LaserTag - "Da schiessen die doch aufeinander, oder?"

Wenn ein Studiensemester zu Ende geht, dann kommt die Frage nach dem gemeinsamen Abschluss. "Gehen wir LaserTag spielen," betteln einige. "Ihr spinnt," sagen die anderen, "das ist doch das Spiel, da schiessen die aufeinander. Eeeeh ist doch Gewaltspielen, oder!" Nach kontroverser Diskussion dann das Fazit: Wir machen dazu ein Projekt. Gehen dann aber doch erstmal zusammen spielen.

Es gibt ein Einführungsvideo. Die Spielwesten werden angelegt. Die Fazer in die Hände und ab gehts in die Arena. Ich begebe mich auf meinen Beobachtungsposten, blicke durch eine Glasscheibe auf das Geschehen und traue meinen Augen nicht. Innerhalb von Sekunden verwandelt sich diese zurückhaltende Studierendengruppe – wenn es um gelesenen Texte geht – in eine Schar herumrasender, quietschender und lachender Jugendlicher, die sich gegenseitig im Halbdunkel zu fangen versucht. Dieses 'Fangen' geschieht durch das Markieren mit dem Fazer in ihren Händen. Durch einen Infrarotstrahl wird markiert, ob der oder die Andere erreicht wurde. Hat es funktioniert, dann gibt es Punkte für den Einzelnen und für die Mannschaft. Das Ergebnis wird zeitgleich an den Punktecomputer im Foyer weitergegeben. Die Mannschaft mit den meisten Punkte hat gewonnen. Und das ist wohl auch der Grund, warum im Spiel mit so viel lautstarkem Eifer herumgerannt wird.
"Boah eeyh, das war echt geil". Verschwitzt und abgekämpft umringt mich die Gruppe nach dem Spiel. "Ich hätte nie gedacht, dass das so anstrengend ist." "Macht Spaß" "Echt geil." "Gleich nochmal, ok?" "Nee, bin total kaputt!" Die Stimmung ist ausgelassen, Getränke löschen den Durst, während darüber nachgedacht wird, was dieses LaserTag eigentlich bedeutet.
"Spielen, Rumrennen." "Naja, wenn wir in Mannschaften gegeneinander antreten, dann ist das eher Wettkampf." "Gewaltspiel?" frage ich in die Runde. "Nee, eigentlich wirklich nicht." "Es wird doch immer wieder so bezeichnet, und wie verknüpfen wir das mit unseren eigenen Erfahrungen?" 
"Erstmal ne Medienanalyse, um zu sehen, warum das so gesehen wird." "Befragung von Spielenden, wie die das sehen." "Mal gucken, wo das Spiel herkommt, wofür wurde es entwickelt und ob das mit der Gewalt da herkommt." Wir verteilen die Arbeiten in den Gruppen und das Projekt beginnt unter dem Themendach "Gewaltspiel - ja oder nein":
o   Entwicklung von LaserTag in Deutschland (folgt)
o   Befragung von Spielenden (folgt)
o   Medienanalyse (folgt).
Doch dann die Frage: "Wir gehn jetzt aber noch nicht, wir spielen doch nochmal, oder?"


Eine weitere Gruppe entschliesst sich, das Thema unter einem anderen Aspekt aufzugreifen: Ein Bildungsprojekt mit Migrantenvätern. Auch hier gibt es wieder grosse Zustimmung zum Spiel. "Das kann man Generationen übergreifend spielen. Väter treten mit den Kindern an. Es gibt so viele verschiedene Spielmodi, da kann man gut was finden, das passt." "Und ab welchem Alter würdet ihr sie mitnehmen?" frage ich. "Naja, elf, zwölf sollte er schon sein", bekomme ich zur Antwort. "Er?" "Ja, wieso?" "Ich weiss, was Sie meinen" lacht ein Studierender. "Er hat aber keine Tochter. Meine würde ich mitnehmen. Klar doch, wir machen immer alles zusammen." "Man kann auch die älteren Mädchen spielen lassen. Die zieren sich doch immer so vor den Jungs, finden sich nicht schön genug und sind dann so verkrampft. Hier im Halbdunkel, mit den schwarzen Klamotten, da ist es doch völlig egal, wer man ist und wie man aussieht."
Auch die Betreiber von LaserTag sind offen und überlegen, welche weiteren Spielkonzepte für diese Zielgruppe entworfen werden könnten. Darüber sollten wir nachdenken, ab welchem Alter diese Spiele für Kinder und Jugendliche geeignet sind. Und schon hat die Gruppe eine neue Aufgabe:
o   LaserTag - für jedes Alter? (folgt)
o   Eltern-Kind-Spiele bei LaserTag? (folgt)


Am Fachbereich spricht sich herum, dass wir spielen gehen. "Können wir nicht auch mal mitgehen" fragt der Musikkurs? "Nur wenn wir eine Projektidee entwickeln," gebe ich zur Antwort. Schon sind wir bei LaserTag. "Und? Schon eine Idee," frage ich die abgekämpfte Gruppe, die sich mit hochroten Köpfen und völlig erschöpft wieder im Foyeur sammelt. "Nee", bekomme ich zur Antwort, "das ist doch gut hier, die haben doch, was sie brauchen." Ich bohre weiter "Transferdenken meine Lieben, hier ist die Arena, da ist das Spiel, das LASER-Spiel und ihr habt das Thema Musik. Also denkt nach." Stille. Plötzlich holt M. sein Smartphone heraus. "Ich habs, wartet mal. Guckt mal hier! Laser. Guckt mal hier, was das ist." Er zeigt auf sein Display. "Hier, das ist eine Laser-Harfe. Wir machen Laser-Musik!" "Eeeh, wie geht das denn?" alle drängeln sich um das Smartphone, doch keiner sieht was. Die Betreiber schaffen die Verbindung zu einem großen Bildschirm und da ist sie zu sehen, die Laserharfe. "Wir bauen eine Laserharfe?" "Warum nicht", ist die Antwort meiner Musik-Kollegin, "Eine solche macht doch Musik, oder?" Doch das Projekt erweist sich als unrealistisch. Es ist wegen der Laserstrahlen zu gefährlich, und es muss immer jemand zur Beobachtung abgestellt werden. Was nun? Wieder haben die Betreiber eine Idee. Sie führen uns durch die Anlage. "Hier, hier ist ein Raum ungenutzt. Hier könnt ihr Musik machen." "Ja, wie jetzt?" "Ja, wir entwickeln mit Euch hier ein Jugendzentrum Laser 2.0. Denkt mal drüber nach. Den Raum kriegt ihr." 

Ein Semester hat es gedauert, bis die zündende Idee kam:

Die Konzeptidee
Das Raumkonzept





















Wir  entwickeln eine Musikmaschine, eine mit "Musik für alle", egal ob jemand ein Instrument spielt oder auch nicht. Ein Raum, eine Musikmaschine, die Musik zum Spiel, als Wettbewerb, welche Musik passt zu welchem Spielkonzept von LaserTag. Es werden iPads gekauft, GarageBand geladen, und schon geht das Experimentieren los:

Die Planung



Die Verknüpfung offener Jugendarbeit, privaten Betreibern von Spiel- und Sport-Arenen und Hochschule - ein möglicher Ausweg aus der Krise der Offenen Jugendarbeit? Neues entsteht in der Zusammenarbeit von Know-How, von Ideen und durch das Realisieren von Möglichkeitsräumen? Das ist nicht mehr einfach so von der Hand zu weisen, angesichts knapper öffentlicher Kassen und der Verödung von Jugendhäuser in den Stadtteilen und auf dem Land.


Bisher sind lediglich die Bauämter und zum Teil die Jugendämter an den Genehmigungsverfahren solcher neuen Spiel- und Sportstätten beteiligt. Daher rührt u.E. auch der eingeschränkte kritische Blick in den öffentlichen Kommentaren zu dieser Entwicklung. Sozialpädagogische Kenntnisse und erlebnispädagogische Erfahrungen werden bei den Bewertungen bisher noch nicht hinzugezogen.

Dabei ist diese Entwicklung bereits in vollem Lauf, die ersten Zentren Jugend 2.0 sind dabei zu entstehen. Sie müssten bloss einmal wahrgenommen und mehr unterstützt werden. Es ist völlig falsch und unzureichend, Neues immer nur aus der Perspektive potentieller Gefahren in den Blick zu nehmen.


Jugend im Netz – "Boah-eeeh! Der schneidet dem echt jetzt den Kopf ab!"

LaserZone Spiel- und Sportstätte in Essen
Einmal im Jahr stehen Studierende vor mir und stressen, sie hätten keinen Praktikumsplatz gefunden. Zu ihrem erfolgreichen Studienabschluss gehört aber der reflexive Austausch mit der Praxis. Den müssen sie nachweisen. Also müssen sie sich weiter auf die Suche begeben, bis sie irgendwann fündig werden.
Da ist z.B. A., der sich für die Jugendarbeit interessiert. Bei etlichen Jugendhäusern hat er bereits angefragt. Und immer wieder hörte er: "ja, eigentlich sehr gerne. Aber wir haben keinen Bedarf für Dich im Moment. Ganz ehrlich, es ist hier zwar alles sehr schön, aber die Jugendlichen kommen einfach nicht mehr, Du hättest hier fast immer nur leere Räume und würdest Dich nur langweilen." Und so geht die Suche nach den verlorenen Jugendlichen für A. weiter.

Vor einem Jugendhaus in Bad Vilbel

Ich begebe mich selbst auch auf die Suche. Sie sind zum Teil wirklich beeindruckend, diese Jugend-Einrichtungen. Und die Jugendlichen die sich dort aufhalten, die können auch etwas. Hier zum Beispiel haben sie einen LKW fantasievoll bemalt. "Was macht ihr alles damit?" frage ich die Sozialarbeiter im Zentrum. "Naja, wir sind da mal mit rumgefahren", bekomme ich zu hören, "und heute stehen da unsere Fahrräder drin." Es ist nicht das einzige Beispiel, das mir begegnet, wo sich gute Ideen im wahrsten Sinne des Wortes leergelaufen haben, da die Jugendlichen wegbleiben.


Jugendraum mit Kicker und Billard
Esslingen
Und da hilft auch kein Kicker und kein Billard und auch keine Toleranz gegen über extremistischen Ideologien und kein Wegschauen gegenüber weichen Drogen und Alkohol. Kistenweise schleppen Jugendliche das Bier in einem Nordhessischen Dorf in ihr autonomes Jugendzentrum, wenn sie die jährliche traditionelle Zeltkirmes planen. Mehr gibt es dort nicht. Und das Trinken, das gehört nun halt mal dazu, sagen die Älteren. Hier ist doch ansonsten nix mehr los, auf dem Land.
Jugendarbeit heute. Wo gibt es die noch? Ist sie überholt? Oder hat sie versagt? Läuft sie an den Interessen der Jugendlichen vorbei? Nicht überall. Noch immer gibt es Engagierte, die Jugendliche mit spannenden Projekten an sich binden können. Aber es sind wenige. Und so forderte der Kriminologe C. Pfeiffer bereits vor einem Jahrzehnt die Abschaffung der herkömmlichen Offenen Kinder- und Jugendarbeit, da diese aufgrund ihrer Überpädagogisierung überwiegend wie Erziehungscamps, Jugendheime oder Hauptschulen agiere und „in verschiedener Hinsicht sehr belastete Jugendliche zusammenballen“ würde, so dass benachteiligte Jugendliche weiterhin nur unter sich bleiben würden. Eine lebendige Mischung sei für ihn in diesen Häusern kaum noch gegeben. [1] Obwohl wir Pädagogen und Erzieher gegen diese Einschätzung Sturm liefen, sind seine Argumente damals wie heute nicht ganz von der Hand zu weisen, denn ein Stadtteilzentrum ist ein Stadtteilzentrum und ein Jugendzentrum auf dem Land ist eben auch dort verankert.

Wo aber finden wir die Jugendlichen heute in ihrer freien Zeit, wenn sie nicht durch Schulanwesenheitszeiten reglementiert oder durch zu erledigenden Schulkram blockiert sind? Haben sich ihre Interessen etwa gewandelt? Der Medienpädagogische Forschungsverbund Südwest (mpfs) führt in jährlichem Turnus hierzu eine repräsentative Studie durch und hofft, dass diese Daten "zur Erarbeitung von Strategien und Ansatzpunkten für neue Konzepte" in den Bereichen Bildung und Kultur dienen. Doch diese Studien sind offenbar nur den wenigsten Fachkräften in der Jugendarbeit bekannt. Dabei geben sie Hinweise, was Jugendliche gerne machen und wohin der Blick in der Jugendarbeit vielleicht einmal verstärkt gerichtet werden sollte.














Wie schon seit Jahren gewinnen im Vergleich zur Kindheit in dieser Altersphase der autonome Umgang mit Freunden und Peergroups an Wichtigkeit. Auch der Sport spielt eine nicht zu unterschätzende Rolle. Das alles hat sich kaum verändert. Aber eines ist anders geworden: Das Bild vom einsamen, unbeweglichen Jugendlichen, der vor seinem PC-Bildschirm im abgedunkelten Zimmer weltweit vernetzt in Action- und Gewaltspiele versunken ist. Dieses Bild scheint der Realität nicht mehr zu entsprechen. Die Jugendlichen haben sich heute eindeutig anderen Bereichen zugewandt.



Die Beschäftigung mit Computer- und Spielkonsolen oder Onlinespielen ist dem flexiblen Surfen durch das transportable Handy gewichen. Die Jugendlichen sind heute überall auf der Welt zu Hause. Sie vernetzen sich mit dem Rest der Welt und blicken von ihren Geräten kaum noch auf und in das Alltägliche vor ihnen hinein.
Da ist zum Beispiel das Pokémon-Go-Fieber, das gegenwärtig um sich greift. Ausgelöst durch ein virtuelles Spiel, das dazu animiert, das Virtuelle in der realen Welt zu suchen und mit ihr zu verknüpfen.


Einzeln oder auch in Gruppen laufen Jugendliche - und nicht nur die - mit dem Blick auf das Handy durch die Welt, egal ob andere Personen oder gar Fahrzeuge ihnen in den Weg kommen. Sie nehmen Unfälle in Kauf, laufen Strassenschilder um, und das nur, um bei diesem Online-Erlebnis voranzukommen und etwas zu gewinnen. Das perverseste Beispiel kommt aus Bosnien, wo Jugendliche durch vermintes Gelände stapfen, um diesen besonderen Hype des Spiels zu erleben: Ein Spiel bis in den möglichen Tod.


Kaum jemand weiss heute genau, was Jugendliche mit ihren Handys gerade so tun, was sie dort suchen und/oder finden. Eine Kontrolle findet nicht statt, weder zeitlich, noch inhaltlich und ist auch gar nicht mehr möglich. Die Jugendlichen sind zwar präsent und sichtbar, entwischen aber gleichzeitig in eine andere, in ihre virtuelle Welt. Manchmal lassen sie die Aussenwelt am Geschehen in ihren Geräten auch teilhaben.
"Boah-eeeh! Der schneidet dem echt jetzt den Kopf ab!" Es sei dem Aufschrei nicht zu entnehmen gewesen, ob es sich um Entsetzen oder um Bewunderung gehandelt habe, berichtet die Betreuerin einer Hausausgabenhilfe in einem unserer Seminare. Und sie ist nicht die Einzige, der sich wie durch Schlaglicht erhellt, was die Jugendliche denn da so treiben, wenn sie ihnen erlaubt, nach erledigten Hausaufgaben das Handy wieder aus der Tasche zu holen. Sie surfen mit den Keyboard-Jihadisten, den Fanboys und immer öfter auch Fangirls, die mithelfen, die brutalen Foltervideos der Terroristen des selbsternannten Islamischen Staates (IS) in der ganzen Welt zu verbreiten.
Das sei "doch nur Sensationslust, Nervenkitzel, action virtuell und ein Dazugehörenwollen, eine Mode, die vergeht", beruhigen die Einen. "Das gehört heute doch dazu, diese Faszination und Identifikation mit den Salafis, als Auflehnung und Hilfe zur totalen Ablehnung dessen, wie sie sein sollen" wissen die Anderen. Diese Videos – so beruhigt man – würden doch nur von Gerät zu Gerät weiterverschickt. Das wäre doch nichts Neues. Ich bin erstaunt. Ist das eine professionelle Reaktion von ausgebildeten Fachkräften zu einer Form der Auseinandersetzung von Jugendlichen mit Gewalt gegen Menschen bis hin zur Tötung?

Andere wiederum übernehmen mehr Verantwortung und machen sich auf den Weg, diese Jugendlichen, die ihnen doch face-to-face gegenübersitzen, im Netz zu suchen. Und sie finden die Videos, das Propagandamaterial und auch die Rap-Songs, die bei den Jugendlichen gerade in sind, wie z.B. von SadiQ. Hier ein Auszug aus einem seiner Songs:

"Illegal im Benz, in FFM
Komm mit der AK-Al-Qaida Slang
Schieße für Gaza, Guantanamo, Mali ich baller mit Arabern, Pariser renn'
Für Palestine Sham, leb im Ghetto
Der Khorasani wir lieben den Tod
Stürme wie Pogba, Ribery, Benzema,
doch spuck auf den Hand der Équipe tricolore
Schieße, schieße, schieße
Schieße die Kugel ne 9mm 
..." [2]

Ja, das hören sie, die Kopfhörer auf den Ohren und das rappen sie nach, bei ihren Treffs irgendwo in den Ecken und Strassen der Stadt. Doch diese Plätze sind immer schwerer aufzufinden, und auch kaum erkennbar, wenn eine Gruppe sich im Rap-Rhythmus wiegt, mit geschlossenen Augen vor sich hinmurmelnd. Dazu braucht es heute kein Jugendhaus, es reicht eine Bank, ein Handy, Kopfhörer und eine Flatrate. Aber Streetwork kann sich ebenso auch auf die virtuellen Strassen begeben. Denn hier sind die Jugendlichen wieder zu finden, als Einzelne und oder in Gruppen. In ihren Chats, auf ihren Fan-Seiten und manchmal bereits mit ihren Hilfeschreien bei einer der zahlreichen virtuellen Beratungsstellen der Sozialen Verbänden. Vielleicht ist das ein Weg, zu den Jugendlichen zu finden, die zwar körperlich anwesend sind, aber mit ihren Sinnen in einer ganz anderen Welt.

Gehen wir hinein in diese Welt und fragen  die Jugendlichen dort einmal selbst, was mit ihnen los ist. Hören wir auf mit den Workshops zur politischen Bildung, den Mediationskursen gegen Aggression. Sehen und hören wir ihnen doch erst einmal zu, was sie bewegt. Das Netz ist voll von ihren Geschichten, vom Mobbing, von Gewalt, allerorts auf vielfältige Weise erlebt, zu Hause, auf der Strasse, in den Institutionen. Es ist all das "gegen das Du dich nicht wehren darfst, weil DU dann zum Täter wirst, egal was DIR vorher widerfahren ist." 

Warum glauben wir ihnen das eigentlich nicht, oder erst immer dann, wenn es zu spät ist?

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1 Pfeiffer, Christian/ Rabold, Susann / Baier, Dirk (2008): Sind Freizeitzentren eigenständige Verstärkungsfaktoren der Jugendgewalt? In: ZJJ 3/2008, S. 258-268
2 Das zugehörige Video wurde aufgrund einer Entscheidung der Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien mittlerweile aus dem Netz genommen. Zum Thema Rap-Musik als Einstieg ins islamistische Denken demnächst mehr.


Zur Gleichzeitigkeit von Stärke und Schwäche in der einen Idee – Ein Gespräch mit Selçuk Salih Caydı - Teil 2

Red Bull Anadolu Break
Pera Museum Istanbul
Wir haben von der Stärke und der Schwäche der AKP Regierung gesprochen. Ihre Stärke ist die Umsetzung der Idee "WIR sind wieder wer". Ihre Schwäche ist die mangelhafte Ausführung dieser Idee und vor allem aber deren ideologische Ausrichtung.

Genau. Die Schwäche der AKP ist, dass sie den Wunsch der Bevölkerung nach diesem "WIR sind wieder wer" einlöst, diesen aber mit dem salafistischen Islam zu füllen versucht, und dabei von einem ottomanischen Reich redet, obwohl es doch einzig und allein um die Etablierung einer Ein-Mann-Herrschaft geht.
Das ist nicht weltgewandt, d.h. so etwas können sie in der heutigen Welt auf Dauer nicht mehr durchsetzen. Das wird auch von keinem ihrer Nachbarn anerkannt, niemand wird dieser Idee nachfolgen, egal wo auch immer in der Region dass versucht wird. Dafür gibt es genügend Beispiele aus der jüngsten Vergangenheit. Aufgabe der Opposition wäre es aus meiner Sicht, diese Grundidee richtig umzusetzen. Wenn die Opposition nämlich eine ganz eigene Internationalisierungs-strategie entwickeln würde und in diese das vorhandenen breite türkische Kulturangebot einbindet, wäre damit ein Gegengewicht zur AKP geschaffen, da diese einen solchen Rahmen nicht bieten kann.

Sie kann einen solchen Rahmen nicht bieten, da sie über die kulturelle Vielfalt in der Türkei den islamistischen Mantel deckt und nur diesen nach außen zeigt?

Ja. Und genau hier liegt die Chance der Opposition, wenn sie nämlich im Rahmen einer neuen Internationalisierungsstrategie mit der kulturellen Vielfalt anders umgehen und diese mehr herausstellen würde. Wenn sie in allen internationalen politischen und kulturellen Gremien präsent wäre und dort das reale, vielfältige Bild von der Türkei präsentieren würde, als das nur islamistische der AKP Regierung, dann würde sie auch wieder an Stärke gewinnen. Und im internationalen Rahmen würde dann auch klarer aufgezeigt, dass die AKP lediglich 50 %Prozent - beziehungsweise noch weniger - der türkischen Bevölkerung vertritt.

Ich habe den Eindruck, dass dies der HDP besser gelingt, als der CHP. Deren Vorsitzender Demirtaş ist in der EU und in den USA weitaus präsenter als Kılıçaroğlu von der CHP. Gerade vor kurzem war Demirtaş in Deutschland. Aber natürlich sind auch seine öffentlichen Auftritte kein Vergleich zu den 'Wahlkampfauftritten' von Erdoğan im letzten Jahr. Aber Demirtaş tut wenigstens etwas, um die HDP im Ausland zu präsentieren. Doch das gelingt der CHP überhaupt nicht. Sie könnte schließlich ein gutes laizistisches Gegengewicht zur AKP Partei bilden. Sie ist assoziiertes Mitglied der Sozialistischen Partei Europas und Vollmitglied der Sozialistischen Internationale. Warum vertritt sie nicht lautstark ihre Position und holt sich für ihr Land dort mehr Unterstützung?

Stimmt. Bislang hat die CHP darauf viel zu wenig Wert gelegt. Aber sie hat damit begonnen. Delegationen wurden nach Syrien geschickt, um mit Assad zu sprechen, Abgeordnete reisten nach Russland… Aber Du hast Recht, im Grunde ist das viel zu wenig für eine Partei, die die Republik gegründet hat und die wieder an die Macht kommen will. Dabei gäbe es so gute Möglichkeiten, wenn sie z.B. in diesem Zusammenhang auch ihre eigenen Geschäftsleute und ihr eigenes ausländisches Kapital animierten, so dass durch sie die eigenen säkularen Kulturen mehr unterstützt werden könnten und überall in der Welt sichtbarer würden. So könnten die Leute in der Türkei aus den Medien erfahren, wie präsent ihre kulturelle Vielfalt im Ausland ist. Das wäre dann eine ganz  andere Art, zu zeigen "Seht her, dass sind wir auch." Und hieraus entstände dann wieder eine selbstbewusste Gegenkultur zu dem inhaltsleeren islamistischen 'WIR sind wieder wer' der AKP.

Es stimmt, diese Vielfalt der 'säkularen Kultur' ist im europäischen Kontext nicht lebendig. Lediglich ausgewanderte oder im Ausland geborene Künstler – wie beispielsweise Fatih Akın – versuchen gegenzusteuern und zeichnen ein anderes Bild, das Bild der modernen Türkei, auch mit all ihren Widersprüchen.

Fatih Akın – und das muss man auch immer wieder betonen – ist ein ganz wichtiges Beispiel dafür, was aus jemandem mit türkischem Hintergrund werden kann, wenn ihm das freie Denken nicht verboten wird!

Ja, aber dann stößt sein Film über die Armenier in der Türkei genau auf diese Ablehnung und diesen Widerstand, beziehungsweise er wird erst gar nicht öffentlich gezeigt.

Ja, aber das ist ihm egal, denn er lebt in Deutschland. Und er hat seine Öffentlichkeit außerhalb der Türkei. Aber genau das meine ich: Die Präsenz 'unserer' Künstler in der ganzen Welt, das ist es, was für uns in der Türkei so wichtig wäre.

Gibt es in der Türkei eigentlich vergleichbare Beispiele mit einem solchen Erfolg wie Fatih Akın?

Aus dem Pera Museum - Istanbul

Nein. Und das hat einen ganz einfachen Grund, weil hier alles verboten ist. Hier musst du auf so viele Sachen achten. Du musst deinen Ausdruck und deine Sprache total kontrollieren. Du musst genau wissen, was erlaubt und was verboten ist ... Es gibt tausend Hürden. Wir lesen ja täglich, was passiert, wenn man sich nicht genau daran hält, in der Kunst, in der Wissenschaft oder in den Medien. Wenn man der Kunst und der Wissenschaft aber keinen freien Raum gibt, dann bleibt sie oberflächlich und ist für den internationalen Austausch uninteressant, da sie die weltweiten Standards verfehlt.


Wenn dieser Freiraum nicht gegeben ist, dann sollte sich die Opposition ihn wieder erobern, gegebenenfalls mithilfe von Partner-Organisationen und -Gruppierungen im Ausland? Ist das der Weg, den Du siehst?

Ja, wenn die türkische Bevölkerung wieder merkt, dass sie geachtet und akzeptiert wird, dass ihre kulturellen und wissenschaftlichen Vertreter wichtig sind, dass sie wieder in internationalen Gremien und Jurys einen Platz erhalten, dass sie von Franzosen, Afrikanern, Amerikanern, Chinesen und Japanern akzeptiert und wieder mehr eingeladen werden, dass sie Preise gewinnen, ihre Vorstellungen von Politik, Kunst und Kultur und sozialem Leben öffentlich diskutieren ... dann wird plötzlich die ganze Breite sozialer, politischer und kultureller Vielfalt sichtbar, wie sie im Lande ja real vorhanden ist. Und so kann man Zug um Zug das Gegenbild zu diesen beschränkenden islamistischen Vorstellungen aufzeigen.
Dann wird das auch im Inland gesehen, zumal es sich hier nicht um etwas von außen Aufgesetztes handelt, sondern im Gegenteil das Eigene und Besondere in diesem Lande wieder mehr hervorgehoben wird.

Ich könnte mir das gut als Gegenbewegung zu dem vorstellen, was gegenwärtig aus der Türkei zu uns so hinüberschwappt. Erdoğan und seine ihm ‘noch‘ Vertrauten versuchen ja die im Land bestehende Polarisierung auch in die europäischen Länder hineinzutragen und die im Ausland lebende türkische und türkisch-stämmige Bevölkerung damit ebenfalls zu spalten. Durch diese Spaltungsversuche werden die rechtsnationalistische Gruppierungen im Inland und im Ausland gestärkt. Diese Versuche stossen bei der Mehrheitsbevölkerung auf harsche Ablehnung und führen zum weiteren Erstarken der sowieso latent vorhandenen Islamophobie in den europäischen Ländern. Eine Gegenbewegung zum dem Unfrieden stiftenden Teil aus der Türkei also.

Das wäre ein Versuch wert, denn diese nationalistische konservative islamistische Schiene der AKP hat in Europa – das sieht man ja jetzt bereits –absolut keine Erfolgschance. Sie ist rückständig und wirkt auf die Europäer nicht gerade attraktiv. Sie führt zur weiterer Ghettoisierung und Ausgrenzung und letztlich – wie wir gesehen haben –  zur Radikalisierung eines Teils in der Bevölkerung, wie diejenigen, die aus den europäischen Ländern aufbrechen, um in den Heiligen Krieg gegen den Westen zu ziehen.
Ich denke, es geht vielmehr darum, ein in die Welt gewandtes, integriertes neues Türkentum entstehen zu lassen. Atatürk hat das einmal auf seine Weise angefangen. Seine Art, wie er es durchsetzen wollte, die ist gescheitert. Das muss man heute akzeptieren und muss jetzt etwas Neues daraus machen. Es gilt einiges neu zu ordnen, und zwar auf der Grundlage einer neuen Qualität, die nicht zerstörerisch und spaltend wirkt, sondern die integrierend, offen und zeitgemäß ist. Ich glaube hier müssen wir in der Türkei noch viel lernen, zu fest verankert ist das spaltende polarisierende Denken im Land.

Ziel der Opposition sollte daher weiterhin der Beitritt der Türkei zur EU sein. Doch hierzu muss sie selbst erst einmal die demokratische Basis für eine säkulare Türkei schaffen bzw. wiederherstellen. Das versäumt sie aber bisher. Innenpolitisch blickt sie lediglich auf die Aktivitäten der AKP und versucht, den allergrößten Schaden für das Land noch zu verhindern. Zu mehr ist sie im Moment nicht in der Lage.

Und genau dabei müsste sie eine breite Unterstützung aus den europäischen Ländern erhalten, damit sie sich auch auf andere Aufgaben konzentrieren kann. Die Unterstützung sehe ich bislang kaum.

Das ist ja zum Teil auch verständlich. Die offizielle Politik in der Türkei wird gegenwärtig halt von der AKP gemacht. Und mit der AKP-Türkei muss man dann verhandeln. In Europa darf man nur nicht in den Fehler verfallen und so tun, als stehe man hinter dieser islamistischen AKP-Politik. Hier deutet sich in der EU nur sehr langsam ein Umdenken an. Man konnte ja auch lange Jahre davon ausgehen, dass man es mit einer laizistisch denkenden Regierung zu tun hat. Das hat sich durch die jüngsten Ereignisse geändert und muss in den politischen Gremien und Parteien der EU erst einmal verstanden und verarbeitet werden. Das heißt, im europäischen Raum müssen die eigenen roten Linien in Bezug auf die Türkei neu gefunden und klar definiert werden. Es muss klar Position bezogen werden, worin man übereinstimmt und wozu es keinen Kompromiss geben kann

Du bringst Deine ablehnende Haltung zur islamistischen Umwandlung in der Türkei sehr klar zum Ausdruck. Das ist verständlich, denn die Auswirkungen dieser Veränderungen sind ja täglich spürbar.
Deutschland ist in Bezug auf den Islam jedoch in einer etwas anderen Situation. Zum einen sind einem Großteil der Bevölkerung Ausrichtung und Unterschiede im Islam und Abgrenzungen zu radikal islamistischen Gruppen unbekannt. Und sie kennen die Hintergründe der aktuellen islamistischen Entwicklungen nicht. 
Zum anderen verstärkt sich durch die Ankunft von Flüchtlingen aus den Kriegsgebieten die Ablehnung gegenüber einreisenden Muslimen und führt zu einer Verstärkung islamophober Einstellungen. Wir haben es also auch in Deutschland mit einer Spaltung in der Gesellschaft zu tun. Viele im Lande lebenden Muslime fühlen sich von der Bevölkerung diskriminiert und sind gekränkt. So entsteht auch bei uns die Gefahr des verstärkten Zulaufs zu extremistischen islamistischen Gruppen.
Insofern ist der Idee einer breiten Kooperation antiislamistischer säkularer Strömungen im In- und im Ausland zuzustimmen. Dazu bedarf es aber in beiden Ländern noch eine umfassendere Auseinandersetzung mit der komplexen und emotionsgeladenen Problematik, bevor gemeinsame Strategien entworfen werden können.
















      links: Katalog Duvarları Dili: Graffiti / SokakSanatı
rechts: Fotosammlung Rumelihisarı İskelesi
Pera Museum - Istanbul





Zur Gleichzeitigkeit von Stärke und Schwäche in der einen Idee – Ein Gespräch mit Selçuk Salih Caydı - Teil 1




Zur Gleichzeitigkeit von Stärke und Schwäche in der einen Idee – Ein Gespräch mit Selçuk Salih Caydı - Teil 1

Ich habe in den letzten Monaten aus Deutschland auf die Türkei geblickt. Nun bin ich wieder hier in der Türkei und habe im Moment Schwierigkeiten, diese beiden Blickrichtungen miteinander zu verknüpfen. Darüber sollten wir reden.

Genau darüber mache ich mir auch Gedanken, nämlich wie es dazu gekommen ist, dass diese Regierung beziehungsweise deren islamische Ausrichtung auf der einen Seite an Stärke zugenommen hat und von so vielen Menschen im Land getragen wird. Und andererseits hat sich diese AKP-Regierung in ihren Auslandsbeziehungen so sehr isoliert, dass sie international fast untragbar geworden ist.

Für mich stellt sich die Frage, warum dieses Auseinanderdriften in der Türkei erst sehr spät erkannt und auch nur wenig diskutiert wurde.

Ich denke, diese politische Ausrichtung der AKP, wie wir sie heute sehen, war von Anbeginn klar. Sie wurde jedoch kaschiert, da die Regierung anfänglich von vielen Intellektuellen aus der alten Linken unterstützt wurde, aber auch von der Neuen Rechten Zulauf hatte. Die Veränderungswünsche waren zur Zeit der Regierungsübernahme durch die AKP im Jahr 2002 sehr stark und wurden auf diese Partei projiziert. Man glaubte, mit ihr die damals vorhandenen Demokratisierungswünsche Zug um Zug umsetzen zu können, wenn man sich dafür nur engagiere.

Diese beiden Gruppierungen, die Du genannt hast, und die ihre Hoffnungen auf die AKP gerichtet haben, verbindest Du damit konkrete Parteien und Gruppierungen? Oder sind eher ideologische Ausrichtungen gemeint?

Das waren konkrete Personen, einzelne Intellektuelle, die sich damals dort engagiert haben. Altlinke zum Beispiel, die sich nach dem Ende der Sowjetunion von der linken  Idee abgewandt hatten. Oder Liberale, die die Idee der Demokratisierung übernommen hatten und diese umsetzen wollten. Als Intellektuelle kannten sie das westliche Vokabular, waren wortgewandt, schrieben in den Zeitungen, traten als Redner auf oder waren in den Stiftungen der AKP zu finden. Im Grunde genommen hat sich der Islamismus damals hinter diesen Intellektuellen versteckt.

Man hatte also die Idee, mit und in der AKP die damaligen Verkrustungen in der Türkei überwinden zu können. Aber was ist Deiner Meinung nach passiert, dass diese erst schleichende und nun immer offensichtlicher werdende gegenteilige Entwicklung überhaupt eintreten konnte?

Hierzu muss man die Idee der Islamisierung seitens der AKP und deren Vorstellung des Islamismus verstehen. Außerdem begannen sie ihr wahres Gesicht ja auch erst  zu zeigen, nachdem sich in der Türkei einiges doch auch sehr positiv entwickelt hatte, so dass Erdoğan, die AKP und deren Verbündete sich auf ihrem Weg sehr sicher fühlten konnten. Erst dann kam das Gesicht des Islamismus zum Vorschein, zwar ein liberal gedachter, aber im Grunde eben doch ein Islamismus, den sie schon immer vertreten haben und nun mit aller Macht durchsetzen wollen.

Interessant ist in diesem Zusammenhang doch, dass sich ein Teil der politisch Engagierten unterschiedlicher Ausrichtungen dieser AKP Idee verschrieben hatten und sich im Grunde nun im Islamismus wiederfinden. Wie konnte das passieren?

Naja, die rechten Gruppierungen - außer der MHP - sind Zug um Zug verschwunden und in der AKP aufgegangen. Und zwar nicht nur die nationalistisch ausgerichteten, sondern auch die mehr liberalen Rechten, wie z. B. die ehemalige Demirel Partei (DYP). Übrig blieb dann ja nur die CHP, in Abgrenzung zu der dann ein neues Konzept verkündet wurde.

Das ist genau meine Frage. Warum unterstützen nationalistisch und liberal oder säkular eingestellte Personen und Gruppierungen eine islamistisch politische Ausrichtung?

Ja, genau das beschäftigt mich auch. Ich denke, sie sind in der AKP aufgegangen, weil dort eine für sie selbst wichtige Idee vertreten wurde. Eigentlich ist es gar keine richtige Idee, sondern eher die Vorstellung von einer Idee. Es ging darum, etwas ganz Eigenes (Türkisches) zu schaffen. Hierzu muss man wissen, dass die türkischen und ottomanischen Reiche in Anatolien etwas extravagante und eigenständige Gebilde waren, die nicht immer mit den Ideen und Vorstellungen des byzantinischen Reichs übereinstimmten, obwohl sie Vieles von den Byzantinern übernommen hatten.

An dieser Idee des Eigenständigen wurde seitens der AKP wieder angeknüpft, um ähnlich wie in der ottomanischen Zeit, wieder etwas ganz Originäres aufzubauen. Man wollte nicht mehr eine Kopie des Westens sein, wie Atatürk das ihrer Ansicht nach begonnen hatte. Man wollte etwas Türkisch-Osmanisches oder Türkisch-Anatolisches entwickeln. Etwas ganz Eigenes also, zu dem man sagen konnte 'Das sind WIR!'. Und dieses 'WIR' sollte in Abgrenzung zum Westen ganz klar und deutlich erscheinen.

Und man glaubte, eine solche Idee mit der AKP umsetzen zu können? Das ist erstaunlich, wenn man sich deren heutiges Erscheinungsbild betrachtet.

Man muss sich das als Prozess vorstellen. Im Verlauf der Zeit wurde versucht, nicht nur die CHP, sondern auch die anderen Parteien als Kopien des Westens abzuqualifizieren und zu diskriminieren. Man beschuldigte sie, nichts Eigenes darzustellen, sondern lediglich westliche Ideen und die westliche Art übernommen zu haben. Und im Gegenzug - und zwar anknüpfend an die ottomanische Zeit - wurde der Islamismus als das neue Andere benannt. Nicht mehr 'Wir sind alle Türken' wurde  formuliert, sondern es hieß nun 'Wir sind alle Moslems', denn in der ottomanischen Zeit gab es diese nationalistischen Trennungen nicht. Wenn überhaupt wurde zwischen Moslems und den Angehörigen anderer Religionen unterschieden.

Wann ungefähr hat dieses Denken angefangen?

Nun ja, seit der Abschaffung des Kalifat im Jahr 1924. Und diese Idee ist seither auch niemals wieder untergegangen, dass nämlich Anatolien eigentlich etwas ganz Anderes ist als der Westen, und diese ganz eigene Art vom Westen aber unterdrückt und vernichtet wurde.

Das wäre ja eine ganz grundlegende Kritik an der Politik von Atatürk?

Ja, eine Kritik an Atatürk, an westlicher Modernisierung und vor allem auch eine Kritik an der Aufklärung. Dieser Kritik wurde eine Islamische Idee entgegengesetzt, die sich dann auch erfolgreich durchsetzen konnte.

Diese Islamische Idee, was verkörpert sie? Einen sunnitischen Islam oder 'den Islam' als ein eher unspezifisches Dach, eine Art Denkkonstrukt?

Eigentlich verkörpert diese Idee nur die allgemeine Aussage, wir sind gegen den Westen. Im Grunde ist es lediglich eine Verneinung von Modernisierung, Aufklärung und eben auch von Republik. Letzteres ist sehr wichtig zu wissen, wenn wir an die heutigen Debatten um das Präsidialsystem denken.
Diese Islamische Idee hat aber noch einen anderen Hintergrund, der mit zu ihrer Stärkung beigetragen hat. Zu Beginn der AKP Regierungszeit existierte noch die Vorstellung und die Hoffnung auf einen möglichen Friedensprozess zwischen Kurden und Türken. Und - so dachte man - was die Kurden und Türken doch vereint, das ist ihre Religion, nämlich derselbe Glaube. Das hat sich im Verlauf der Zeit aber nicht als richtig erwiesen, denn wir wissen heute, die religiöse kurdische Bewegung, hat sich im Härtetest nicht am Islam ausgerichtet, sondern nach ihrer kurdischen Identität gehandelt. Seitdem die Regierung hart gegen die Kurden vorgeht, verliert die AKP in den südöstlichen kurdischen Provinzen immer mehr Wähler an die HDP.

Das Erfolgskonzept der AKP ist nur die Vermittlung einer Summe von Verneinungen der Ideen des Westens? Das hat die AKP so stark gemacht und ihr den Zulauf aus anderen Gruppierungen und von anderen Denkrichtungen gebracht. Oder steckt noch mehr dahinter?

Genau. Priorität war die Verneinung des Westens. Dazu beziehungsweise dagegen wollte man eine Alternative entwickeln. Wobei interessant ist, dass im Westen ja auch die Suche nach einer Alternative vorhanden war, etwas gegen die dunkle Seite des neoliberalen Kapitalismus zu entwickeln, worin solche Gebilde wie der IS wirtschaftlich existieren können. Aber eigentlich sind diese Ideen des 'Neuen und Anderen' bei uns erst unter dem Einfluss des Neoliberalismus so stark geworden, da unter diesem ethnische und religiöse Identitäten politisch stärker wurden und eine Identitätspolitik sehr 'in' war, gerieten sozioökonomische Probleme und Trennungen in den Hintergrund und kulturelle Unterschiede wurden wichtiger.

Warum die AKP zu Beginn von allen Seiten so stark unterstützt wurde - sogar auch von der Linken - hat mehrere Gründe. Der wichtigste aber war, dass sie als eine Art Demokratisierungsfaktor für die Türkei angesehen wurde, der in der Lage sein könnte, die versteinerte kemalistische Idee als Druck von der Türkei wieder zu entfernen, der als ein Hindernis für die Demokratisierung gesehen wurde. Man glaubte, dass die Türkei nur so zu etwas Neuem, d.h. wieder "zu sich selbst" finden könne. Diese Idee wurde damals so geschickt verkauft, dass viele glaubten, neben ihr keinen anderen guten und zu unterstützenden Ansatz zu sehen.

Aber wurde diese Idee denn auch inhaltlich gefüllt? Und wenn ja, mit welchem Inhalt?

Diese Idee eines Neo-Islamismus oder besser gesagt  eines Pan-Islamismus ist bereits in Davutoğlus Buch 'Stratejik Derinlik' nachzulesen. Aber sie ist nicht haltbar, weil sie sich auf die "Lebensraumtheorie" stützt, dass nämlich die Türkei (als Verkörperung des Ottomanischen Reichs) weiteren Lebensraum brauche. Das heißt, er greift den alten Expansionsgedanken der Ottomanen wieder auf, was mit den heutigen Zeiten überhaupt nicht mehr zu vereinbaren ist. Dieses Buch ist niemals ernsthaft rezipiert worden, lediglich seine Hauptidee, nämlich als Türkei etwas Eigenes zu schaffen. Aber der zweite Schritt, diese Idee nun mit Inhalt zu füllen, der wurde nie gegangen. Und man merkt ja auch bei der Debatte um das Präsidialsystem, dass kein wirklicher Inhalt dahinter steckt, sondern es geht um eine Systemveränderung, konzipiert für eine Alleinherrschaft beziehungsweisefür die Macht einer Person. Es ist im Grunde die Idee der Diktatur durch eine Person. Und genau deshalb macht sich jetzt auch Enttäuschung breit, insbesondere bei denjenigen, die an den 'Neubeginn' durch die AKP geglaubt und sie daher auch unterstützt haben.

Wie konnte es passieren, dass diese Leere in der Idee so lange unbemerkt blieb?

Naja, Erdoğan ist ja ein begnadeter Redner. Er überzeugt mit einer ganz einfachen Gymnasialhistorie, indem er sich auf eine angeblich ständige Expansion der Ottomanen bezieht - die es so ausschließlich aber niemals gegeben hat - die ihre Stärke aus ihren Eroberungen gewonnen hätten, und an die es nun wieder anzuknüpfen gelte. Und im Verlauf der Jahre hat sich diese Expansionsidee dann halt in den Köpfen festgesetzt.

Er hat ja dann auch sehr geschickt versucht, mit den verschiedensten Ländern neue Kooperationen aufzubauen.

Genau. Er reiste durch die Welt und versuchte gute Beziehungen aufzubauen. Mit Griechenland, Bulgarien, Armenien, Georgien, Ägypten, dem Irak, mit der EU. Mit Syrien haben sogar gemeinsame Ministerratssitzungen stattgefunden. Dabei ist er immer seiner Idee treu geblieben, die Türkei stehe in der Tradition der Osmanen und sei von daher das Kernland von diesem neuen Ganzen. Diese Sprache wurde im Verlauf der Zeit immer lauter.

Also ging es im Grunde gar nicht um einen neuen kooperativ ausgerichteten Allianz, sondern um ein hierarchisch ausgerichtetes Konstrukt?

Ja seine Grundidee basiert auf diesem hierarchischen Konstrukt. Man wollte nicht wahr haben, dass die Zeiten sich geändert haben, und dass man es heute mit unabhängigen, souveränen Staaten zu tun hat. Doch die Länder haben relativ schnell bemerkt, dass es Erdoğan gar nicht um eine gleichberechtigte kooperative Zusammenarbeit geht, haben dementsprechend reagiert und mehr oder weniger Abstand genommen. Und als dies nicht funktioniert hat, wurden wieder andere Strategien überlegt, jedoch immer auf der Grundlage dieser Expansionsidee. Denken wir an das Verhältnis zum Syrien Krieg. Oder nehmen wir als Beispiel das Verhältnis zur Muslimbruderschaft. Sie wurden im Grunde als eine Art 'Gruppe im Trojanischen Pferd' gesehen, die ihre Macht in die arabischen Länder hineintragen und dort festigen sollten, angebunden an und verknüpft mit dem 'Machtzentrum Türkei'. Aber das ist halt alles gründlich schief gegangen, weil nicht nur die Regierungen, sondern auch die Menschen in den Ländern sich anders verhalten haben, als von Erdoğan angenommen. So hat er sich zum Beispiel bei den Protesten während des arabischen Frühlings völlig verschätzt. Es hat zwar in dieser Zeit in diesen Ländern eine Revolution stattgefunden, die aber nicht unbedingt eine Islamische Revolution war.,
Es ging dort um eine Demokratisierung der eigenen Gesellschaft nach dem Vorbild westlicher Demokratien. Denn auch in der Bevölkerung hatten sich die Menschen - unter anderem durch die neuen Sozialen Medien - die Vorstellungen westlicher Demokratien zu eigen gemacht und wollten Veränderungen in diese Richtung durchsetzen. Auch im Rahmen dieser Bewegung ist Erdoğans Idee, alle um ein Zentrum Türkei zu versammeln gescheitert.

Das heißt also, eine wie auch immer auch durchgeführte Expansion, um eine Veränderung der eigenen Landkarte erreichen zu wollen, diese Strategie funktionierte nicht. Es wurde einfach nicht verstanden, dass Größe sich heutzutage nicht unbedingt aus der geographischen Größe eines Landes bestimmt, sondern eher als eine qualitative Größe zu sehen und zu gewichten ist.

Ich denke von der Außenperspektive betrachtet, wurde diese Entwicklung zwar bemerkt, aber niemals als eine ernst zu nehmende Strategie gesehen und diskutiert, sondern doch eher kopfschüttelnd belächelt. Von innen betrachtet, hatte diese Idee aber offensichtlich über einen langen Zeitraum Erfolg und hat mit zu einer Stärkung der AKP geführt.

Ja, aber diese ausschließliche Beschränkung auf eine expansive Idee macht langfristig dann doch auch die grundlegende Schwäche des politischen Denkansatzes von Erdoğan und seiner AKP aus. Sie haben im Grunde das Folgende versucht: Die Entwicklungen in der Atatürk Zeit wurden gedanklich eingeklammert, sozusagen als ein historischer Irrtum, um an den ottomanischen Ideen wieder anzuknüpfen und daraus dann das Neue für die Türkei zu entwickeln. Aber das funktioniert halt so nicht.

In vielen Analysen zur Entwicklung in der Türkei wird aber eher von einer breiten Zustimmung zu den Veränderungen und der Modernisierung des Landes durch Atatürk ausgegangen. Interessant ist, dass diese Einschätzung im Land selbst von einer breiten Masse der Bevölkerung offensichtlich so nicht geteilt wird.

Es gab und gibt in der Türkei immer noch einen Teil der Bevölkerung, die wir als die säkularen und moderneren Türken ansehen, die diese Periode achten und denen sie wichtig ist. Dabei ist aber nicht unbedingt der Kemalismus an sich gemeint,  sondern mehr die westliche Lebensart, die dieser in die Türkei gebracht hat. Aber es gibt eben auch diese andere Ader, die gegen den Westen ist und die man keinesfalls unterschätzen darf, da sie sehr breit vertreten ist.

Wichtig ist doch, dass diese andere Ader sich aus sehr vielfältigen Strängen zusammensetzt und deren Gemeinsamkeit bei allen sonstigen Verschiedenheiten die Ablehnung westlicher Sichtweisen und Werte ist. Dann wird auch verständlich, warum das Ganze zumindest für eine Zeit lang durch die ideologische Klammer des Islam zusammengehalten werden konnte. Nun ist aber deine Einschätzung, dass genau das nicht mehr funktioniert. Warum? Haben sich Teile der Befürworter von der Grundidee wieder entfernt, oder hat es andere Ursachen?
Bezogen auf die Außenpolitik war es ja keine territorial expansive Idee, sondern lediglich eine hierarchisch gedachte vereinnahmende Bindungsstrategie, die zur Isolation geführt hat. Hinzu kommt die Schwierigkeit - und das kann man ja fast schon als ein Dilemma bezeichnen - einerseits in das westliche Bündnis der NATO eingebunden zu sein, gleichzeitig aber eindeutig islamistische Position zu beziehen und dementsprechend auch islamistische Gruppierungen im Kampf gegen den Westen zu unterstützen. Was bedeutet das nun für die Gegenwart? Welche dieser Entwicklungen tragen denn nun prioritär zu Unzufriedenheit im Lande bei?

Nun ja, das bedeutet erst einmal nur, dass Erdoğan und die AKP mehr einem kritischen Blick unterzogen werden, unter Druck geraten und dadurch ihr wahres Gesicht klarer hervortritt. Das zieht nicht unmittelbar eine breite Unzufriedenheit nach sich, wie das vielleicht aus westlicher Perspektive erwartet wird.

Wie sieht das aus, dieses wahre Gesicht? Sie wollen den Islamischen Staat?

Ich denke, sie meinen in Wirklichkeit die Wiederbelebung des Reiches der Ottomanen. Und darunter verstehen sie einen Pan-Islamismus, ein Pan-Islamistisches Reich auf sunnitischer Basis. Also, die Mitgliedschaft in der EU, Liberalität und Pressefreiheit, all das, was sich entwickelt hatte, davon haben sie sich verabschiedet. Und dabei haben sie bemerkt, um das umzusetzen muss erst einmal der 'innere Feind' besiegt werden. Also haben sie begonnen, im Inland 'aufzuräumen'. Das erleben wir jetzt. Und nun erkennt man auch genauer, gegen wen sich das Ganze richtet, gegen all diejenigen, die das kritische Potential gegenüber einer Präsidialherrschaft bilden, die das Ganze durchschauen und gegen diesen Erdoğanismus sind und das auch öffentlich vertreten. Keine Kritik, keine Gegenposition und keine Verunglimpfung und Demontage ist erlaubt.

Lass uns bei dem 'inneren Feind' bleiben und der noch immer vorhandenen Stärke der AKP  nach innen, die ja eine Zustimmung zur AKP Regierungspolitik bedeutet. Wie ist das zu erklären?

Die Stärkung nach innen basiert eben auf der Grundidee des 'WIR sind wieder wer'. Wir sind nicht mehr wie der Westen. Wir kopieren ihn nicht mehr. Wir tragen nicht mehr deren westlichen Kleider, sondern wir sind jetzt endlich wieder die Türken beziehungsweise die Ottomanen. Sie benutzen das Wort Ottomane aus dem Grund, weil es in ihren Augen qualitativ und quantitativ als Synonym für eine besondere Größe steht. Und das ist genau die Stärke der Idee. Deshalb bekommen sie auch diese Unterstützung aus der Bevölkerung. Egal wie sie sich verhalten, ob sie korrupt sind, ob sie autoritär sind, ob sie repressiv sind, sie werden bejubelt. Und fragst du unter der Bevölkerung, warum sie das alles mit unterstützen, so erhältst du immer wieder zur Antwort, es ist doch egal was und wie es passiert, Hauptsache wir sind wieder wer.

Also das ist im Moment noch die Stärke nach innen, diese Idee. Noch! Aber das kann sich sehr schnell ändern. Das heißt, gegenwärtig ist es egal was passiert, ob die AKP korrupt ist oder nicht, sie bekommt diese Unterstützung. Ich erlebe das ja auf den Veranstaltungen, wie sie Erdoğan bejubeln. Und nicht umsonst generiert er sich gerne als ein 'Weltführer' (Dünya Lideri) oder Sultan Kalif der Zukunft. Und genau da liegt auch die Schwäche des Konzeptes. Die Idee ist zwar stark, aber sie hat keinen Inhalt. Inhalt ist nur Erdoğan. Ohne ihn ist sie nicht überlebensfähig.

Also wenn jemand (oder eine Partei) diese Idee von 'WIR sind wieder wer' mit Inhalt füllt, so denke ich, mit dieser Idee könnte man die Türkei regieren, dabei muss der Inhalt nicht unbedingt 'Islam' sein.

Und sie würden auch auf das Ausland wieder attraktiver wirken können mit einem inhaltlich stimmigen Konzept?

Ob man in der heutigen Zeit überhaupt noch etwas 'Eigenes' ganz neu schaffen kann, ist zu diskutieren. Es existiert ein globales Wirtschaftsystem und in diesem System kann man nicht wie auf einer einsamen Insel mit etwas völlig Neuem existieren. Die Türkei ist keine einsame Insel im Ozean.

Aber man kann doch eine Art kulturelle Selbstständigkeit bewahren und sich trotzdem in das globale System integrieren.

Ja genau. Das wäre dann die Stärke! Sie reden ja auch immer von 'unseren nationalen Werten'. Aber darunter verstehen sie nur eines, und das ist der Koran und ihre Art von Islam. Und da aber gerade diese Art von Islam, den sie vertreten, alle kulturellen Besonderheiten ablehnt, die im Lande existieren, ist der neue Inhalt dann eben diese Art freudloser und kulturfeindlicher Islam.

Und dieser soll nun Zug um Zug im Lande umgesetzt werden. Durch Umstrukturierung auf der einen Seite, wenn wir zum Beispiel das Bildungs- und Hochschulsystem betrachten und durch Repression auf der anderen Seite, durch das Ausschalten jeglicher Opposition bei gleichzeitiger Kappung der öffentlichen Informationskanäle.

Ja genau. Aber das wird auf Dauer so nicht funktionieren. Sie sind gegen Theater. Sie sind gegen Musik. Sie sind gegen Kino. Sie sind gegen den Tanz. Ihre Zensur und Autozensur durch ihre Abschreckung führt zu einer kulturellen Verwüstung. Wie kann kulturelle Besonderheit in Abgrenzung zum Westen etabliert und gestärkt werden, wenn gerade diese Vielfältigkeit im Lande durch das Überstülpen einer freudlosen  islamistischen Ideologie unterdrückt und zerstört wird? Es ist zwar dokumentiert, die Ideen, die Schriften, die Gesänge, die Kunstwerke, die zerstörerisch 'restaurierten' antiken Bauten und Paläste, unzählige Volkstänze Anatoliens und Trakiens ... Das Land ist sehr reich an kulturellem Erbe. Aber bereits heute ist schon vieles durch die islamistische Unterdrückung verschwunden, z.B. weil ihre Art von Islam strikt gegen Tanz ist, die islamischen Aleviten hingegen bei ihren religiösen Zeremonien immer noch tanzen.

Ich denke, wenn diese Grundidee 'WIR sind wieder wer' nicht unter dem Dach des Islam definiert wäre, sondern zum Beispiel unter dem Begriff 'Anatolische Kultur', das könnte wirklich eine inhaltlich stärkere Idee sein, gerade auch zur erwünschten Abgrenzung zum Westen, ohne dabei eine Feindschaft zu erzeugen. Wobei sehr deutlich zwischen friedlicher Abgrenzung und feindgesinnter Ablehnung zu unterscheiden wäre. Aber auf diese tragbare Idee kommen sie nicht. Aus verständlichen Gründen, weil sie Islamisten sind. Es herrscht nur eine dumpfe, platte Ablehnung. Alles lehnen sie ab und wischen es weg mit nur einem Satz: Das ist nicht Islam!

Aber das müsste die Bevölkerung doch bemerken? Dass all das, was ihr Eigenes ist, nichts mehr gilt. Das betrifft doch weit mehr als nur die kurdischen Traditionen. Diese Ablehnung ist ja allumfassend und anatolische Kultur insgesamt verschwindet Zug um Zug. Formiert sich denn da kein Widerstand?

Naja, vieles ist ja bereits schon verschwunden. Jede Provinz hatte ihre eigenen Tänze. An den nationalen Feierlichkeiten und an besonderen Festtagen wurde überall getanzt, gefeiert, gekocht und gemeinsam gespeist. Vor der AKP Zeit wurde davon noch Vieles im Fernsehen übertragen. Das ist nach und nach verschwunden, jetzt ist alles weg. Es gibt jetzt nur das Kopftuch der Frauen als regionale Eigenschaft, da die Frauen an der Schwarzmeerküste und im Kurdengebiet eigene Arten des Kopftuchtragens entwickelt haben. Übrig geblieben ist höchstens noch etwas Handarbeit und die örtliche Küche. Alles andere, zum Beispiel die Musik ist verschwunden. Wir haben eine sehr alte Musiktradition in Anatolien. Sie wird als 'unislamisch' verpönt und verschwand. Bis in die achtziger Jahre gab es in Anatolien noch die Troubarore (Saz Aşığı), die durch die Lande zogen und ihre eigenen Lieder sangen. Es gibt sie nicht mehr. Es existiert so etwas wie ein Völkerkultur-Mord. Und damit tötet diese Grundidee ('WIR sind wieder wer') des Andersseins gegenüber dem Westen doch ihre eigene Grundlage. Denn man könnte ja anders sein, durch eine sehr vielfältige - kulturell ganz eigene - Art. Durch die Reduktion auf das Islamische nimmt sich die AKP diese Karte gerade selbst aus der Hand.

Aber was heißt das jetzt für die Zukunft? An welchem Punkt stehen wir heute? Es existiert eine starke Partei mit einer breiten Zustimmung im Land, die den eingeschlagenen Weg weiter verfolgen will. Außerhalb des Landes hat sie sich selbst diskreditiert. Sie versucht im Inland gegenüber denjenigen, die diesen falschen Kurs bemängeln und ablehnen, durch Rigidität die eigene Macht zu bewahren. Und sie versucht, über eine neue Verfassung ihre Macht strukturell noch zu verfestigen. Wie lange kann das gut gehen, ohne dass sich ein breiter Widerstand bemerkbar macht? Es wird von einer Spaltung in der Gesellschaft gesprochen. Und dieser Riss ist heute nicht mehr ausschließlich als eine sich herausgebildete türkische-armenische oder türkisch-kurdische 'Feindschaft' zu beschreiben.

Ich denke das Land erlebt jetzt eine Art Begreifphase. Man begreift, dass die Grundidee vielleicht eine richtige war, aber nicht mit Erdoğan und dem von ihm favorisierten Islam. Man sieht auch, dass die säkulare Opposition weiterhin auf eine Angleichung an die westlichen Demokratien besteht. Wir haben auf der einen Seite die Bewegung hin zum Islam ohne eigenen Inhalt. Und wir haben auf der anderen Seite das Festhalten an verfestigten säkularen demokratischen Vorstellungen in Anlehnung an die westliche Welt.

Das hört sich nach unüberwindlichen Gegensätzen an. Wie kann dann eine Zukunft ohne einen radikalen Bruch überhaupt gedacht werden? Das Rumoren um einen möglichen Putsch ist ja in den letzten Tagen nicht zu überhören. Daran ändern auch die fleißigen Dementis nichts.

Ja, in welche Richtung könnte sich eine Lösung des Dilemmas andeuten? Das sind Gedanken, die mich sehr intensiv beschäftigen. Die Mehrheit im Lande möchte etwas Eigenes. Es soll etwas sein, was nicht unbedingt mit dem Westen und seinen Denkansätzen übereinstimmt, sich aber auch nicht total gegen diese richtet. D. h. eine Idee, die westliche Werte wieder aufnimmt – die inzwischen universelle Werte geworden sind –, diese neu definiert und in das Eigene integriert.

Das ist als Denksystem sehr einleuchtend formuliert, aber eben sehr idealistisch, denn es lässt die Machtdimension völlig außer acht. Was würde denn passieren, wenn die Opposition diese Idee der kulturellen Vielfalt aufgreifen würde und zwar eingebunden in das globale System, ergebe das dann eine Chance?

So hätte diese sicherlich eine bessere Chance als der gegenwärtig diskreditierte eintönige 'Islam'. Dadurch ergäbe sich nicht nur die Chance, den Konflikt zwischen Kurden und Türken auf eine andere Weise anzugehen, als über die 'übliche' kriegerische Auseinandersetzung. Auch viele der anderen Probleme ließen sich über diese Idee der Vielfalt wahrscheinlich einfacher lösen. Das wäre dann endlich eine Gegenstrategie zur AKP, die ja gerade durch die Beschränkung auf eine einzige Idee gekennzeichnet ist, die sie über Macht und Herrschaft durchdrücken will. Das kann sich auf Dauer nicht durchsetzen.

Ist auch das nicht auch wieder zu idealistisch gedacht, angesichts der hohen Anzahl der im Lande lebenden Muslime? Wo würden sich diese in Deinem Denkansatz denn dann wiederfinden können?

Also wenn man diese Grundidee richtig anfüllt, nämlich nicht unbedingt nur mit einer Art beschränkendem Islam, sondern an die türkischsprechenden örtlichen Kulturen anlehnen, d.h. sich wieder an die alten türkischen, kurdischen, armenischen, syrisch-christlichen, alevitischen und orthodoxen Kulturen anlehnen. Wenn man all diese Traditionen belebt, könnte das einen kulturellen 'Boom' auslösen, denn all diese Kulturen sind ja anatolisch, sie sind keine Kopien des Westens. Trotzdem spüren sie aber keinen Hass gegen Westen oder Osten, wie der Islamismus das mit Absicht über seine Abgrenzung produziert. Wenn man das Anatolische wieder wertschätzen und nicht mehr zertrampeln würde, könnte das die Basis für etwas Neues sein, das sich auch in die Weltgemeinschaft wunderbar integrieren kann. Und mit dieser Offenheit kann man sich auch unbeschadet an ein westliches Demokratiesystem anlehnen und dennoch die eigene Besonderheit betonen, denn ich glaube die Türken brauchen dieses Gefühl der Besonderheit.

Ich habe den Eindruck, dass diese Debatte um Gleichheit und Differenz auch in den westlichen Ländern eine wichtige Rolle spielt, was gegenwärtig leider wieder in ein starkes nationalistisches Denken umzukippen droht.

Sich auf die eigene Art zu besinnen, ist ein Trend in der Welt. Es kommt doch eigentlich nur darauf an, wie man damit umgeht. Die Türken gehen gegenwärtig in einer ganz schlechten Art und Weise damit um. Sie produzieren einen Erdoğanismus, der sich auf den sunnitischen Islam stützt und nur für eine Person konzipiert ist. Diese Art ist aber gründlich gescheitert, und die Türken begreifen gerade den Grund. Aber es ist noch immer keine politische Partei oder Person in Sicht, die diese Grundidee 'Wir wollen wieder WIR sein' mit richtigem Inhalt füllt und die Türkei aus dieser Sackgasse in die Welt rettet. Deshalb bekommt die AKP trotz allem noch immer so viele Stimmen, weil eben diese Grundidee das letzte Wort hat.

(wird fortgesetzt)

Zur Gleichzeitigkeit von Stärke und Schwäche in der einen Idee – Ein Gespräch mit Selçuk Salih Caydı - Teil 2