Beutefrauen – Ach mein Kind ...

Wenn eine Geschichte überzeugend erzählt werden will, musst sich Erinnerung mit Einbildungskraft verdichten und umwandeln. Geschichten und die Freiheit zur Erfindung, die sie gewährt, bieten die psychische Abschirmung, durch die es überhaupt möglich ist, Themen in Angriff zu nehmen, die sonst für unzugänglich, wenn nicht für sogar unschreibbar gehalten werden. 
(Nach L. Begley - Zwischen Fakten und Fiktionen)

"All die Jahre habe ich fast nie über diese Zeit gesprochen, auch nicht mit meiner Mutter. Ich hätte gern mit ihr geredet, sie über ihre Gefühle befragt. Aber das ist leider nicht mehr möglich." (L. Biallas - Ich war Kriegsbeute)


Wir fahren durch das Dorf. "Das hier, das ist es!" Ein einsames Haus, weit draussen. Birken und Büsche, eine sandige Strasse, mehr nicht. Hier hat sie sich versteckt, meine Mutter. Damals, wenn sie aus dem Dorf zurück kam, weil niemand sie aufgenommen hatte. "Kein Platz!" Und die Türen blieben ihr verschlossen, wenn sie von ihrer Angst reden wollte, ihrer Angst vor den Russen, die immer näher rückten. So blieb sie allein in diesem großen Haus, allein mit ihren Kindern. Da war viel Platz. Und den haben sie sich genommen, "die Russen"als sie kamen, den - und meine Mutter.

"Ach mein Kind... meinst Du, ich hab sie gezählt?" Mutter sprach nicht oft darüber. Ernst blickt sie mich jetzt an, mit ihren klaren blauen Augen und erklärt mir, warum das doch so ganz selbstverständlich sei. Denn es war doch Krieg damals. Deutschland wurde besiegt. Endlich! Und die Frauen waren die Beute. Damals.

"Manchmal konnte ich nicht mehr" fährt sie fort, "dann hab ich mich versteckt. 
Dann, wenn sie wieder mal riefen ‘Fraaaau komm!!' "
Versteckt?
"Ja, auf dem Dachboden, oder, naja, im Schuppen, unter dem Stroh für das Vieh."
Wie? Was?
"Naja, tief eingebuddelt hab ich mich dann. Stroh über mir und einen Strohhalm im Mund, um Luft zu kriegen. Stundenlang. Bis wieder Ruhe war, und sie wieder weiter gezogen sind."

Sie erzählt knapp, wie unbeteiligt, meine Mutter. 
Als erinnere sie irgendeine Filmszene und nicht ihr eigenes Leben. 

Wie hast Du das alles nur ausgehalten?!
"Naja, gar nicht. Es war grausam. Es waren einfach so viele! 
Immer wieder und wieder und wieder ... . 
Aber  man entwickelt Strategien."
Strategien?
"Ja klar, ich musste doch überleben, ich hatte doch Kinder!"
Wie hast Du das gemacht?
"Man lernt sehr schnell. Man kennt die Rangabzeichen der Soldaten. 
Du guckst, wenn sie kommen und suchst dir den Ranghöchsten aus. 
Wenn du ‘deine Sache‘ gut machst, scheucht er die anderen weg, und du hast dann etwas Ruhe."

Und meine Geschwister? Wo waren die denn bei all dem?
"Ach ihr Kinder ! Ihr wart mein Segen! Und mein Fluch zugleich!
Die Russen sind sehr kinderlieb. Sie hatten ihre eigenen Kleinen lange nicht mehr gesehen. 
Ihr seid so süß gewesen, damals. Das hat sie fasziniert.
Mama, mich gab es damals noch gar nicht. 
"Ja. Und ihr habt schnell gelernt! Habt sofort eure Ärmchen nach ihnen ausgestreckt, wenn sie ankamen. Und darüber haben sie mich manchmal vergessen, oder mich dann doch mehr als Mutter gesehen und nicht so als Frau."
Und der Fluch?
"Naja, ihr seid ward klein und habt geheult und mich gesucht, wenn ich mich versteckt hab. Und die Russen warn ja auch nicht blöd, gell?! Und wenn die mich gefunden haben, das war dann hart. Dann setzte es Schläge. Oder einmal, da haben sie einfach alles aus dem Fenster geworfen, alles, was sie greifen konnten. Geschirr, Bücher, Musikinstrumente, einfach alles. Und ich durfte es nicht wieder einsammeln."

Mehr Details verrät sie nicht, meine Mutter. Und ihre Geschichte endet vor dem großen Fluss in meinem Heimatdorf, die Kinder rechts und links an der Hand:

"Ins Wasser wollte ich gehen, mit euch Beiden. Ich konnte nicht mehr. Aber irgendwas hielt mich davon ab, in letzter Sekunde.  Und heute weiß ich, wie sehr er stimmt , dieser Satz: Die Hoffnung stirbt zuletzt, denn sie hat uns alle drei gerettet."




Es ist gut, dass sie verschwimmt, die Erinnerung. Waren es drei Kinder damals, oder schon vier Kinder, oder erst zwei? Es ist unwichtig, heute, wenn sie erzählt, meine Mutter. 

Hierzu:
  • Anonyma: Eine Frau in Berlin. Tagebuchaufzeichnungen vom 20. April bis 22. Juni 1945. Frankfurt am Main 2003.
  • Biallas, L.: Ich war Kriegsbeute "Komm, Frau, raboti". Augsburg 2012.
  • Brownmiller, S.: Gegen unseren Willen. Vergewaltigung und Männerherrschaft. Frankfurt am Main 1978.
  • Eichhorn, S. & Kuwert, PH.: Das Geheimnis unserer Großmütter. Giessen 2011.
  • Sander H. & John B. (Hrsg.): BeFreier und Befreite: Krieg, Vergewaltigung, Kinder. Frankfurt am Main 2008. Dazu der Film.
  • Stiglmayer, A.: Massenvergewaltigung: Krieg gegen Frauen.  Freiburg i.Br. 1993.

Die "Deneme-Yanılma" Methode – Ein Gespräch mit Selçuk Salih Caydı

Fast zwei Monate ist es her, seit Selçuk mit mir in Istanbul in der kleinen Kneipe saß, und wir uns über das Wahlergebnis in der Türkei die Köpfe heiss geredet haben und alles um uns herum ignorierten, so dass sogar der Tee kalt wurde. Dieses Gespräch haben wir über Skype geführt. Dabei ist es sicherlich einfacher, es nachzulesen, als es sich anzuhören, denn Selçuk redet wie ein Wasserfall, und jeder Satz hat Substanz, so dass es bei ihm keine Zeit zum "mal-kurz-weghören" gibt. Und während wir reden läuft die Zeit weiter und neue Ereignisse machen unsere Gedanken zwar nicht ungültig, müssen jedoch in andere Zusammenhänge gestellt und mit einbezogen werden. Und während wir das tun, ist schon wieder alles ganz anders. Oder auch nicht. Das ist so in der Türkei. Zumindest gegenwärtig ist das so:

Kurz vor unserem letzten Gespräch im Juni fand das Attentat bei einer Wahlveranstaltung der HDP in Diyabakır statt. (1) Ein paar Tage später gab es dann die Wende in der politischen Parteienlandschaft durch den Einzug der HDP ins Parlament. Mit 80 Abgeordneten wurde sie drittstärkste Partei und Folge dieses Ereignisses ist eine Beendigung der Alleinherrschaft für die AKP. So wollten und wollen es die Wahlberechtigten mit türkischem Pass in und außerhalb der Türkei – auch nach den neuesten Umfragen. 
Doch heute – zwei Monate nach der Wahl – ist die Realität eine ganz andere. Die AKP be-herrscht weiterhin das Land und kaum jemand spricht noch ernsthaft über Möglichkeiten einer Regierungsbildung. Die Koalitionsgespräche sind abgeschlossen und die MHP verkündet, sie sei mit einer Minderheitsregierung der AKP bis zu möglichen Neuwahlen im November einverstanden, dementiert das dann und stimmt dem morgen dann vielleicht doch wieder zu. Mal sehn.
Und wieder war mit ein Auslöser dieser Entwicklung ein Ereignis im Osten der Türkei, das Attentat auf eine Gruppe von linken Jugendlichen in Suruç. (2) Ein Attentat, das von vielen Stellen dem IS zugeschrieben wird. (3) Und in der Folge dann die Ermordung von zwei Polizisten in Şanlıurfa, zugeschrieben der PKK. 
Allesamt Ereignisse in der Osttürkei, die insgesamt zu einer Situation geführt haben, die eine Beendigung des seit 2013 bestehenden Waffenstillstandes mit der PKK zur Folge hat und mit einem angeblichen "Kampf gegen den IS" ummäntelt wird.
Und mit meinen Worten heisst das: Ist ein Waffenstillstand  beendet und kein Frieden beschlossen, herrscht wieder der Krieg im Land. Und diesmal auch über das Land hinaus, nämlich auch in all denjenigen Gebieten und Regionen in denen sich die PKK-Gruppen aufhalten, und das sind nicht nur die Bergregionen im Osten der Türkei.
All dies geschah in für mich atemberaubender Geschwindigkeit. In der Vorbereitung auf unser Gespräch habe ich diese Entwicklung den Beginn eines Tanzes auf dem Vulkan beschrieben. 
Siehst Du das ebenso?

Ich denke, gegenwärtig passiert in der Türkei etwas ganz Gefährliches, was wir die Methode "Deneme-Yanılma" nennen und sinngemäß bedeutet "Wir handeln erstmal, und dann sehen wir weiter." Wenn daraus etwas Gutes entsteht, ist es gut, wenn nicht, ist es auch gut, und wir werden aus den Fehlern lernen. Hauptsache, es wird etwas getan.

Ein Aktionismus ohne Sinn und Verstand? Und wenn ja, wer ist der Akteur bzw. wer sind die Akteure dabei?

Nein, eher ein strategisches Handeln und zwar zielgerichtet auf ein gedachtes Ergebnis, das man vor Augen hat. Und für dieses Ziel setzt man sich in Bewegung und zwar ohne Netz und doppelten Boden, d.h. ohne die geringste Sicherheit, ob das einmal begonnene Handeln das gesetzte Ziel auch erreichen kann. Für Erdoğan geht es ausschliesslich darum, die verlorene Macht für die AKP zurückzugewinnen, um das Land wieder allein regieren und das von ihm favorisierte Präsidialsystem doch noch etablieren zu können. Aber es ist mehr als fraglich, ob das über Neuwahlen gelingen kann. Daher stellen sich viele heute die Frage, ob hier nicht ganz bewusst ein Pulverfass zum Explodieren gebracht werden soll, in der irrigen Annahme, das Ziel auf diesem Wege dann doch noch erreichen zu können.
Und dabei war es die Hoffnung auf Frieden, die mit dazu beigetragen hat, dass die AKP 2002 an die Macht kam. 15 Millionen Kurden – und nicht nur die, sondern auch Millionen von Türken – träumten damals vom möglichen Ende des 30jährigen bewaffneten Konfliktes, der etwas 40.000 Menschenleben gekostet hat. Erdoğan scheint nun dabei zu sein, diese Hoffnungen wieder zu zerstören. Und eigentlich weiss man auch gar nicht, ob ein Friedensprozess jemals wirklich ernsthaft in Erwägung gezogen wurde, denn alle Verhandlungen mit dem PKK-Chef Öcalan wurden heimlich geführt, nichts drang an die Öffentlichkeit. Und plötzlich kam Öcalan dann im März 2013 mit seiner Erklärung zu Newruz an die Öffentlichkeit, in der er die PKK-Militanten aufrief, die Waffen wegzulegen und sich an einer demokratischen Lösung der Kurdenfrage zu beteiligen. Aber auch seither ist keine Kontinuität bemerkbar. Zwar gab es insbesondere vor den Wahlen einige Zugeständnisse auf der einen Seite, auf der anderen Seite blieb jedoch immer auch ein Schielen auf die nationalistische Wählerschaft und deren Ablehnung eines solchen Friedensprozesses mit der PKK.

Aber eigentlich wissen wir, dass der "Feind" der hier bekämpft werden soll gar nicht unbedingt die PKK ist. Bei vielen Analysten im Lande herrscht Konsens darüber, dass die Änderung der öffentlich deklarieren politischen Haltung gegenüber dem IS nur die "Tarnung" einer grundlegenden Verschiebung in der Kurdenpolitik des Landes ist, um die HDP zu treffen. Die wirkliche Bedrohung wird in der HDP gesehen, und der Kampf richtet sich hier insbesondere gegen Demirtaş. Das ist aber ein sehr gefährliches Spiel, nach innen wie nach außen, und man ist dabei, die türkische Demokratie vielleicht auf Dauer zu beschädigen.

Ministerpräsident Davutoğlu hat offiziell noch etwas Zeit, eine Regierung zu bilden bevor Präsident Erdoğan von seinem verfassungsmässige Recht Gebrauch machen kann, Neuwahlen zu verlangen. Interessant wäre in dieser Zeit doch eigentlich gewesen, anhand von innen- und aussenpolitischen Debatten ein Gefühl dafür zu bekommen, welche der vielfältigen "Baustellen" des Landes mit wem gemeinsam wie angegangen werden könnten. Wirtschaftliche, innen- und außenpolitisch drängende Themen stehen im Raum, und die Positionen dazu sind abzuklären. Aber es entsteht bei mir ein ganz anders Gefühl, so als wurde ein "ich-möchte-ganz-gerne"-Davutoğlu an einer Gummibandschnur gehalten und in den entscheidenden Momenten dann doch wieder zurückgeschnippt werden. Wir haben im letzten Gespräch mehrere Koalitionsmöglichkeiten durchgespielt. Geht es darum überhaupt noch?

Ich denke, der Eindruck täuscht nicht, dass sich Davutoğlu um eine Regierungsbildung bemüht hat. Ich glaube aber nicht, dass er so stark ist und es ihm noch gelingen wird, zumal die MHP ja nun offenkundig eine Minderheitsregierung dulden wird. Und in dieser Zeit werden Erdoğan und ich denke auch die AKPler alles daran setzen, um das Scheitern der Alleinherrschaft der AKP bei den nächsten Wahlen wieder rückgängig zu machen.

In vielen Ländern sind Koalitionsregierungen erfolgreich. Wovor haben Erdoğan und die AKP solche Angst? Da geht es doch um mehr als um den Machtverlust, oder?

Natürlich. Da ist einmal das Verhältnis der AKP zu Erdoğan. Erdoğan ist zu mächtig geworden, das wissen viele in der AKP und sind ambivalent. Denn nicht alle in der Partei wollen das geplante Präsidialsystem. Aber Erdoğan gibt nicht auf. Es ist sein Ziel und das weiss jeder. Er sieht sich sozusagen als ein neo-osmanischer Sultan im Wartestand. So erklärt sich auch sein gegenwärtiges Verhalten. Und die AKP muss ihn bei Laune halten, denn ohne Erdoğan, das weiss die AKP sehr genau, würde sie schnell in ein Nichts zerfallen. Davutoğlu hat nicht die Macht und nicht genügend Gefolgsleute um sich gesammelt, um ohne Erdoğan auf eigenen Beinen stehen zu können. Hinzu kommt noch immer eine gewisse Schockstarre in der Partei. Niemand hatte mit diesem Wahlergebnis gerechnet. Daher wurde sich auch nicht auf einen solchen Wahlausgang vorbereitet. Alles war für einen Übergang in ein auf Erdoğan zugeschnittenes quasi Sultanat angedacht und geplant. Die Wahlliste der AKP Parlamentarier war sorgfältig vorbereitet. Die möglichen Konkurrenten oder Kritiker waren beseitigt worden. Man hat begonnen, die Schlüsselinstitutionen der Türkei zu kontrollieren. Und dann kam das Ergebnis. Wie ein Schlag ins Gesicht. Lediglich Erdoğan ist wieder fix auf den Beinen – obwohl ihm das Ganze nachweislich auch einen Schlag versetzt hat – und er agiert wieder in der uns bekannten Weise. Das heisst, er kämpft um sein politisches Überleben und vielleicht auch noch um weit mehr als nur das.
Und hier kommen wir zu der Frage, warum eine Koalition für die AKP so gefährlich ist. Die letzten Jahre haben immer wieder ans Licht gebracht, wie viele Korruptionsaffären Erdoğan betreffen, in die aber auch viele Mitglieder der AKP verwickelt sind. Ihnen werden Morde und Attentate zugeschrieben, aber alles bleibt irgendwie im Nebel und wird nicht wirklich aufgeklärt. Mit diesem Machtverlust der AKP besteht nun die grosse Gefahr der Rückkehr zu einem Rechtsstaat in dem begonnen wird, diese Vorfälle aufzuklären. Ich denke, dass ist die große Angst, die im Moment zum einen Teil das Handeln blockiert und zum anderen zu dieser hoch explosiven Situation im Land geführt hat.

Kann da im Hinterkopf eventuell sogar der Gedanke stecken, sich als Kriegsherr verdient machen zu können, ggf. sogar die Wahlen auszusetzen, wenn es zu mehr kriegerischen Handlungen kommen würde, dabei die Zeit zu nutzen, um die HDP auszuschalten, um sich im Anschluss als Held feiern und wählen zu lassen? Eine Wahnidee oder kann da etwas daran sein? Denn wieso "nutzt" man nicht wieder Öcalan zu einer De-Eskalationsstrategie, der ja für Friedensgespräche eintritt? Kein Ton ist von ihm zu hören. Oder wird er an der Gelegenheit dazu gehindert? Schliesslich sind die Statements von ihm immer auch abhängig vom staatlichen Bedarf und der Erlaubnis zu einem solchen. Wieso ist ein solcher Bedarf staatlicherseits im Moment anscheinend nicht gegeben, wo er doch so offensichtlich ist?

Ich denke man ist im Moment überhaupt nicht an einem Statement von Öcalan interessiert, denn es geht nicht um die PKK, es geht darum, die HDP zu kriminalisieren und ggf. sogar darum, sie zu verbieten. Es wäre nicht das erste Mal in der Geschichte der türkischen Republik, dass ein Verbot als politisches Machtmittel genutzt wird. Kaum hatte sich in der Vergangenheit eine kurdische Partei etabliert, wurde sie auch schon wieder verboten. Seit der Gründung kurdischer Parteien ab dem Jahr 1993 geschah dies bereits sieben Mal. Mit der HDP ist das diesmal allerdings nicht so einfach, obwohl Juristen hier bereits am Werk sind, wie man weiss.
Demirtaş ist eine Person mit Charisma. Außer der AKP hat weder die MHP noch die CHP einen solchen Führer. Er ist beliebt. Insbesondere bei der jüngeren Generation. Und das macht ihn für die AKP und Erdoğan auch so gefährlich. Die Distanz zu ihm wurde von einigen demokratischen Gruppierungen mittlerweile doch aufgegeben. So steht m.E. die Vereinigte Junibewegung – die aus den Gezi-Protesten hervorgegangen ist – weitaus mehr hinter ihm, als noch vor den Wahlen. Und da die HDP sich eindeutig von Gewalt distanziert und verlangt, dass der Kurdenkonflikt nicht mit Waffen, sondern durch Verhandlungen im Parlament zu regeln sei, nimmt auch in anderen Gruppierungen die Zustimmung zu dieser Partei weiter zu. Diese Partei kann sicherlich nicht mehr so einfach unter die noch immer bestehende 10 % Wahlhürde gedrückt werden. Also muss man anders gegen sie vorgehen. Aber das geht nicht so einfach, zumal sich Demirtaş eindeutig gegen ein gewalttätiges Vorgehen seitens der PKK gewandt hat und immer wieder glaubhaft betont, eine demokratische Partei zu vertreten, die die Bevölkerung des gesamten Landes im Blick hat. Das wiederum hat ihm auch das Wohlwollen bei den Armeniern eingebracht, die sich gegenwärtig auch wieder kriminalisiert sehen und gegen die erneut Übergriffe vorgenommen wurden. D.h. die Zustimmung zur HDP wächst in allen Bevölkerungsschichten und in allen Gruppierungen und die HDP ist schon lange nicht mehr als eine kurdische Partei zu sehen und zu gewichten. Sie ist mehr.

Ist hier vielleicht auch mit ein Grund der eher zögerlichen Antworten seitens der PKK zu sehen, gegen die ja im Moment Angriffe geflogen werden und die dadurch in kriegerische Auseinandersetzungen gezwungen werden. Niemand würde letztlich verstehen, wenn sie das einfach hinnehmen würden. Im Vergleich zu den Möglichkeiten dieser Gruppierung finde ich ihre Antworten bislang jedoch eher moderat. Von einer Gegenoffensive kann man noch nicht sprechen. Hat die PKK von der HDP gelernt, dass kriegerische Handlungen nur weitere Gewalt nach sich ziehen und ein demokratischer Verhandlungsweg perspektivisch mehr zu ihrer Stärkung führt?

Sicherlich ist auch die Zeit der Waffenruhe auf die PKK nicht ohne Einfluss geblieben, und ich denke, auch sie erhofft sich einige Veränderungen durch die HDP. Daher ist sie vorsichtig und will nicht schaden, da auch ihr bewusst wird, welche Rolle sie in dem Spiel spielen soll. Hinzu kommt, dass die Kurden ihre wirkliche Bedrohung noch immer und zu Recht im IS sehen und ihre Kräfte darauf konzentrieren müssen und auch wollen. Und da ist ja jetzt auch der Punkt, wo es anfängt für die AKP wirklich schwierig zu werden, weil sich hier die geopolitische Lage des Landes mit der innenpolitischen Lage der Türkei vermischt. Das wäre aber ein eigenes Thema, wie nämlich die Aussenpolitik der AKP immer aus der Perspektive der innenpolitisch gesehenen Notwendigkeiten bestimmt wird. Und schon sind wir bei dem Dilemma des Umgangs der AKP mit dem IS.

Ich habe selten ein Land gesehen, das seine Außenpolitik so stark am innenpolitischen Bedarf zum Machterhalt ausrichtet und dabei immer wieder in ein Dilemma gerät – wie dies in der Türkei gegenwärtig passiert – weil der Rest der Welt halt einfach nicht gewillt ist, sich an diesem innenpolitischen Bedarf einer Partei oder einer Person entlang zu hangeln. Fast sieht es so aus, als sei die Türkei in die Situation eines Zauberlehrlings hineingerutscht, der plötzlich feststellen muss, dass er die Geister, die er rief, nicht nur nicht mehr los wird, sondern diese sich auch ganz gefährlich gegen ihn wenden könnten.

Die Stimmung für oder gegen die radikalen Islamisten des IS im Land und ihre mörderischen Akte in Syrien und im Irak ist sicherlich nicht  einheitlich zu sehen, jedoch ist sie zu großen Teilen eben auch nicht ablehnend ihnen gegenüber. Bis hin in die Gruppe der kritischen "Antiimperialistischen Muslime" ist immer wieder auch ein Wohlwollen spürbar, da sich deren Kampf aus ihrer Sicht eben gegen den "westlichen Imperialismus" richtet. Die Sichtweise und Einschätzung der AKP zur Gruppe des IS ist hinlänglich bekannt. Das zahlreiche Aufdecken von unterstützenden Aktionen spricht eine klare Sprache. Hinzu kommt, dass wohl auch gegenseitige Absprachen existieren. Denken wir nur an die Freilassung der Geiseln aus dem türkischen Konsulat in Mosul, die über Geheimverhandlungen erreicht wurden, deren Inhalt niemals an die Öffentlichkeit gelangt ist. D.h. zum einen existieren Absprachen, die es zu beachten gilt und zum anderen muss auf die unterschiedlicher Gruppierungen mit ihrer positiven Gesinnung dem IS gegenüber geachtet werden, denn sie sind auch ein Wählerpotential für die AKP, die gegenwärtig um jede Stimme buhlen muss. Denn sie wird ganz eindeutig Stimmen verlieren bei der nächsten Wahl. Viele kurdischstämmige Wähler werden der Partei den Rücken kehren, Aleviten wählen sie so wie so nicht mehr, und viele Wähler aus der Junibewegung haben gegen die AKP mittlerweile klare Position bezogen. Letztere mit ihrem jüngsten Aufruf und den Forderungen – Syrien den Syrern, keine Einmischung von außen, lasst die Syrer selbst entscheiden – mahnen die AKP auch endlich mit der Unterstützung der radikalen Islamisten aufzuhören. Keine einfache innenpolitische Situation, in der Zeitgewinnung durch eine Minderheitsregierung um Neuwahlen vorzubereiten – die ggf. auch noch einmal verschoben werden können, falls die militärischen Auseinandersetzungen zunehmen sollte – eine willkommene Verschnaufpause sind.

Ich denke, wir hören hier auf, weil schon wieder neue Ereignisse ein Überdenken unseres Gespräches notwendig machen, insbesondere die Entwicklungen um die Syrienkrise, das Hin und Her der Parteien um eine mögliche bzw. unmögliche Regierungsbildung, das weitere Verhalten der PKK auf die nicht abbrechenden Angriffe - täglich kommt Neues hinzu, so dass wir vielleicht den Abstand unserer Gespräche verkürzen sollten. Mal sehn.


(1) Bombenanschlag am 5. Juni auf eine Wahlveranstaltung der HDP mit mittlerweile 4 Toten und über hundert Verletzten.
(2) Selbstmordattentat am 20. Juli  auf das Amara Kulturzentrum in Suruç/Urfa mit 32 Toten und über hundert Verletzten.
(3) Der IS-Selbstmordattentäter war 20 Jahre alt und stammte aus Adıyaman, eine von Kurden bewohnte türkische Stadt im Südosten des Landes.  Der IS hat unseres Wissens die Verantwortung für dieses Attentat offiziell nicht übernommen, was eher unüblich für diese Gruppierung ist.


Der Tanz auf dem Vulkan - Wohin driftet die Türkei?

In den letzten Tagen überschlagen sich die Ereignisse. Innen- und Außenpolitik in der Türkei haben sich zu einem solch explosiven Gemenge vermischt, dass man von den Akteuren den Eindruck haben könnte: ‘Denn sie wissen nicht, was sie tun‘ (1). Die ganze Politikerriege der AKP vereint wie ein einziger ‘Jim Stark‘ aus Sorge um die Anerkennung bzw. den Zorn des Vaters bzw. des Möchtegern-Kalifen. Dabei ist es doch höchste Zeit, erwachsen zu werden und sich von diesem zu emanzipieren, um nicht noch größeren Schaden im Lande anzurichten, bzw. von ihm abzuwenden. „No-one should sacrifice Turkey for their own ends. The man sitting in the illegal palace is gambling with Turkey’s future“ warnt Kılıçdaroğlu am heutigen Tag erneut, wie bereits 2014 damals vor der Präsidentenwahl: „I call on my people: If you want war, if you want our children to be killed in wars in Middle East, go and vote for Erdoğan.“ (2)

Steuert das Land durch diese Hörigkeit der AKP-Riege in einen Krieg? Und vor allem auch, gegen wen? Nach türkischer Verfassung kann aber weder der Premier noch der Staatspräsident, sondern allein das Parlament über einen solchen entscheiden. Gut, dann nennt man es eben einfach nicht  ‘Krieg’ sondern ‘self defense‘ so wie Brett McGurk am 26.7.15 es tut. (3) Und dennoch, auch wenn es gegenwärtig keine amtierende Regierung gibt: Die ehemalige Opposition hat seit den Wahlen vom 17. Juni eine Mehrheit im Parlament. Wieso stoppt sie diesen Wahnsinn nicht einfach, egal ob er als ‘Krieg‘ oder als ‘Selbstverteidigung‘ etikettiert wird?b Offensichtlich ist diese Frage nicht mit Hilfe einer einfachen Logik zu beantworten.

Da wird das Hin- und Hergezerre um İncirlik auf einmal blitzartig beendet. Da ist die Türkei plötzlich ein ‘ehrlicher‘ Koalitionspartner im Kampf gegen ISIS. Eine Grenzsicherheitstruppe mit der Stärke von 70.000 Personen wird angekündigt. Ein Mauerbau ist geplant:



Da werden Angriffe gegen ISIS in den Nordirak und nach Syrien geflogen, mit dem Ziel einer ISIS-freien Zone, in der die ins Land geflohene syrische Bevölkerung dann später angesiedelt werden soll. Und sofort sind der Westen und die USA bereit, beim Koalitionswackelkandidaten nun Milde walten zu lassen angesichts dieser neu angekündigten und bereits begonnenen Taten. Hurra lobt da Deutschlands Verteidigungsministerin, Frau von der Leyen, endlich eine in der Koalition wieder ernstzunehmende Türkei, um sich am nächste Tag verwundert die Augen zu reiben, angesichts der Ergebnisse dieser Angriffe. Denn es sind überwiegend PKK Stellungen, die angegriffen wurden.



Und blickt man auf die Zahlen der verhafteten Personen im Inland – es wird von Hunderten gesprochen mit stetig steigender Anzahl – so werden lediglich ca. 30 davon als IS-Anhänger bezeichnet. Alle anderen seien Kurden, Linke oder Angehörige von Menschenrechtsorganisationen, so die Berichte. Eine willkürliche Verhaftungswelle ohne Strategie, hunderte von Personen so einfach einkassieren und festnehmen? Oder steckt da doch eine Strategie dahinter, nämlich einfach mitzunehmen und wegzusperren, was unbeliebt und unbequem und - verrückt - dazulassen was eigentlich gefährlich ist? Denn 8 der in Adıyaman festgenommenen IS-Angehörigen sind bereits wieder auf freiem Fuss.




Was passiert da? Will man staatlicherseits lediglich Angst und Terror verbreiten, um von den eigenen Unfähigkeiten abzulenken, oder ist es umgekehrt eher die Angst vor dem möglichen Ende der eigenen Macht, aufgrund des zunehmenden öffentlichen Bewusstseins der Veränderungen im Land aufgrund einer erstarkten und selbstbewussten demokratischen kurdischen Bewegung? 
Der Erfolg ist bereits sichtbar: eine gelähmte Masse, ängstlich vor dem Fernseher kauernd, das Alltagsgeschehen beobachtend ,in der Sorge vor einem Krieg auf der einen und auf der anderen Seite die Entladung der masslosen Wut über die sichtbare und gewollte Eskalation, die im Gegenzug wiederum von der Politik nutzbar gemacht wird, um die gelähmte Masse noch stiller als still werden zu lassen.

Es ist schwer, das alles zu durchschauen – obwohl es doch eigentlich so offensichtlich ist. Die Berichterstattung ist eine Aneinanderreihung von Ereignissen mit dem Versuch, das Ganze je nach politischer Coleur in die vorfindlichen Denkschablonen einzupassen. Reflexive und erklärende Texte sind spärlich. (4) Vielleicht ist es auch noch zu früh, um zu analysieren, wohin die Reise wirklich geht. 

Und beobachtet man die Meldungen aus den sozialen Netzwerken – unterstrichen von aktuellen und/oder aus dem Archiv herausgesuchten ‘aktuell passenden‘ alten Fotos – so begegnen einem Stimmungsbilder mit Eskalationsängsten bis hin zu Bürgerkriegsvorstellungen umrahmt von Ichhabsdochgewusstundschonimmergesagt Weisheiten. Kaum ein Beitrag ist frei von bewussten oder unbewussten subjektiven Wirklichkeitskonstruktionen. Wie denn auch? Das Thema ist viel zu emotional besetzt und erscheint den Ereignisse nach zu urteilen wie der Tanz auf einem Vulkan. 
Und ich selbst weiss es ja auch nicht viel besser. Daher werde ich in den nächsten Tagen versuchen, Selçuk Salih Caydı zu erreichen, um mit ihm über die neuesten Geschehnisse sprechen, denn unser letztes Gespräch ist bereits 2 Monate her.


(1) Rebel Without a Cause, Film aus dem Jahr 1955
(2) Hurriyet Daily News 6.8.2014
(3) Deputy Special Presidential Envoy for the Global Counter ISIL im US Department of State
(4) Wohltuend heben sich hier die beiden Texte von Deniz Yüksel  http://linkis.com/www.welt.de/politik/SS824 und Michael Martens  http://www.faz.net/-hub-863id ab.




Gefunden – Selçuk Salih Caydı's Hodscha-Geschichten

Die ersten Hodschageschichten von Selçuk fand ich in seinem Blog und zwar in türkischer Sprache. Es hat etwas gedauert, ihn davon zu überzeugen, diese doch übersetzen zu lassen. "Der Kessel hat ein Junges bekommen" war bereits in türkischer Sprache erschienen. "Der Pelz, der nach Konya ging" ebenfalls. "Der zweite Gesprächsversuch des Vakanüvis mit Hafiz dem Witzigen" allerdings noch nicht. Ja und die anderen Geschichten, das Manuskript habe er "verbummelt", gestand er. Aber eine handschriftliche Version sein bestimmt irgendwo noch zu finden. 
Er hat es gefunden, das Manuskript. Vor kurzem erhielt ich diese Nachricht und einen kurzen Überblick über sein Werk. Und nun? Wir werden sehen, ob es als sein erstes Buch in Deutscher Sprache erscheinen wird. (CHH)


Ein Kornelkirschenerlebnis mit Hodscha

Eine mystische Geschichte. Ein Derwisch kommt, um Hodscha eine Frage über Mystik zu stellen. Aber er stellt diese Frage, ohne ein Wort auszusprechen. Hodscha erhält die Frage von seinem Jünger, indem er den Jungen ausfragt. Auf diese Weise spricht der Derwisch durch den Jungen. Hafiz und paar der islamische Gelehrten draußen vor der Tür in Hodschas Dergah verstehen nichts von dieser Art des Derwisches. Hodscha bestellt nun diese unfühlsamen Buchwissengelehrten zu sich, um sie mit einem Kornelkirschenast zu verprügeln. In dieser Geschichte geht Hafiz auf eine der bekanntesten Hodscha-Geschichten "Du hast auch recht" ein. [1] 

Vakanüvis erster Interviewversuch mit Hafiz dem Lustigen

In dieser knappen Episode erzählt Hafiz seinem Publikum eine Hodscha-Geschichte, als Vakanüvis ankommt, um mit ihm zu reden. Er fragt, wie Hafiz den Hodscha eigentlich kennengelernt habe. Hafiz quaselt etwas Phantastisches, dass über den Tod hinausgeht. Er veralbert Vakanüvis und schmeißt ihn raus. Dann beginnt er vor seinem Publikum in der Dorfkneipe auf seine sehr eigene Weise eine neue Geschichte und erzählt den Anfang von "Der Kessel hat ein Junges bekommen." [2]

Der Derwisch und sein Schweigegelübde

Eine mystische Geschichte von einem Derwisch mit Schweigegelübde, der sich vor dem Hodscha nicht beherrschen kann und ihn mit einem Geistesschwert droht, sich deswegen aber bei ihm entschuldigt und daher seine Gelübde bricht. Hafiz wird Zeuge dieses Momentes und kriegt einen Schock, kann nicht mehr sprechen. Da sagt Hodscha zu ihm "Bis du darüber keinen Witz ausreißen willst, wirst jetzt DU sein Gelübde tragen." [3]
(Hafiz wird in den Geschichten immer als jemand dargestellt, dass er zwar theoretisch viel über Mystik weiß und den Schülern davon erzählt, aber doch ein durch und durch rationaler Mensch ist. Wenn sein Wissen über Mystik doch wahr wird und Hodscha bzw. seine Jünger Wunder vollbringen, kann er nur schwer glauben, was er sah.)

Ein mongolischer Besucher

Diese längere Geschichte erzählt ausführlich, wie Hodscha mit einem Kornelkirschenast einen mongolischen Bandenführer mit dickem Schwert besiegt und dabei Hafiz den jüngeren Hodschas die Grundlagen vom "Kämpfen ohne Waffen" beibringt. Das Stück ist dem Yagyū Munenori gewidmet, da die Geschichte auf seiner Kampftheorie basiert. [4] Der Herausforderer wird vom Hodscha besiegt, und zum Schluß wird auch dem rationalgläubigen Hafiz eine Lektion erteilt. Woraufhin Hafiz auf der Stelle eine neue Hodscha-Geschichte ausbrütet, die vom Hodscha und dem Storch. [5]

Die Wissenden und die Nichtwissenden

Diese Geschichte basiert völlig auf einer Hodscha-Geschichte. Hafiz hatte sie "ausgebrütet" aber noch niemandem erzählt. Er macht mit dem Hodscha einen Deal und schliesst eine Wette mit ihm ab. Er glaubt, dass die Geschichte so verlaufen würde, wenn Hodscha nur nach Hafiz' vorgedachter Geschichte mitspielen würde. Und die Geschichte geht etwa so:
Hodscha fragt die Gläubigen: "Wisst ihr, was ich euch erzählen werde?" Diese antworten mit "Nein". Und er fährt fort, "tja, warum soll ich es dann erzählen?" und geht. Am nächsten Tag stellt er dieselbe Frage noch einmal. Nun antwortet die Menge: "Ja wir wissen". Da sagt er "ach gut, ihr kennt's ja schon," und lässt die Gläubigen stehen.
Am dritten Tag hat die Menge sich abgesprochen damit der Hodscha auf keinen Fall wieder wegläuft. Sie sagen: "Hodscha, die Hälfte von uns weiß, die andere Hälfte weiß nicht, was du erzählen wirst."  Da meint der Hodscha, "dann sollen es die Wissenden den Unwissenden erzählen." Hafiz hat dies so geplant und mit Hodscha gewettet. Aber am dritten Tag sagen die Jünger im Palast etwas anderes und bringen Hafiz durcheinander. Daraufhin stellt Hodscha eine vierte Frage, die gar nicht geplant war und Hafiz' Vorstellung sprengt. [6] Hieraus ergibt sich eine längere Geschichte und zum Schluss wird aus Spaß der Anfang der Hodscha-Geschichte "Hodscha und Tamerlan im Hamam" erzählt, die in mehreren Geschichten Selçuks kurz erwähnt wird. [7]

Ney und Nakkare [8]

Diese Geschichte ist eine Art Fortsetzung von "Die Wissenden und die Nichtwissenden" da die Jünger Hodschas mit seinen Antworten unzufrieden sind.
Sie treffen sich noch einmal mit Hodscha und dieser freut sich, da seine Antworten mit Absicht unvollständig waren. In dieser Geschichte bringt er seinen Jüngern nahe, dass die Sinne selbst ganz schön lügen können. Er beweist es ihnen durch ein kunstvolles mystisches Experiment. Das Fazit: "Man soll Illusion und Echtheit unterscheiden können" und warum Musik "gut" ist, weil sie nicht böse sein kann. Hafiz erklärt den Jüngeren, dass Musik deshalb von Derwischen immer auch zu ihrer Schulung genutzt wird.

Altes Leben - Neues Leben

In dieser komplizierten mystischen Geschichte entlarvt Hodscha zwei falsche Derwische, die ihn umzubringen versuchen, die zwar das Wissen der Derwische kennen, es aber es nicht praktizieren können, da sie nicht "gut" sind. Hier wird "Das Böse" entblößt, das trotz großes Wissens unecht bleibt und zur Niederlage verdammt ist. Eine komplizierte Geschichte, die zum Nachdenken anregt.

Baklava und Börek für den Hodscha

In dieser Geschichte geht es um den egozentrischen "Glauben" eines seldschukischen Prinzen. Er glaubt an gute Prophezeiungen über ihn, die auch zutrafen, der aber schlechte und böse Prophezeiungen nicht akzeptieren kann und an diese nicht glauben will. Daher möchte er, dass der allwissende Hodscha diese ändert. Die böse Prophezeiung wäre, dass er einmal übel blamiert würde. Da prügelt Hodscha ihn vor all seinen Schülern mit seinem üblichen dünnen Kornelkirschenast, den er wie eine Peitsche benutzt. Der Prinz bekommt die größte Blamage seines Lebens und so seine Lektion. Da er diese versteht, hält er seine Leibwache zurück, die Hodscha und seine Jünger bestrafen wollen und reitet zum Palast zurück.

Anvertrauter Derwisch

Es geht hier um einen mysteriös-fiktiven Derwischorden "Gayb-i Seyfiye", die "Holzschwertträger", die übernatürliche böse Mächte und Dschinnen bekämpfen. Sie kommen zum Hodscha, um von seinem Kloster einen jungen Derwisch zu rekrutieren. Hodscha prüft hier die Weisheit und Einsicht seiner Schüler und wählt mit den Gastderwischen einen Jungen aus. Er läßt für ihn ein weißes Pferd satteln und gibt dem jungen Geisteskrieger mit auf den Weg:
"Komm nicht zurück, bevor du dich besiegt hast, mein Junge, sonst bekommst du eine Tracht Prügel von mir!"

Statt eines Nachwortes

Hier wird auf eine witzige Art der Tod des Hodschas erzählt. Es ist besonders witzig gefasst, weil der Tod nur wegen der Trennung von geliebten Personen traurig ist, aber nicht für den Hodscha, weil er mit all seinen Geschichten ja selbst nicht sterben kann. Dieser Teil basiert auf historischen Befunden und der Fiktion von Selçuk selbst. Die Jünger können nicht mehr entscheiden, ob er nun tot oder gar unsterblich geworden ist. Hier spielt Hafiz auch wieder eine Rolle mit seinem "buchgläubigen mystischen" Rationalismus.




1 Die Geschichte: Eines Tages kommen zwei Leute zum Hodscha, von denen der eine gegen den anderen eine Beschwerde führt. Vom Hodscha wollen sie nun wissen, wer im Recht ist. Der Hodscha hört den einen an und sagt: "Du hast recht." Dann hört er den anderen an und sagt "Du hast auch recht." "Es kann doch nicht sein, Hodscha, dass beide recht haben", widerspricht seine Frau. "Du hast auch recht, Frau", erwidert der Hodscha.
2 Bei Selçuks Geschichen zu finden.
3 Hafiz wird in den Geschichten immer als jemand dargestellt, der zwar theoretisch viel über Mystik weiss und dies auch den Schülern erzählt, der aber dann doch ein durch und durch rationaler Mensch ist. Und wenn das Erzählte dann wahr wird – d.h. wenn Hodscha oder seine Jünger mystische Wunder vollbringen – dann kann er nur schwer glauben, was er da sieht.
4 Der Samurai Yagyū Munenori war Schwertkampflehrer der Shogune Tokugawa leyasu und Tokugawa lemitsu. Er war beeinflusst von Konfuzianismus, Daoismus und Zen-Buddhismus. Er hinterliess die Schrift 兵法家伝書die er 1632 geschrieben hat, und in die er die Weisheiten seines Meisters Takuan Sōhō einfliessen liess.
5 Die Geschichte. Eines Tages fing Hodscha einen Storch und brachte ihn nach Hause. Weil ihm der Schanbel und die Füsse zu lang vorkamen, beschnitt er sie. Dann setzte er den Storch auf ein Podest und sagte: "So, jetzt siehst du wenigstens wie ein Vogel aus."
Diese vierte Frage kommt in keinem der Hodscha-Witze vor. Selçuk hat sie in einer indischen Version aufgespürt und hier nacherzählt.
7 Die Geschichte: Tamerlan rief Hodscha zu sich. Als er an seinem Palast ankam war der mongolischer Herrscher im Hamam. Nach einer kurzen Unterhaltung fragte Tamerlan den Gelehrten.
"Du kannst alles besser schätzen, was glaubst du wieviel ich wert bin Hodscha?" Hodscha guckte aif seine Hamamschürze und sagte, "ein Dinar." "Was? So billig?" "Ich meinte nur deine Schürze, nicht dich. Du selbst bist nichts wert."
8 Uralte Derwischflöte und altes Schlaginstrument.