

Eine Frau kämpft – "Mein Sohn will nach Syrien!" – Teil 2

Du hast von Deiner Wut gesprochen, als Du die Entwicklung Deines Sohnes, hin zum religiösen Extremismus erkannt hast. Auf was warst Du so wütend?

Erstmal auf die Religion und natürlich auf diese Moschee. In ihr ist übrigens auch ein deutscher Imam. Und das machte mich noch wütender. Wir als die gebürtigen Moslems waren für die nicht religiös genug! Und ein Deutscher muss meinen Sohn auf die schiefe Bahn leiten! Ich hab gedacht, wieso kann der mehr Macht haben als ich, als seine Mutter, ich mit meiner vielen Liebe? Und das hat mich besonders wütend gemacht, weil der glaubte, meinen Sohn eher leiten zu können, als ich das konnte. Und ich habe natürlich auch Angst gehabt, dass mein Sohn alles hinschmeisst und wirklich ausreist. Aber Vorwürfe habe ich ihm eigentlich nie gemacht. Ich bin ganz offen damit umgegangen, nicht nur ihm gegenüber. Alle, die es wissen wollten, denen habe ich es erzählt und ihnen gesagt, passt auf eure Kinder auf! Dabei bin ich natürlich auch sehr viel angeeckt und habe auch viel Diskriminierung erfahren. Manche haben sogar die Strassenseite gewechselt, wenn sie mich sahen, weil ich ja jetzt die 'Salafistenmutter' war.

Das heisst Du hast es selbst öffentlich gemacht in Deinem Bekanntenkreis?

Ja klar, überall Schule, Verwandtschaft, Freunde ...

Wie hast Du das gemacht?

Naja, er kam ja auch oft seine kleine Schwester von der Schule abholen. Und da hat man mich dann mal gefragt, was denn mit ihm los sei, sein Bart und sein sonstiges Aussehen. Und da hab ich schon geantwortet, ja das stimmt. Und dann wussten sie Bescheid.

Stimmt, Du hast von der Veränderung seines Äußeren berichtet, klar dass das dann auch aufgefallen ist.

Ja und da hab ich dann gesagt er sei im Moment auf einer schiefen Bahn und ich hätte einen Kampf mit meinem Kind, er verleugne uns, und er verachte mich. Das hat er dann ja auch gesagt, ich bin 'ne komische Mutter und nicht wie ein Moslem, sondern wie ein Christ, also aus seiner Sicht nichtgläubig und Nichtgläubige könne man töten. Und eine Zeitlang hab ich auch wirklich darüber nachgedacht, ob er auch mir etwas antun könnte.

Was hast Du ihm denn in solchen Situationen geantwortet?

Ich? Ich bin in die Küche gegangen, hab ein Messer geholt und hab gesagt DA BITTE!
Ja, ich war wirklich richtig krass. Aber wie sollte ich denn sonst mit ihm umgehen? Mit gut zureden war da ja irgendwann nix mehr. Es war irgendwie als käme er mit einem Koffer voller Argumente nach Hause: Wenn Mutter das sagt, dann musst du so argumentieren, wenn Vater das sagt, dann musst Du damit argumentieren ... Das waren niemals seine eigenen Worte. Und einmal – mein Mann hatte noch niemals die Hand gegen ihn erhoben – einmal, als er uns wieder einmal die Scharia schmackhaft machen wollte und mich dann wieder so beleidigt hat und mir Vorwürfe gemacht hat, da hat er ihn verprügelt, aber wie! Und das vor meinen Augen. Das war für ihn wirklich entwürdigend. "Du willst die Scharia, mein Sohn", hat er ihn angeschrien, "dann fühle mal, wie sie dir schmeckt." Und dann hat er ihn rausgeschmissen, mein Mann. Das ist dann eskaliert, und dabei sind sogar einige Möbel kaputt gegangen. Die Scherben sind in der Wohnung rumgeflogen. Fenster, Balkontür kaputt ... Ja, alles zerschlagen!

Was hat er dann gemacht, als er bei Euch rausgeflogen ist?

Er ist zu einem Arbeitskollegen und hat dort mit in dessen Wohngemeinschaft gewohnt. Aber ich habe mich sehr unwohl gefühlt, weil er jetzt weg war, und ich nicht wusste, was er jetzt macht. Und dann, als ich gar nicht mehr konnte, da hab ich mir einfach Hilfe geholt.

Hilfe? Woher hast Du die bekommen?
Ich bin zur Polizei gegangen und habe erzählt, was ich wusste.

Das war sicher keine einfache Entscheidung. Was wolltest Du von der Polizei, und wie ist man dort mit Dir umgegangen?

Ich hoffte, dass sie mir Wege zeigen, wie ich mit meinem Kind umgehen soll. Ich wollte nicht, dass es immer mehr ausartet und sie ihn vielleicht irgendwann mal einsperren. Es gab dort Leute, die sind auf so etwas spezialisiert. Die haben mir Tips gegeben, wie ich mich verhalten soll. Und ich habe der Polizei eigentlich auch nur gesagt, welche Sorgen ich habe. Mehr musste ich gar nicht erzählen, die wussten selbst schon alles. Von ihnen habe ich eigentlich auch erfahren, wie es in der Moschee zugeht, dass dort versucht wird, ein ganz enges Gemeinschaftsverhältnis entstehen zu lassen, damit die Jugendlichen immer mehr an sie gebunden werden. Die Polizei hat mir Details gesagt, und da habe ich gesehen, dass die mir wirklich helfen und mir nicht schaden wollen. Das hat mir gut getan, und ich habe Vertrauen entwickelt. Ich hab dann auch andere Mütter gewarnt, von denen ich wusste, dass mein Sohn mit deren Kindern herumgezogen ist.

Du dachtest erst, dass diese staatlichen Stellen Dir eventuell schaden können?

Naja, weil ich das doch mein Leben lang so erlebt und gefühlt habe. Eigentlich überall, von der Grundschule bis ins Gymnasium und bei der Berufsausbildung, immer habe ich diese Selektion erlebt, hier die und da ich, "die Andere". Egal, wie "integriert" ich mich auch verhalten habe.

Du hast im Grunde schlechte Erfahrungen mit Behörden gemacht und hast Dich dann aber doch an sie gewandt? Da muss Deine Verzweiflung groß gewesen sein.

Ja total schlechte Erfahrungen! Zum Beispiel als ich eine Wohnung gesucht habe, da hat sich der Beamte noch nicht mal nach mir umgedreht und hat lediglich gefragt, ob ich wüsste, wie viele gerade eine Wohnung suchen, und zuerst würden die Deutschen eine bekommen, und dann kommt "ihr". Solche Aussagen musste ich mir anhören. Und zwar oft. Und immer wurde ich geduzt, egal, wie alt ich geworden war. Also, ich habe ein absolutes Misstrauen den deutschen Behörden gegenüber. Aber es war auch umgekehrt, dass ich einstecken musste. Entweder heisst es, oh, du bist aber verdeutscht, oder es heisst, Sie sprechen aber gut Deutsch. Beides ist irgendwie ausschliessend und diskriminierend. Das macht einen auf Dauer misstrauisch den Menschen gegenüber.
Genau das hat mein Kind aber auch erlebt! Ich selbst konnte damit ganz gut umgehen. Ich habe früh gelernt, dass ich immer mehr tun musste, als die anderen. Und meinen Kindern habe ich auch immer beigebracht, man kann noch so integriert ein, man kann deutsche Freunde haben, aber glaubt ja nicht, dass man dazugehört.
Und die Kinder haben ja auch gesehen, welche Erfahrungen ich gemacht habe in meinem Leben. Einiges haben sie sicher mitgekriegt. Und ich denke – und das ist auch der wunde Punkt bei meinem Sohn – diese Selektion haben sie auch erfahren, und zwar noch schlimmer als ich. Und das hat ihn so angewidert, das kam dann später immer mehr raus, in seinen radikalen Sätzen, wie "so gehen die deutschen Christen mit uns um". Er hat sich richtig ein religiöses Feindbild geschaffen.
Aber man kann gegen Diskriminierung auch Strategien entwickeln und sich dadurch auch für das Leben stärken. Man kriegt das Leben nicht auf einem Silbertablett serviert, man muss immer kämpfen. Immer! Und wenn dann etwas gelungen ist, es es umso schöner.

Ja, aber es gibt eben auch die andere Strategie, die der Abschottung und der Kultivierung des Hasses gegen die dominanten Strukturen so dass man so eben solch einen Hass bekommt und ihn so auslebt wie Dein Sohn.

Ja, seine Strategie war es, sich so ein Feindbild zu schaffen. Das waren die Christen, die Ungläubigen und gegen die könne man laut der islamistischen Ideologie nicht nur etwas tun, sondern gegen die müsse man etwas tun, nämlich diesen von der Ideologie vorgeschriebenen Kampf gegen die Ungläubigen auch wirklich führen.

Lass uns noch einmal zurückgehen zu den Hilfen, die Du Dir geholt hast. Wieso bist Du überhaupt auf die Idee gekommen, Dir Hilfe zu holen.

Naja, ich hab gedacht, ich habe keine Möglichkeit mehr, keine Macht mehr über mein Kind. Und ich hab Angst gehabt.

Hast Du nicht erst versucht, mit der Familie und den Verwandten zu reden?

Klar hab ich das, habe sie alle zusammengetrommelt, sogar die Freunde. Aber das hat ja überhaupt nix gebracht. Egal was die geredet haben, er hat niemanden mehr respektiert.

Habt ihr das alle zusammen gemacht?

Jaja, jeder für sich und alle zusammen. Der Bruder meines Mannes hat ihn zur Brust genommen und hat ihm gesagt, das gehe so nicht, er könne sich Vater und Mutter gegenüber nicht so beleidigend verhalten. Aber er hat nur geantwortet, er hätte ihm gar nix zu sagen.

Habt ihr auch so eine Art Familienrat abgehalten?

Klar, haben wir, und zwar nicht nur einmal. Der Bruder meines Mannes, der der Älteste ist und der auch mit unserer Familie am meisten befreundet ist, selbst den hat er beleidigt und ihm vorgeworfen, er hätte sich von den Deutschen den Kopf verdrehen lassen.

Und wie sind die Verwandten mit diesem Verhalten umgegangen?

Hilflos. Sehr hilflos. Weil es war ja einfach auch nichts zum Anfassen da. Er hatte ja kein Auto geklaut oder so, sondern es war halt einfach sein Denken und Verhalten und dass ich das in der Familie erzählt habe, es öffentlich gemacht habe. Und da haben sie dann halt alle gesagt, so geht das nicht, und sie hätte da schon auch ein Mitspracherecht ihm gegenüber. Das hat ihn übrigens erschreckt, als sie das gesagt haben.

Wieso hat ihn das erschreckt, das ist doch eigentlich in den Familien so. Oder?

Natürlich ist das so. Aber in der Situation war er nicht darauf vorbereitet. Er hatte keine Strategie, wie er damit umgehen wollte, und man hatte mit ihm halt wohl auch nicht über eine solche Situation geredet, was man macht, wenn plötzlich die geballte Verwandtschaft gegen einen auftritt.

Und was hat er in dieser Situation gemacht?

Er hat sich verdrückt, ist zu seinem Arbeitskollegen abgehauen. Aber während des Gespräches ist damals dann auch rausgekommen, wie genau er das im Kopf schon alles geplant hatte, und dass er weggehen wollte.

Und Du hattest dann erstmal gar keinen Kontakt zu ihm, als er weg war?

Nee, gar keinen.

Und wie hast Du das ausgehalten?

Gar nicht. Aber ich hab auch immer wieder über Freunde und Bekannte erfahren, was los ist. Hier kennt ja jeder jeden, und man kann eigentlich nix Unbeobachtes machen. Und ich bin dann oft auch heimlich zur Moschee gefahren und hab geguckt, ob ich ihn sehe. Die ganze Nacht habe ich davor gestanden in meinem Auto.

Hast Du ihn denn dann auch gesehen?

Ja.

Und?

Nix und. Ich hab da die Nacht gesessen und hab geheult. Ich konnte ja nichts machen. Freunde haben mir damals gesagt, ich sollte wegziehen mit der Familie. Aber was soll das? Dann geht er halt in die nächste Moschee, die gibt’s doch überall. Ich hab dann auch versucht, mit denen in der Moschee zu reden. Aber das ging überhaupt nicht, die haben mich noch nicht einmal reingelassen. Ach, das war eine Geschichte, die erzähle ich jetzt besser nicht! Das war eine harte Zeit, über die bin ich bis heute nicht weggekommen, damit bin ich immer noch nicht fertig.

Das heisst Du hattest dann wirklich keinen Kontakt zu ihm, hast ihn nur über diese Heimlichkeiten gesehen?

Ja. Aber irgendwann ging das halt nicht mehr, und ich bin dann eben zur Polizei gegangen.

Und was haben die Dir damals geraten?


Naja, ich soll die Finger davon lassen und mich zurück halten. Aber ich habe so eine Wut gekriegt, dass ich mich selbst radikalisiert habe. Ich bin da raus und war so wütend. Ich hatte auf einmal solch eine Kraft und hab gedacht, jetzt oder nie, entweder nehmen die mir mein Kind jetzt weg, oder ich muss was machen. Ich hab alles öffentlich gemacht, und ich hab getobt und geschrien. Das erzähle ich jetzt lieber auch nicht. Aber es hat wohl gewirkt.

Wie, es hat gewirkt?

Naja, ich denke heute, so durchgedrehte Mütter, die sind halt doch störend, das ist dann doch aufallend, wenn da jemand so vor ihnen rumtobt. Da kann man dann halt nicht so in aller Stille rekrutieren. Und dann haben sie wohl meinem Sohn gesagt, er solle seine Mutter in Schach halten. Ich hab ja nicht nur vor der Moschee gestanden, ich hab mich ja auch lautstark bei Demonstrationen gegen die in die erste Reihe gestellt und getobt!

Allein?!

Ja, allein.

Hast Du niemandem Bescheid gesagt, was Du da machst?

Nein. Niemandem. Auch meinem Mann nicht, die hätten mich ja doch nur daran gehindert. Aber es hat wohl gewirkt, denn dann kamen die Anrufe. Anonym und wieder aufgelegt. Und immer wieder. Solche Angstmacherei. Ja, und dann kam auch irgendwann mein Sohn wieder und meinte, ich solle mich da raus halten, er werde da nicht mehr hingehen. Und dann hat es mit den anonymen Anrufen auch aufgehört. Heute glaube ich, ich habe die so provoziert, dass sie meinem Sohn gesagt haben, geh nach Hause und halte bitte deine Mutter in Schach. Aber als er dann wieder kam, da habe ich ihm ganz klar gesagt, jetzt entscheidest du dich. Entweder für deine Famile oder für diese andere Familie. Und wenn du denkst, die anderen sind deine neue Familie, dann bitte geh! Dann werde ich mich aber auch von dir verabschieden und möchte das dann auch offiziell machen. Dann geh und komm bitte nicht mehr wieder. Dann hast du uns alle verloren.

Das hast Du ihm gesagt?!


Ja, was sollte ich denn tun? Es war meine letzte Chance und ich hoffte, er liebt seine Familie und er bleibt.

(wird fortgesetzt)

Eine Frau kämpft – "Mein Sohn will nach Syrien!" – Teil 1

  
Ich treffe Zehra in einem Vorort von Hamburg. Sie will mir von sich berichten, erzählen "wie ich ihn da rausgeholt habe, meinen Sohn, raus aus diesem radikalen islamistischen Sumpf." Wir sitzen in einem kleinen Café.
Ich beginne mit meinen Fragen. "Warum wolltest Du eigentlich mit mir sprechen?" "Ich will" so erhalte ich zur Antwort "ich will betroffenen Familien sagen, dass noch nicht alles verloren ist, wenn ein Sohn sich plötzlich den Bart wachsen lässt und zu Hause erzählt, man praktiziere nicht den richtigen Glauben und man sei auch nicht besser als all diese Kuffar." [1]

Zehra hat gekämpft um ihren Sohn, der auf dem Weg war, in den Jihad zu ziehen. Es war ein nervenzerreibender jahrelanger Kampf. Aber sie hat ihn durchgestanden. Meistens allein, im Hintergrund aber immer gestützt von ihrer Familie.

Wie und ab wann hast Du überhaupt bemerkt, dass Dein Sohn sich ernsthaft mit dem Jihad auseinandergesetzt hat? 

Bemerkt hab ich erstmal gar nix. Da gab es vielleicht ein paar äußerliche Anzeichen, die ich in Richtung einer religiösen Einstellung deuten konnte, aber das waren nur äußerliche Anzeichen. Und diese Zeichen seiner Veränderung hab ich mehr mit der Depression in Zusammenhang gebracht, in der sich mein Sohn damals befunden hat.
Vor ungefähr drei Jahren hat diese äusserliche Veränderung begonnen. Er fing an den Koran zu lesen bzw. zu hören. Und er erklärte immer, das sei wichtig und wie eine Medizin für ihn. Gut, dachte ich, es ist gegen seinen Liebeskummer und gegen die Depression, denn er war gerade von einem Mädchen verlassen worden. Und eigentlich war ich auch froh – das sagen übrigens auch viele Mütter – und dachte, wenn es ihm gut tut, dann lassen wir ihn halt. Und das ist genau das Fatale beim Beginn einer solchen radikalen Entwicklung, denn ihnen wird beigebracht, haltet euren Vater und eure Mutter still. Und das hat er dann auch gemacht. Er wurde immer stiller, hat nicht mehr widersprochen, war brav, hat mich nicht mehr verletzt. Und so hat er auch mich still gehalten, denn er gab mir keinen Grund, ungehalten zu sein. Aber der Bart, der ist dann langsam immer länger geworden. Das ist mir dann doch aufgefallen.

Und wie hat sich das Ganze dann weiter entwickelt?

Also erst hat er ja nur den Koran zu Hause gelesen. Aber dann hat er auch die Moschee gewechselt und ist von unserer DITIB-Moscheen [2] weg und hin zu einer anderen gegangen, zu einer dieser Salafisten-Moscheen.

Wie hast Du das bemerkt?

Die Leute haben uns das zugetragen. So wie das bei uns halt ist. Mein Mann geht ja in die Moschee. Man kennt sich und man spricht miteinander. Und so haben die Männer dann meinen Mann angesprochen und ihn gefragt, wieso geht denn dein Sohn jetzt in diese fundamentalistische Moschee? Aber mein Mann ist da immer noch nicht wach geworden. Er hat meinen Sohn mal darauf angesprochen. Doch dieser hat ihn beruhigt und gemeint, unter den Türken würde so viel getratscht, das passe ihm nicht, er wolle einfach nur aus dem Koran hören, darum habe er gewechselt. Ja, und darauf sind wir reingefallen.

Hat Dein Sohn damals noch zu Hause gewohnt?

Ja, das hat er. Und da er die türkische Sprache nicht so gut kannte, dachten wir, lassen wir ihn ruhig in diese Moschee gehen, wenn es ihm dabei doch so gut geht. Obwohl, wenn ich mich rückerinnere, ich habe schon damals immer ein Auge darauf gehabt. Aber als er so freundlich und versöhnlich wurde, und die körperlichen Symptome seiner Depression auch abgenommen haben, da habe ich mich wieder beruhigt. Und auch das war eben das Fatale.

D.h. Du hattest schon ein ungutes Gefühl, als er die Moschee gewechselt hat?

Ja, das war mir schon verdächtig. Denn diese Moschee ist berühmt dafür, dass sie sehr radikal ist und dass dort angeblich auch rekrutiert wird. Es gab etliche Medienberichte über diese Moschee, daran erinnerte ich mich dann auch und da habe ich schon manchmal gedacht, oh oh, da stimmt was nicht.

Wieso hast Du Dich überhaupt mit dem Thema einer eventuellen Radikalisierung beschäftigt? Wieso hast Du Dir gerade diese Medienberichte gemerkt? Es geht doch so Vieles an einem vorbei und man erinnert es nicht. Offensichtlich aber dieses Thema nicht, oder?

Ja, ich denke, weil man in seiner Umgebung doch immer wieder davon gehört hat, aber man denkt dann ja meist, es betrifft immer nur die Anderen. Ich hatte zwar im Hinterkopf, dass es da eine Moschee gibt, in der Kinder für Syrien rekrutiert werden. Ich wusste das aber nur vom Hörensagen und dachte, mich würde das nie betreffen. Ich wollte es einfach nicht wahr haben. Und dann bin ich ihm aber doch mal gefolgt. Ja und dann habe ich es gesehen, wie er da rein ging und wie der mit diesen Radikalen dann wieder raus kam aus dieser Freitags-Moschee. Ja, und von da an habe ich angefangen zu recherchieren und habe ihm dann auch Fragen gestellt. Er hat mir damals sehr patzige Antworten gegeben und hat alles geleugnet. Aber er hat mich auch mit Vorwürfen konfrontiert, ich würde mich nicht auskennen, keine richtige Muslima sein ... . Und so habe ich bröckchenweise bemerkt, wie er uns eigentlich moralisch verurteilt. Wir seien keine richtigen Moslems, wir hätten ihn nie in die Moschee gebracht, hätten ihm keine richtige islamische Erziehung gegeben und und und. Wir hätten ihn niemals daran gehindert, Diskotheken zu besuchen und hätten auch nichts gegen sein "high life" gesagt. Es kamen Vorwürfe über Vorwürfe, aber an seiner Wortwahl und dem, was er da so alles gesagt hat, hat man schon gemerkt, dass das nicht sein Eigenes war, sondern dass man ihm da auch vieles in den Mund gelegt hat.

Als Du diese Vorwürfe zu hören bekamst, was hat das mit Dir gemacht, wie hast Du Dich dabei gefühlt und vor allem, wie bist Du damit umgegangen?

Ich war wütend. Richtig wütend!

Wütend auf wen oder auf was?

Wütend auf diese Moschee und darauf, dass mein Sohn so naiv sein kann, auf solches Gerede reinzufallen und dass er seine Eltern so verurteilen kann.

Diese Vorwurfshaltung ist ja normalerweise in den Familien mit türkischem Hintergrund, die ich kenne, so nicht üblich. Eltern gegenüber hat man höflich zu sein, zumindest nach außen hin, egal was man innerlich denkt.

Das war auch die ganze Zeit so, bis ich eben seine Ambitionen aufgedeckt habe. Das war für ihn das Unangenehme, und es war seine Art, sich dagegen zur Wehr zu setzen. Heute weiss ich, wie wichtig es für die Rekrutierungen ist, dass die jungen Leute ihre Eltern still halten. Eltern, die aufmucken und sich gegen die Veränderungen ihrer Kinder wehren oder sogar etwas dagegen in die Wege leiten, das schafft unangenehme Aufmerksamkeit, die nicht erwünscht ist. Die jungen Leute werden daher angehalten, ihre Eltern ruhig zu halten, damit mit möglichst wenig Aufmerksamkeit für den Jihad weiter rekrutiert werden kann. Hat jemand also laute Eltern, schafft das Probleme in der salafistischen Gemeinschaft. Daher hat er dann ja auch mit allen Mitteln versucht, uns irgendwie in Schach zu halten.

Wie ist das denn mit Dir gewesen, als Du irgendwann angefangen hast, die Situation zu begreifen? Hast Du auch mal nachgedacht, wie das passieren konnte, und ob Du da irgendwas falsch gemacht hast? Müttern sagt man ja immer wieder nach, dass sie die Fehler oft erst einmal bei sich suchen.

Nein, noch nie! Ich mach mir keine Vorwürfe! Und ich lasse mir das auch von niemandem einreden. Wir haben unseren Kindern immer andere Werte mitgegeben, es ist egal ob jemand Christ oder Moslem ist. Es sind allgemeingültige menschliche Werte, die wir ihnen vermittelt haben. Also, dass er nicht klauen soll, dass er niemanden umbringen soll, dass er nicht lügen soll, dass er Menschen nicht verachten darf, sondern im Gegenteil, dass alles mit Liebe gemacht sein soll. Nein, da muss ich mir keine Vorwürfe machen!

Es waren übrigens auch nicht nur die Leute in der Moschee, die ihn beeinflusst haben. Eigentlich fing alles an mit diesem Pierre Vogel. Von dem hat er sich Videos angesehen. Ein Freund hatte die mitgebracht. Und dann ging es erst richtig ab. Die haben sich richtig gegenseitig hochgestachelt und mitgerissen. Auf der einen Seite die Moschee und dann noch die Freunde! Einige haben sich dann zwar fern gehalten und nicht mitgemacht, aber einige doch. Das war wie ein neuer Lebensabschnitt, so kommt mir das heute vor. Abenteuer pur. Wow, wir können an die Waffen, denn da ist ja Krieg, und alles für eine humanitäre Sache! Das hat ihnen gefallen.

Was hat sie mehr fasziniert, Hilfe zu leisten oder in den Krieg ziehen zu können? Wie siehst Du das heute?

Am Anfang war das wohl eher mehr der Krieg. Also richtig an die Waffe gehen und kämpfen. Und er hat sich wirklich eingebildet, dass er da für etwas Gutes kämpfen würde und auch muss. Ich hab ihm immer versucht zu erklären, kämpfe doch mit deinem Kopf, nimm doch dein Gehirn als Waffe. Aber das hat er nicht angenommen. Er warf mir vor, ich sei zu verdeutscht. Ich wäre zu freundlich sein, und es kämen jetzt auch härtere Zeiten, Moslems würden sterben und die ganze Welt schaue einfach zu.


Er hat ja da auch gar nicht so Unrecht. Wenn ich an den letzten Gaza-Krieg denke: grauenhaft. Es war entsetzlich. Und die Verwüstung und Zerstörung sieht dort bis heute noch so aus. Nichts hat sich verändert und die Situation der Palästinenser dort wird von der Weltöffentlichkeit kaum wahrgenommen.




Ich habe ihm auch gesagt, natürlich ist das schlimm. Aber vor Ort zu helfen muss nicht unbedingt mit der Waffe sein, um dann an vorderster Front zu sterben und fertig! Da hilft man doch Niemandem. Aber egal, was ich gesagt habe, kein Wort hat geholfen.


Eine Frau kämpft – "Mein Sohn will nach Syrien!" (2) 
Eine Frau kämpft – "Mein Sohn will nach Syrien!" (3)
Eine Frau kämpft – "Mein Sohn will nach Syrien!" (4)




[1] Kommt vom arabischen Kāfir und bezeichnet „Ungläubige“ oder „Gottesleugner“.
[2] Moschee der Türkisch Islamischen Union (Diyanet İşeri Türk Islam Birliği)

Ist die "Deneme-Yanılma" Methode einer Politik der "Kutsal Gerçek" (Heilige Wahrheit) gewichen? – Ein Gespräch mit Selçuk Salih Caydı



Der Wahlkampf in der Türkei liegt in seiner Endphase und aus deutscher Beobachterperspektive verläuft vieles doch sehr anders als in Deutschland. Sicherlich ist auch hier nicht alles wahr, was im Rahmen der Wahlpropaganda verkündet wird. Auch Wahlversprechen sind zum Teil als offensichtlich unrealistisch einzuschätzen. Was in Deutschland in dieser Direktheit jedoch nicht zu beobachten ist, dass ist das Angreifen des Gegners in dieser Schärfe, wie es aus der Türkei zu beobachten ist. 
Hinzu kommt dort die beispiellose Kriminalisierung der HDP mit dem Versuch ihrer Schwächung bis hin zu ihrer Ausschaltung durch die Inhaftierung einiger ihrer wichtigen Akteure. Ich überlege, ob diese Furcht vor dem Anderen – in diesem Falle der HDP – nicht weitaus tiefer geht und weitaus mehr bedeutet, als nur eine Sorge vor dem eigenen Machtverlust seitens der AKP und ihrem ideologischen Führer Staatspräsident Erdoğan.

Ich denke, die größte Furcht vor der HDP ist neben der AKP bei der MHP zu finden und nicht mehr so ausdrücklich bei der CHP, wie es vielleicht noch vor ein paar Jahren gewesen wäre. Die CHP ist heute demokratischer ausgerichtet. Diese Veränderung im Politikverständnis haben die anderen Parteien bislang nicht erreicht, bzw. es ist von ihnen gar nicht gewollt.

Ist es die inhaltliche Ausrichtung der HDP, die da solche Sorgen bereitet? Ihr demokratischer Politikansatz mit dem Blick auf Diversity und deren Anerkennung, auf den wir in unserem ersten Gespräch verwiesen haben? Bereitet eben diese Offenheit solche Angst, da eine Regierungsbeteiligung der HPD eine Veränderung des Politikverständnisses und vor allem auch eine Veränderung der politischen Praxis impliziert?

Ja, denn genau solche Veränderungen will die AKP eben nicht. Und insofern ist es für sie eminent wichtig, die HDP vor den Wahlen zu schwächen. Seit Juni wurden 22 Bürgermeister aus ihren Ämtern entfernt, weitere 20 wurden verhaftet und über 1.500 Mitglieder der HDP wurden vorübergehend festgenommen oder verhaftet. Vor allem sollen dadurch auch ihre potentiellen Wähler verunsichert und ihnen ein Weg zurück zu den herkömmlichen Parteien gewiesen werden. Dabei wird an einer besonderen Art von "Instinkt" bei den Türken angesetzt. Die Türken mögen die Starken. Das Wort Türke bedeutet ja stark. Die Türken haben da so eine Art Machtfetischismus. Sie wollen immer gerne bei den Starken sein oder sich diesen anschliessen. Die Unterdrückung der Schwachen erweckt also nicht nur ein Mitgefühl, wie man es in Teilen der CHP gegenüber der HDP bemerkt, sondern es gibt immer auch die andere Seite. Das ist die Bewunderung und Anerkennung von Stärke. Die AKP will durch Unterdrückung und Abwertung der HDP diejenigen Wähler von der Partei abziehen, die sich mehr an einer Politik der Stärke orientieren möchten. Und das gilt auch für die MHP mit ihrer Duldung eines solchen Verhaltens.

Man diskriminiert die HDP um bei den Wählerinnen und Wählern ein Gefühl zu erzeugen, man könne diese Partei doch nicht wählen, da sie nicht zu denjenigen gehören wird, die dieses Land mit Stärke regieren würde?

Genau. Das ist wohl der Gedanke, der dahinter steckt. Denn die Wähler werden irgendwann mal sagen, die HDP ist war eine demokratische Partei, aber Demokratie allein reicht nicht aus, um dieses Land zu regieren. Denn leider ist eine demokratische Tradition hier in der Türkei nicht stark ausgeprägt. Bei der CHP ist es jedoch genau das Gegenteil. Sie hat inzwischen gelernt, dass man den Grundlagen der Demokratie treu bleiben muss und mit einem solchen Verhalten dann auch besser vorankommt.
Der Versuch, die HDP zu schwächen hat übrigens zum Teil sogar Erfolg gehabt. Nach Umfragen verliert die HDP im Westen des Landes Stimmen, die dann meist zur CHP rückwandern. Im Osten passiert jedoch genau das Gegenteil. Dort bekommen sie immer mehr Zulauf, da ehemalige AKP-Wähler zur HDP wechseln.

Liegt hier nicht eine Gefahr für die HPD, dass sie durch diese Entwicklung nach außen hin wieder mehr als eine kurdische Partei wahrgenommen wird und weniger als eine Landespartei mit breitem demokratischen Anspruch?

Genau das ist die Gefahr und genau das wollte die HDP eigentlich vermeiden. Die HDP ist ja als eine Landespartei gegründet worden. Wenn sie nun durch diese äußeren Umstände dazu gezwungen wird, eine Regionalpartei zu werden, dann ist das nicht nur für die HDP sondern auch für die Türkei insgesamt ganz schlecht. Und nach den letzten Umfragen verliert die HDP durch diese Entwicklung auch Stimmen. Zwar wird sie den Einzug ins Parlament nicht verfehlen. Das wird nicht passieren, denke ich. Und das ist sehr wichtig, denn sie wird dadurch auch Gelder von der Staatskasse bekommen, ihre finanzielle Situation verbessert sich, und das wird sie weiter stärken.

Aber die Einschüchterungspolitik gegenüber der HDP hat noch ein weiteres negatives Ergebnis. Wenn überall die Bürgermeister der HDP verhaftet werden, sie physisch und psychisch bedrängt werden, erinnert das sehr an diese verheerende Staatstradition den Kurden gegenüber.

D.h. die AKP hat übernommen diese Angst bei den Kurden wieder zu re-aktivieren?

Ja, man will, dass sie wieder solche Angst haben, wie es früher war. Nur so kann man ihr Selbstbewusstsein und ihre aufkommende Stärke eindämmen, wird gedacht. Und man will das wohl unbedingt noch erreichen, bevor es der HDP gelungen ist, eine Landespartei, sozusagen eine Partei "der Türkei" zu werden. Wie weit diese Einschüchterung funktionieren wird und ob diese klassische türkische Unterdrückungspolitik noch einmal erfolgreich sein wird, das hängt sicherlich in großem Maße auch von der CHP ab, wie weit es dieser gelingt, sich mit aufzulehnen und sich dem entgegen zu stemmen.

Ich kann mir gut vorstellen, dass in der CHP verstanden wurde, dass sich hier etwas verändern muss. Es gibt jedoch in Stellungnahmen die Erwähnung, nach den Wahlen wolle man mit der MHP eine Koalition eingehen. Wie verträgt sich das nun wiederum miteinander?

Naja, genau das habe ich am Anfang ja gesagt. Natürlich hat man in der CHP auch Ängste. Man kann sagen, die HDP ist eine völlig revolutionäre Neuigkeit in der türkischen Parteienlandschaft. Und wenn es ihr gelingt, eine Landespartei zu bleiben, wird das auch so etwas wie eine Revolution bedeuten in der Türkei.
Aber auch die CHP macht eine nichtethnische Politik – und das finde ich im Grunde genommen ganz richtig – also weder türkisch, kurdisch, armenisch usw.. Sie macht sozialdemokratische Politik. Dennoch hat sie im Hinterkopf immer auch noch Angst vor dem Loslassen dieser kurdisch-türkischen Differenzierung. Und das zu Recht. Vielleicht muss man den Kurden erst einmal so etwas wie eine positive Diskriminierung entgegenbringen, da sie so lange unterdrückt worden sind. D.h. man muss Verständnis für ihre Situation in der Bevölkerung wecken. Zum anderen muss es aber dennoch gelingen, die vorhandenen Ängste bei den Kurden wieder einzudämmen, man wolle sie durch einen Putsch, durch das Militär, oder eben durch die AKP in die Zeit der neunziger Jahre rückversetzen.

Ja, es muss verstanden werden, dass diese Zeit vorbei ist, auch wenn Ähnlichkeiten sichtbar sind. Aber wie kann so etwas funktionieren, wenn doch seitens der AKP unter Beteiligung der MHP gerade Gegenteiliges vorangetrieben wird?

Ich denke, dass genau wird Aufgabe für die CHP in der Zukunft sein. Es geht nicht mehr darum, diesen Zwiespalt weiterhin offen zu zeigen, sondern hinüberzuführen in ein gemeinsames demokratisches Handeln, damit sich diese neuen Ideen etablieren können. Hinderlich sind dabei alte Ängste in der CHP selbst, die wir zu verstehen haben, denn in der CHP sind ja immer noch viele Kemalisten. Sie sind eine große Fraktion in dieser Partei. Und gerade das sind die Stammwähler, die es nicht zu verlieren gilt. Ebenso sind in der MHP viele Nationalisten, wodurch dieser Koalitionswunsch dann wiederum auch verständlich wird.

Es wird ja nun wohl Wahlen geben, obwohl offensichtlich ist, dass auf legalem Wege eine Mehrheit für die AKP schwerlich noch zu erreichen ist, schenkt man den Umfragen Glauben. Wir hatten ja überlegt, ob nicht eine Tendenz vorhanden ist, z.B. über eine Forcierung der gegenwärtigen Kriegspolitik der Regierung, eine solche Wahl verhindern zu wollen. Dies erscheint nun nicht mehr so, die befürchtete Eskalation – so schlimm die Ereignisse waren – ist ausgeblieben. Was sind wohl die Hintergründe, dass diese Ideen – die ja vorhanden waren – wieder verworfen wurden? Müssen wir hier nicht auch die Entwicklungen im Syrienkrieg in unser Denken einbeziehen? Hat Putin Erdoğan in seine Schranken verwiesen, was dann wiederum Auswirkungen auf sein innenpolitisches Verhalten hat? Wie siehst Du das?

Natürlich hat diese Entwicklung eine bedeutende Wirkung auch hier in der Türkei. Zum ersten Mal scheinen die Russen und ihre Koalition die Islamisten doch wirklich zu bekämpfen und zwar so, wie sie bekämpft werden müssen, nämlich nicht nur einfach aus der Luft. Dieser strategische Ansatz der Koalition um die USA ist doch ziemlich erfolglos geblieben. Und wir wissen heute auch, dass die Türkei es mit ihrem Engagement in dieser Koalition gar nicht so sehr ernst gemeint hat.

In den Kommentaren zum Syrienkrieg wird den Russen immer wieder vorgeworfen, dass sie gar nicht den IS bekämpfen wollen, sondern alle diejenigen, die gegen Assad kämpfen. Sie haben sich kurzerhand über diese Differenzierung zwischen moderaten und nicht-moderaten Rebellen hinweggesetzt. Radikal-islamistisch oder nicht, das spielt für sie nicht die primäre Rolle. Kommt das bei euch in der Türkei auch so an?

Genau, das kommt auch hier rüber und genau das hat auch seine Wirkung. Auf der einen Seite werden weiterhin trotzig die moderat genannten Islamisten unterstützt, auf der anderen Seite verbreitet sich jetzt dann aber doch in der Öffentlichkeit die Meinung, dass diese Moderaten eigentlich gar keine solch Moderate sind, dem IS gar sehr ähnlich sind oder mit ihm zusammenarbeiten. Und noch eines kommt hinzu, was die Stimmung im Land anheizt. Dieser Krieg wird hier sehr als ein persönlicher gesehen. Es ist Erdoğans Krieg sozusagen.

Stop, welcher Krieg wird hier persönlich genommen? Erdoğans Krieg gegen Assad oder sein Krieg gegen die Kurden? Denn es ist ja nicht mehr nur ein Krieg gegen die PKK, der da unter allen Umständen geführt werden soll und der sich angeblich "gegen den IS" richtet. Ist der Krieg gegen die Kurden dann eigentlich nicht auch mehr ein Krieg gegen das Assadregime? Denn die Kurden schwächen ja gerade diejenigen Rebellengruppen, die gegen Assad kämpfen. Und verkauft wird diese kriegerische Auseinandersetzung dann als Selbstverteidigung gegen die angebliche Bedrohung einer Spaltung der Türkei durch die kurdische Bewegung? Somit hätte der Krieg gegen die Kurden zwei Dimensionen – die Rebellengruppen die gegen Assad sind – den IS mit eingeschlossen – zu stützen und über die Gleichsetzung bzw. die beschworene Nähe der HDP zur PKK diese im Inland zu schwächen.

Ja, das kann man auch so sehen. Das würde auch gut zu Erdoğans Politikansatz passen. In meinem Blog habe ich ja geschrieben, seine Politik und die seiner Leute ist für mich eine "theologische Politik".  Und eine solche theologische Politik kennt nur eine einzige Wahrheit, ja, sie wird sogar als eine "heilige Wahrheit" gesehen.

Eine "heilige Wahrheit" von deren Standpunkt aus Politik gemacht wird, wäre dann eine von Gott so gewollte Politik und damit unangreifbar?

Ja, und wenn man so denkt, dann ist es auch verständlich, warum keine Koalitionen möglich sind, denn dann ist diese Politik nicht mehr heilig und einzigartig, d.h. nicht mehr von Gott bestimmt. Somit ist es dieser Gruppierung im Grunde auch gar nicht möglich die Macht mit einer anderen Gruppen zu teilen. D.h. alles, was von außen herangetragen wird, muss dann auch konsequenterweise bekämpft und als Bedrohung angesehen werden: Kurden, Assad, wer auch immer und die HDP natürlich auch.

Als ich in Istanbul war haben wir über die Entstehung des kurdisch-türkischen Konfliktes diskutiert. Kommt jetzt ein weiterer Aspekt hinzu, indem er sich nun mit dem Syrienkonflikt neu verknüpft? Richtig? Und dennoch muss das ja doch auch eine sehr alte Feindschaft sein, wenn man bedenkt, dass Öcalan im Jahr 1979 in Syrien Zuflucht suchte, um von Damaskus aus den Kampf gegen die Türkei weiter zu organisieren und Syrien auch nach einer Kriegsdrohung durch die Türkei diesen nicht ausgeliefert hat.

Ja, es sieht wirklich so aus. Syrien spielt in dem ganzen Gefüge noch immer eine wichtige Rolle, was ich bisher in diesem Zusammenhang so nicht im Blick hatte. Und weil es auch ein sehr "persönlicher" Krieg ist und Erdoğan auch auf diese Weise ja scheinbar besiegt wird bzw. werden kann, dadurch, dass nun auch die Russen eingreifen, werden manche Emotionen noch verständlicher.

Naja, es ist ja auch sehr offensichtlich. Assad fliegt nach Russland und Erdogan wird von Putin nicht informiert, jedoch alle anderen involvierten Kriegsparteien. Die Länder der Nato wurden einbezogen, das Natoland Türkei an der Grenze zu Syrien jedoch nicht. Das ist eine Taktik, die die Türkei auch in der Nato noch weiter in die Isolation treibt.

Genau, das ist absolut richtig. Als die Türkei den Stützpunkt Incirlik endlich für die Amerikaner geöffnet und bekannt gegeben hat, mit diesen gegen den IS zu kämpfen, versuchte sie doch eigentlich nur, ihre Isolation in der Nato durchzubrechen. Auch die Einladung der deutschen Kanzlerin – wie immer sie auch zustande kam – ist als ein Erfolg für die Türkei zu sehen und als ein Versuch, diese Isolation zu beenden. Die Türkei ist mittlerweile völlig isoliert. Keiner mehr außer Katar und Saudi Arabien – wer ist denn da noch übrig geblieben als außenpolitischer Partner? Und warum ist das so? Weil man der Türkei nicht mehr vertraut. Wenn man kontinuierlich immer lügt oder das Gegenteil von dem tut, was man verkündet – und das hat die Türkei wirklich oft gemacht –  dann brauchst du dich doch nicht zu wundern, wenn du isoliert wirst.
Wie oft wurde gesagt, dass die Türkei den IS nicht unterstützt und keine Waffen schickt. Heute weiss man in der Türkei – und das verdanken wir auch der internationalen Presse – dass dies nicht stimmt. Aber es gibt keine Entschuldigung von Regierungsseite, keine Umkehr, keine Eingeständnisse. Die Doppelstrategie wird einfach weiter verfolgt. Da wundert diese Isolation eigentlich niemanden mehr. Und das wirkt sich mittlerweile auch sehr negativ auf die gesamte Situation im Land aus. Wenn wir einmal sehen, wieviele Milliarden Dollar die Türkei seit dieser Krisensituation wieder verlassen haben, das sind ebensoviel, wie das Land durch die Privatisierungen insgesamt eingenommen hatte, und dieser Verlust geschah in solch einer kurzen Zeit! Das Vertrauen in die Türkei ist weggeschmolzen.

Aber bezogen auf die Aktivitäten vom IS im Land, ändert sich da nicht doch einiges? Insbesondere seit dem Bombenanschlag in Ankara? Ist vielleicht etwas mehr Vorsicht zu bemerken, bezogen auf die schleichende staatliche Islamisierung des Landes durch die AKP?

Ich denke nein, wenn Du die Islamisierung von oben meinst. Im Grunde ist es ja Erdoğan der dieses Land führt. Und er ist bekannt für seine Trotzhaltung, dass er auch bei Fehlern nicht umkehrt oder umdenkt, sondern seine einmal eingeschlagene Richtung bis zum bitteren Ende durchzieht. Er wird diese Islamisierung weiter vorantreiben. Aber sie kommt in der Bevölkerung nicht mehr an und bewirkt das Gegenteil, denn in der Bevölkerung ist eine De-Islamisierung zu bemerken. Und diese Gegenbewegung beschleunigt natürlich den Fall der AKP-Macht an der Basis.

Lass uns abschliessend noch an die Wahl am Sonntag denken. Nehmen wir an, es finden reale Wahlen ohne großartigen Betrug statt, wie sie Whistleblower Fuat Avni angedeutet und bereits dokumentiert hat. Erdoğan muss doch auch mittlerweile begriffen haben, dass die AKP nicht mehr allein regieren wird. Das muss in den Köpfen von ihm und in den Köpfen der AKP drin sein. D.h. alle müssen sich auf die Etablierung einer Koalitionsregierung einstellen und wohl auch einlassen. Eigentlich müsste Erdoğan dann doch auch begriffen haben, dass es mehr darum gehen wird, seinen Kopf zu retten und nicht darum, Sultan des Landes zu werden, oder?

Genau. Es gibt viele Anzeichen, dass er sich um sich selbst sorgt und weniger um das Ergebnis der Wahl und um das Wohl des Landes. Interessant ist auch, dass aus diesen Reihen niemand über eine Koalition ein Wort verliert. Und Erdogan selbst kann mit einer Koalition nicht existieren. Real könnte er schon, aber – wie ich dir gesagt habe – diese Art des theologischen Prinzips seiner Politik, er, als eine von Gott bestimmte Person, ein gottgefallener Führer, da diese Vorstellung bei ihm fest verankert zu sein scheint, kann er keine andere Richtung einschlagen. Er hat sie sich selbst verstellt. Es wird wahrscheinlich über neue Tricks nachdenken, um weiterhin alleine regieren zu können, wiederum Neuwahlen. Aber inwieweit das türkische System das alles weiter mittragen kann oder wird, ist eine andere Frage. Ich denke, man hat hier eine Grenze erreicht, über die man sich nicht mehr hinauswagen sollte.

Entweder wird akzeptiert, eine Koalition zu gründen - möglicherweise mit der MHP. Aber auch dann wird er diese Koalition immer wieder zum Stolpern bringen. Eine Koalition der AKP-MHP wird drei, höchstens sechs Monate überdauern. Was dann wäre? Wieder Neuwahlen? Oder Passivisierung Erdoğans? Wir werden es sehen. Nur eine Sache ist noch wichtig. Die jetzige Regierung ist eine Wahlregierung. Und diesmal haben die Parteien lediglich zehn Tage Zeit, eine neue Regierung zu gründen. Wenn sie das nicht hinkriegen, dann ...

Aber beim letzten Mal haben sie das innerhalb von zwei Monaten nicht hingekriegt?

Genau. Aber diesmal ist eine Wahlregierung an der Macht und nach unserer Verfassung kann der Staatspräsident, also Erdoğan, nach zehn Tagen die Initiative ergreifen und jemanden beauftragen, eine neue Regierung zu gründen - in dem Fall wieder Davutoğlu - und anschließend falls so schnell keine Regierung gegründet wird, erneut Neuwahlen ausrufen. Das erlaubt eine Gesetzeslücke, die Erdoğan ausnutzen könnte, obwohl mehrere hochgradige Akademiker und Richter sagen, dass alles wie beim letzten Mal verlaufen müßte. Naja – in diesem Zeitraum könnte vieles passieren.

Was meinst Du damit?

Falls Erdogan bei seiner Trotzhaltung bleibt, könnte AKP sich spalten und könnte eine neue Partei entstehen. Es könnte z.B. eine große Koalition aus Rest-AKP, MHP und CHP entstehen. Falls die Wahlregierung weiter an der Macht bleibt, könnte sie gestürzt werden. Gerade erst waren die Zeitungen voll mit einem Interview mit dem ehemaligen zweiten Mann in der Partei Bülent Arınç, der andeutete, dass nach den Wahlen viel passieren könnte. Ich denke, dass dies ist Erdoğans letzte Wahl sein könnte. Entweder knickt er ein und bewilligt eine Koalition, was ihm schwer fallen wird, oder er wird gezwungen dies zu akzeptieren, indem AKP sich spaltet und Erdogan de facto entmachtet wird.

Wieso auch Deine Idee eines Sturzes der Regierung?

Es ist gegenwärtig schwer, die Institutionen einzuschätzen, die Armee, den Geheimdienst, die Polizei, die Justiz. Zu wenig dringt an die Öffentlichkeit. Aber eines ist gewiss, es hat viele Säuberungen in diesen Institutionen gegeben, das machte keinem Beamten Freude. Es herrscht eine große Verunsicherung in den Behörden und in der Bürokratie, aufgrund der vielen Pensionierungen, Entlassungen und Umstellungen. Ungewissheit verstärkt nicht unbedingt die Loyalität zu denjenigen, die diese Ungewissheiten produzieren und dadurch herrschen wollen. Ich denke, auch hier ist eine Grenze erreicht worden. Wenn man vieles gekappt, verschleiert und viele mundtot gemacht hat, das Wissen und die Informationen von all diesen Fällen sind immer noch irgendwo vorhanden. Vieles deutet darauf hin, dass alles streng dokumentiert wird - für später. Und so tauchen sie plötzlich irgendwo im Internet wieder auf, sehr genaue Informationen und Dokumente, in Twitter zu lesen - zum Beispiel -  mit Drohungen wie, "ihr werdet eines Tages vor Gericht stehen". So versuchen sie sich auf eine gewisse Weise vor der Willkür der Staatsspitze zu schützen. "Passt auf", soll das heissen, "wir wissen alles über euch, und eines Tages können wir es gegen euch einsetzen."

Erst werden wir aber sehen, ob sich die Befürchtungen von Fuat Avni bewahrheiten, und verfolgen, wie die Wahl ablaufen wird. Es deutet etliches darauf hin, dass es nicht einfach werden wird.