Neujahr in Istanbul – Die Fortsetzung des Türkischen Alptraums

Nach einer nebligen Abflugverzögerung endlich die nächtliche Ankunft im total verregneten Istanbul. Wenigstens funktioniert die Elektrizität. Die Häuser sind erleuchtet. Leuchtreklamen lassen Konsum- und Kulttempel in hellem Licht erstrahlen. Noch herrscht Ruhe vor dem Neujahrsfeuerwerk. Anders als in Deutschland ist kein vorzeitiger Böller ist zu hören. Doch alles wirkt heute merkwürdig anders. Auf der Strasse neben dem Gezipark ist ein Vorwärtskommen kaum möglich. Gitterabsperrungen. Ein Meer von Polizisten in Uniform, in Zivil. Andere wiederum haben Leuchtwesten mit sichtbarer Aufschrift ‚Polizei‘ auf dem Rücken. Die Seitenstrassen in Richtung Tarlabası sind abgesperrt. Personen werden kontrolliert und können nur einzeln passieren. 

„Was ist los?“ fragen wir einige Polizisten. „Nix. Nur Vorsorge wegen Neujahr“  ist die einhellige Antwort.
Doch alles wirkt irgendwie unheimlich. Es sind einfach zu viele. An manchen Stellen scheinen sie fast noch mehr zu sein, als die auf und ab schlendernde Menschenmenge. Was werden wir wohl erst auf Taksim zu sehen bekommen? Aber dort und auch auf Istiklal ist weit und breit kein Toma zu sehen. Das ist merkwürdig, denn Wasserwerfer gehören bei erhöhter Polizeipräsenz eigentlich immer zum Strassenbild.

Um das französische Konsulat – wie seit dem Anschlag im März 2016 hier  üblich – zum Schutz die Gitterabsperrung. Dennoch macht alles eher den Eindruck „Keine Angst, wir sind hier. Wir passen auf, wir schützen Euch.“ Aber auch jedes weitere Gebäude auf unserem Weg ist bewacht. So habe ich das noch nie gesehen. Es hat den Anschein einer Bewachungskette auf beiden Seiten die gesamte Strasse hinunter.

Und noch etwas ist neu. Die Seitenstrassen sind blockiert, aber nicht wie üblich durch Gitter abgesperrt. Diesmal blockieren jeweils 4 Polizeifahrzeuge, die sich mit der Front gegenüberstehen mit laufendem Motor, umringt von Sicherheitskräften. Es erscheint, als wolle man dort nicht nur eine Strasse blockieren, sondern als stehe man auch auf Abruf, um bei Bedarf in Sekundenschnelle durchstarten zu können. Anders als in früheren Zeiten – zum Beispiel zur Zeit der Gezibewegung – als Zivilpolizisten nicht gleich erkennbar und ihre Arbeitsmittel in Plastiksäcken an den Strassenecken abgestellt waren, um bei Bedarf die Gummiknüppel schnell zur Hand zu haben, ist davon diesmal nichts zu bemerken. Unbekümmert stehen Sicherheitskräfte in Grüppchen herum. Andere wiederum beobachten gezielt. An den Seiten liegen Proviant und Getränke. Sie sind auf eine lange Nacht vorbereitet.

Es herrscht eine mir unbekannte, neue Stimmung, fast fröhlich und unterhaltsam, aber dennoch aufmerksam. Von Sicherheitskräften und Bevölkerung ist keine Distanz bemerkbar, im Gegenteil. Passanten posieren mit vermummten Polizisten und schießen Selfies. Auf die Menschenmenge, die hier in Istiklal zum Ende des Tages stetig anwächst, hat es offensichtlich diesmal niemand von den Sicherheitskräften abgesehen. Auch die aggressive Garde scheint verschwunden. Auffallend sind die vielen jungen Gesichter der Polizisten und Polizistinnen. „Etwas hat sich geändert bei der Polizei,“ erklärt mein Kollege. „Viele wurden nach dem Putsch verhaftet oder entlassen. Neue wurden eingestellt. Sie sind gut ausgebildet, aber sie haben nicht mehr diese Distanz zur Bevölkerung, wie es die alte Garde hatte.“ Auf unserem Weg durch eine Seitenstrasse bemerken wir akribische Personenkontrollen und auch hier eine Omnipräsenz der Sicherheitskräfte. Der Stadtteil scheint von Polizei ‚besetzt‘ zu sein. Freunde bestätigen, auch für sie sei es eine neue Qualität und von ihnen zuvor so noch nicht erlebt. 

Plötzlich platzt diese Nachricht in unsere friedliche Neujahrsrunde im Petra Palace Hotel. „Reina!“ „Guckt mal Reina, schnell!!“ Schon sausen die ersten Polizeiautos mit Blaulicht an den Fenstern vorbei. Kurze Zeit später sind die Strassen verstopft und nichts geht mehr. Der Stadtteil ist abgesperrt. Das ist das Ende von unserem fröhlichen Neujahresanfang.

Was ist passiert? Das Internet funktioniert diesmal. Die Sozialen Medien reagieren blitzschnell. Die übliche Nachrichtensperre ist noch nicht ausgesprochen: Ein erneuter Terroranschlag! Bei einem Angriff auf den Reina Nachtclub gelingt es Angreifern um 1:45 Ortszeit in diesen Club einzudringen und dort ein Massaker anzurichten. Ursprünglich wird von mehreren Angreifern geredet, die sich mittlerweile auf der Flucht befänden. Mittlerweile nur noch von einer Person. 


Was für ein Club ist das Reina, den sich die Terroristen da ausgesucht haben?


Barbara Vorkammer beschreibt den Club als Symbol für Reichtum und Dekadenz, aber auch als eine "Instanz im Istanbul Nachtleben." Der direkt am Wasser unterhalb der drei großen Brücken über den Bosporus gelegene Club, der über mehrere Restaurants, Tanzflächen und eine zentrale Bar verfüge, sei seit seiner Eröffnung 2002 beim türkischen Jetset, Promintenten sowie ausländischen Touristen beliebt. [1]


Für Mehmet Koçarslan, Gründer dieser Kultstätte, symbolisiert Reina die "World under one roof." Für ihn ist der Club eine Metapher und Ausdruck der Multikulturalität in der Türkei, aber auch ein "passport to the European Union." [2] Und Vorkammer mutmasst, dass Reina genau aus diesem Grund als Ziel ausgewählt wurde. Durch diesen Angriff wurden 39 Menschen getötet und 69 weitere zum Teil sehr schwer verletzt. Eine traurige Bilanz für eine Feier zur Begrüssung des Neuen Jahres.

Jetzt erklärt sich uns auch die breite Präsenz der Sicherheitskräfte im Stadtteil. Von 17.000 Polizisten ist da die Rede. Allerdings ist nur von einem Polizisten vor dem Club die Rede, ein 21jähriger, der durch diesen erneuten Wahnsinn in den Tod gerissen wurde.

Es scheint Hinweise gegeben zu haben. Und wenn ja, wie wurde mit diesen umgegangen? Hier gibt es unterschiedliche, zum Teil widersprüchliche Sichtweisen. Sicher ist jedenfalls, dass die Gruppe des IS Warnungen gegenüber der Türkei ausgesprochen hat.



Offensichtlich scheint man in diesem Spektrum nach dem oder den Tätern zu suchen. Doch dann geschieht leider auch sehr schnell das hier mittlerweile Übliche: Es wird eine Nachrichtensperre verhängt. Diese Vorgehensweise verwirrt. Warum gibt es keine öffentliche Warnung, dass der Täter noch unterwegs ist? Es existiert auch keine Skizze des Gesuchten. Dabei hat sich doch immer wieder gezeigt, dass Bürger und Bürgerinnen bei Fahndungen hilfreich sein können. Wieder wird hier offiziell völlig anders reagiert, als dies beispielsweise während des jüngsten Attentats auf einem Weihnachtsmarkt in Deutschland geschah. 

Auch in Reina spielt das Thema Weihnachten offenbar eine Rolle. Einer der Täter soll sich als Weihnachtsmann in den Club geschmuggelt haben. Doch dies wird später offiziell dementiert. Wenn es so wäre, wie die Bilder der Überwachungskamera annehmen lassen, was hat dann ein Weihnachtsmann auf einer Neujahrsfeier zu suchen?  Wieso kommt jemand mit einer solchen Verkleidung unbemerkt in eine Feier zur Begrüssung des Neuen Jahres? Während in anderen Ländern das Neue Jahr mit Luftschlangen und Böllerschüssen begrüsst wird, gehören in der Türkei bei solchen Feiern offensichtlich der Weihnachtsbaum und der Weihnachtsmann dazu. Ob sich aus historischer Unkenntnis oder der Einfachheit halber diese nichts miteinander zu tun habenden nichtmuslimischen Feste im Verlauf der Zeit miteinander verschmolzen haben, ist ein anderes Thema. Aus Sicht in der Türkei jedenfalls gehören sie heute irgendwie zusammen, und somit wird auch verständlich, wenn jemand mit einer solchen roten Mütze am Neujahrstag Einlass begehrt, warum dies weder verwundert, noch ein mordender Terrorist in ihm vermutet wird. 

Es ist etwas anderes, dass verwundert und auch verwundet im jüngsten Vorgehen in der Türkei: der Umgang mit den nichtmuslimischen Festen. Waren da nicht die Predigten am vergangenen Freitag in einigen Moscheen, in denen öffentlich verkündet und kritisiert wurde, den Anfang des Neuen Jahres überhaupt zu feiern? Erinnern wir uns: Der unter 'Ahmet Hoca mit der Robe' bekannte, der Ismailağa Gemeinde angehörige Prediger sagte, Neujahrsfeste seinen "haram", d.h. im Islam verboten, sie seien Feste der schmutzigen Ungläubigen (Gavur), der Kafir und kommentierte: "Würdest du an dem Tag feiern, an dem die Mörder deines Vaters feiern? Nimm nicht teil an der Feier der Mörder deines Vaters, an den Feiern der Feinde deiner Religion. Wenn du die Feier dieser schmutzigen Ungläubigen feierst, verflucht Allah dich und schickt sie dir an den Hals." Oder der Prediger Nureddin Yıldız, in dessen Umfeld sich übrigens auch der Attentäter Mevlüt Mert Altıntaş des russischen Botschafters befand. Er rief die Muslime in einer Ansprache zu Reaktionen gegen die Neujahrsfeiern auf. [3] Und es  waren sogar Plakate in der Öffentlichkeit zu sehen, auf denen der Weihnachtsmann K.O. geschlagen wird:



Ich denke, es ist an der Zeit darüber nachzudenken, ob eine solche Stimmungsmache gegen nichtmuslimische Traditionen in der Türkei – ebenso wie in jeder multikulturell zusammengesetzten Gesellschaft – zur Gefahr wird, Angehörigen radikaler Sichtweisen den Weg weiter zu ebnen. Wenn diese Kräfte so ausser Kontrolle geraten können, dass sie mit Totschlag und Mord sympathisieren, um ihre eigenen Ziele durchzusetzen, dann werden sie auch vor weiteren Terrorakten nicht zurückschrecken.
Irgendwo habe ich heute sinngemäß gelesen: „Früher haben wir am Neujahrstag die Neugeborenen benannt und uns über ihre Ankunft gefreut. Heute scheint es so, als ob wir beginnen, an diesem Tag die Toten zu beklagen.“ Der erste Tag im Neuen Jahr, ein trauriger Tag für viele. Verflogen ist die fröhliche Stimmung, die wir gestern auf Istiklal ALLE noch gemeinsam gespürt haben. Aber sie könnte auch ein Hoffnungsschimmer sein, dass nicht alles so bleiben muss, wie es jetzt ist.
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