Watch - schau hin! Die Frauenbrigade des IS

Twitter – 29.2.2016
Eine kleine Notiz, kaum bemerkt: ISIS baut eine weitere Frauenbrigade im Nordosten von Syrien auf. Keinen Kommentar wert? Ich denke schon. Es kommt darauf an, aus welcher Perspektive diese Notiz betrachtet wird. Es ist Krieg in Syrien. Da ist für Frauenthemen wenig Platz. Dort geht es um die Zurückdrängung der radikalen Islamisten aus den von ihnen eingenommenen Gebieten und letztlich um die Zerschlagung dieser Gruppierung(en). Warum also zum gegenwärtigen Zeitpunkt von ISIS eine solche Notiz?

Seit der Verkündigung eines "Islamischen Staats"(IS) durch die Gruppierung radikaler Islamisten (ISIS) wurden in den westlichen Medien verschiedene Bilder von Mädchen und Frauen gezeichnet, die sich dem Jihad – dem Heiligen Krieg – verpflichtet fühlen und nach Syrien ausgereist sind. Dabei wurde auch erwähnt, dass Frauen ihren Heiligen Krieg auf andere Weise führen als die Männer. ‘Experten‘ sahen die Verpflichtung muslimischer Frauen mehr darin, ihren Körper dem "Heiligen Krieg" zu opfern, und belegten dies mit alten und neueren Fatwas zum "Jihad Al-Nikan" – dem Sex-Jihad. (1) Nicht die Waffe an sich helfe der Frau bei ihrem Jihad, so die Darstellungen, sondern ihr eigener Körper sei ihre "Waffe", den sie nach außen verhüllen solle, und der dem Jihadisten zur Seite gestellt, diesen in seinem Kampf gegen die Ungläubigen der Welt unterstützt.

Bereits im Jahr 2013 konnte man in arabischen Medien von Mädchen und Frauen lesen, die nach Syrien reisten, um ihre sexuellen Dienstleistungen den Jihadisten zur "Unterstützung ihres Kampfes" anzubieten. (2) Westliche Medien griffen den Begriff des Sex-Jihad als "Prostitution im Namen Allahs" bereitwillig auf (3) und berichten seither von Teenies auf der Suche nach einem Kämpfer als Ehemann oder von verlassenen einsamen Frauen auf der Suche nach Sex, einem neuen Liebhaber oder einem Ehemann. So entstand das Stereotyp von unreifen oder frustrierten weiblichen Personen, die ihr Land verlassen – verführt durch abenteuerliche Vorstellungen über das Leben in einem Islamischen Staat – und sich in ihr Unglück und/oder ihren sicheren Tod begeben. (4)

Zu einem späteren Zeitpunkt differenziert sich das stereotype Bild. Die Frau wird zwar weiterhin als Ehefrau und Mutter gesehen, "concentrating on the joys of jihadist family life and the 'honor' of raising new fighters for Islam." (5) Doch ihr Aufgabenspektrum erweitert sich. Sie ist Verführerin und Anwerberin. Und sie ist die Hüterin und Wächterin der Ehre im "Islamischen Staat".

Jeder Punkt steht für eine Person.
Dicke Punkte zeigen den Grad der Vernetzung.
Die Anwerberinnen locken Mädchen und Frauen aus den westlichen Ländern in den von ihnen hoch gelobten Islamischen Staat zur Verehelichung mit einem der Jihadisten. Seit Sommer 2014 expandieren die eigens zu diesem Zweck eingerichteten Online Netzwerke. (6) Westliche Frauen, meist selbst mit einem Jihadisten verheiratet, halfen und helfen bis heute ihren "Schwestern", "to marry jihadi fighters and contribute to the formation of their new society." (7) Frauen werden dringend benötigt, denn hier herrscht Notstand im IS, den dieser durch Anwerbung, aber auch durch Versklavung von "Kriegsbeute" zu decken sucht. So versucht der IS das Versprechen an seine Kämpfer einzulösen, in ausreichendem Maße für deren sexuelle Befriedigung zu sorgen.

Die Hüterinnen und Wächterinnen sind in der al-Khansaa Brigade versammelt, als Sittenpolizei und Hüterin der weiblichen Moral. Die Brigade bewacht die Frauen und wacht über deren Einhaltung der Vorschriften. Missachten Frauen diese Regeln – so die Berichte – werden sie hart bis grausam bestraft. (8) Fehlt ein Handschuh bei der Ganzkörperverschleierung - so berichtet einer der Entkommenen – wird sogar zu mittelalterlichen Folterwerkzeugen gegriffen, dem "Clipper", ähnlich einer Jagdfalle, dessen Metallspannbacken tief in das Fleisch ihres Opfer schneiden. (7)


Die erste Brigade entstand in Raqqa und wurde von Nada al-Qahtani geleitet. Diese soll nun auch den neuen Zweig im Nordosten von Syrien – in Hasakeh – aufbauen. Sie spielt eine prominente Rolle "on the level of communicating with foreign fighters". Sie beaufsichtigt diese nicht nur und leitet die Brigade, sondern sie wirbt auch unter den Frauen in der Bevölkerung "to encourage their husbands and sons to join ISIS". (10) 



Es gibt sie also auch, die Frauenbrigaden im IS, doch bisher ist kaum ausführlich über sie berichtet worden. Wenn überhaupt waren es Reaktionen auf bestimmte Ereignisse, welche die westlichen Medien aber auch die Fan-Gemeinde um ISIS veranlasste, dieses Frauen-Thema aufzugreifen und zwar um sich gegen etwas zu positionieren. 
Schon vor Jahren haben Helma Lutz und ich darauf aufmerksam gemacht, dass die Darstellung des Geschlechterverhältnisses, seine Symbolik und Interpretation oft eine weitaus größere Wichtigkeit einnimmt um Differenz abzubilden, als alle anderen sozialen Codes. (11)

Und so verwundert nicht, dass ISIS selbst auf diese Brigade aufmerksam machte, als die kurdischen Milizen YPG (Yekîneyên Parastina Gel) in den Sozialen Medien eine breite Kampagne über ihre Frauenbataillone im Kampf gegen die IS-Gruppierung begannen.

Kein Tag in den sozialen Netzwerken ohne tanzende, singende, Kinder tröstende und kämpfende Kurdinnen oder waffengewandte kurdische Grossmütter. YPG zeichnete so das Bild von seinen demokratischen Strukturen, von der Gleichstellung seiner Frauen bis hin zu deren Heroisierung im Kampf gegen den Feind.

Anders als die YPG-Frauen verschwand die al-Khansaa Brigade schnell wieder aus dem öffentlichen Bewusstsein. Zum einen zeichnen die Medienkampagnen von ISIS eher eine "Erfolgsstory" des Kampfes von Männern durch das Abbild von Waffen, Kriegsgeschehen und Grausamkeiten gegenüber dem "ungläubigen" Feind. Zum anderen hielt sich in den westlichen Medien das Stereotyp von verführten und einer Gehirnwäsche unterzogenen Mädchen und jungen Frauen. Frauen mit einer Kalaschnikow, die Angst und Schrecken verbreiten, passen nicht in ein solches Bild.

Warum erscheinen nun die IS-Frauen-Brigaden gerade jetzt wieder auf der Bühne? Etwas hat sich verändert im Verlauf des letzten Jahres. Die Erfolgsstory der radikalen Islamisten des IS hat nicht nur einen Bruch bekommen, sie scheint sich langsam in ihr Gegenteil zu verkehren. Die Verluste nehmen zu, das Geld geht aus, die Löhne werden nicht gezahlt, das Territorium schrumpft... (12) Eine langsam sichtbar werdende Schlinge scheint sich Zug um Zug um diesen gedachten und deklarierten "Islamischen Staat" zu ziehen. Denn im Unterschied zu Al-Qaida hat der "Islamische Staat" für ISIS nicht nur eine symbolische Bedeutung. Es ging diesen radikalen Islamisten immer auch um die Entwicklung eines realen Staatsgebildes mit dem Anspruch, wie ein Staat zu handeln, mit Rechten und Pflichten sowie brutaler Gewaltausübung gegenüber der Bevölkerung des besetzten Territoriums. Diesen Staat gilt es nun nicht nur nach aussen zu verteidigen, sondern auch vermehrt nach innen zu schützen. Denn ein Staat – mag er auch noch so imaginär sein – der seinen versprochenen Pflichten nicht nachkommen kann, ist doppelt angreifbar. Das bereitet Sorge. Hierzu ist viel zu lesen in den letzten Wochen. Da werden angebliche Deserteure des ISIS durch den ISIS selbst getötet. Da werden ISIS Kämpfer in Frauenkleidern aufgegriffen, beim Versuch sich abzusetzen. Da wird geklagt über ausgefallenen Lohn und Mittelknappheit. All das bleibt auch bei der Bevölkerung im besetzten Territorium nicht unbemerkt.
Muss da nicht auch ISIS verstärkt damit rechnen, dass der Traum vom "Islamischen Staat" der Wirklichkeit weichen wird, und die Realität bald eine ganz andere sein könnte, als das der Bevölkerung in Teilen von Syrien und Iraq übergestülpte Staatskonstrukt? Der mögliche baldige Fall von Mosul wird von Analysten bereits als der Anfang des Falls vom ISIS Kalifat gesehen (13) Und auch das Verhalten der Kämpfenden wird in diese Richtung gedeutet: "ISIS is no longer behaving like an 'army', neither has returned to 'hit-and-run' tactics. It is 'hit-and-die' tactic." spöttelt Elijah J. Magnier auf Twitter. (14)

Werden sie daher wieder mehr und jetzt ganz besonders gebraucht, diese Brigadistinnen, in den Gebieten, die noch nicht vom "Feind" rückerobert sind? Sollen diese meist ausländischen Frauen in den Brigaden mögliche Rückzugsgebiete für die Familien der IS-Kämpfer besser absichern?
Und wenn ja, gegen wen? Vielleicht wirklich gegen eine den radikalen Islamisten mittlerweile feindlich gesinnte Bevölkerung, die sich zur Wehr setzen könnte, je mehr sich der Machtschwund der sie beherrschenden ISIS-Kämpfer bemerkbar macht?

Was aber wird dann geschehen mit all den Frauen und Kindern und insbesondere mit den Familien der ausländischen Kämpfer, wenn sich das Blatt jetzt langsam wendet? Über 31.000 Frauen seien gegenwärtig im Territorium des IS schwanger, so beschreiben Forscher der Qulliam Foundation die Situation. (15) Und nicht alle von ihnen sind überzeugte ISIS Angehörige, viele von ihnen wurden "erbeutet" oder "überzeugt". Und was würde passieren mit den Ausländerinnen aus den Brigaden, überall verhasst und gefürchtet aufgrund ihrer Brutalität?

Es wird viel geschrieben über die "Ausländer" im IS. Welche Positionen sie im Kalifat erlangt haben, wie beispielsweise der Deutsch-Ägypter Reda Seyam, der es bis zum Bildungsminister der Stadt Mosul schaffte. (16) Aber auch, wie sie vorgeschickt werden als "Kanonenfutter" im Kampf gegen die "Ungläubigen". Was würde wohl in einer sich verändernden Situation dann mit den Ausländerinnen passieren? Ohne das Konstrukt eines IS mit seinen festgelegten Verhaltensmassregelungen wären diese plötzlich Fremde in einem ihnen unbekannten Land, dessen nationale und regionale Besonderheiten sie nicht kennen. Und ohne ihre sich in die Luft gesprengten Ehemänner wären sie mit ihren Kindern auf sich selbst angewiesen in einer ihnen plötzlich offensiv gegenübertretenden feindlichen Umwelt. Und das alles ohne einen für sie sorgenden Islamischen Staat, der sich möglicherweise bereits in Luft aufgelöst hat. Denn der IS ist ein imaginäres Staatsgebilde auf dem Territorium zweier Staaten und als seine "Angehörigen" können sie nicht darauf hoffen, weiterhin als Bewohnerinnen eines der beiden Länder gesehen zu werden.

Eines sollten die Jihadistinnen daher bedenken, implodiert dieses Staatsgebilde, kehrt die Buntheit der regional kulturellen Vielfalt der Bevölkerung zurück. Und auf der anderen Seite stehen dann "die Ausländerinnen " als Mitglieder oder Kollaborateurinnen eines unterdrückerischen religiösen Wahnsystems. Und ohne ihre schwarzen Gewänder sind sie dann plötzlich sichtbar, als Ausländerinnen, in einem Staat, dessen Bewohnerinnen und Bewohner niemals vergessen werden, was ihnen angetan wurde. Dieser Tag wird kommen. Und dann wird man ihnen sicher nicht erlauben, ihre bizarren Ideen vom einem Leben im Paradies in die Tat umzusetzen. Ich denke, man würde ihnen gebieten zu leben, unter den dortigen Bedingungen, bis nicht sie, sondern Allah das Ende ihrer Tage auf Erden bestimmt.

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Ergänzend hierzu ein Text von Jasmine Opperman: From the home front to the frontline: The role of women in Islamic State vom 17.2.2016 aus Daily Maverick

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Eine Frau kämpft – "Mein Sohn will nach Syrien!" – Teil 4


Wie ich Deiner Erzählung entnehme, hat Dein Sohn dann doch einen anderen Weg eingeschlagen, als es eine Zeitlang erschien. Er hat wieder Distanz zu den Salafisten bekommen. Wie bist Du damit umgegangen?

Naja, ich habe ihm erst einmal überhaupt nicht getraut. Keinen Meter (lacht). Es bestanden damals ja auch noch viele Kontakte zu den Salafisten. Und dann kamen ja auch immer wieder Freunde aus Syrien zurück. Diese Kontakte fand ich weiterhin sehr schwierig für mich.


Er hat also Freunde, die in Syrien gewesen und zurückgekommen sind. Hatten die denn immer noch die gleiche Einstellung wie zur Zeit ihrer Ausreise?

Ja, ich denke die meisten schon, egal, was sie dort in Syrien alles erlebt haben. Es sind nur wenige dabei, die ihre Einstellung grundlegend geändert haben. Bei meinem Sohn hat diese radikale ideologische Einstellung abgenommen, bei den anderen denke ich jedoch nicht.

Und als diese dann bemerkt haben, dass mein Sohn nicht mehr so richtig mitmacht, dann haben sie sich auch immer mehr von ihm zurückgezogen.

Ich nehme an, sie haben ihn dann etwas belächelt und als einen Weichling gesehen. Das mag kein Mann gerne hören, so dass er sich selbst dann auch von ihnen abgekapselt hat. Und hat sich wieder mehr auf seine Arbeit konzentriert und mehr mit seinen Arbeitskollegen unternommen. Es war also ein beiderseitiger Entfremdungsprozess, der da stattgefunden hat. Und es ist noch etwas passiert, von dem ich annehme, dass es ihn letztendlich gerettet hat. Er hat sich verliebt.

Das ist manchmal doch auch eine Chance. Frauen können Einfluss auf die Lebenswege von Männern haben, auch wenn das von diesen nicht so gerne zugegeben wird.

Das ging damals relativ schnell. Wir haben das Mädchen kennengelernt und auch bald in der Familie um ihre Hand angehalten und die Verlobung gefeiert.

Hat er sich in der Zeit davor denn etwas verändert? Du hast zum Beispiel davon gesprochen, dass er so sehr auf sein salafistisches Aussehen geachtet hat.

Etwas hatte sich da schon verändert. Aber seinen Bart, den hat er sich nicht abgenommen. Ich glaube, dazu war er zu stolz, das hätte nach aussen zu sehr als ein Rückzieher ausgesehen. Und seine Einstellung ist auch weiterhin sehr religiös.

Wie kommt die andere Familie mit seiner Einstellung klar?

Diese Familie ist selbst sehr religiös eingestellt, allerdings überhaupt nicht radikal. Sie haben ihn so akzepetiert. Allerdings hat das Mädchen ihm doch einige kritische Fragen gestellt und ihm zu verstehen gegeben, dass sie nicht vorhabe, mit einem Radikalen ihre Zeit zu verschwenden.

Sie hat ihm ganz offen gesagt, dass er mit seinen radikalen Ideen bei ihr keine Chance hätte?

 Genau so. Eine solche Haltung akzeptiere sie nicht.

Hattest Du nicht erst einmal die Idee, er könnte ähnlich handeln, wie zuvor? Erst einmal still zu halten, um dann nach der Hochzeit auf seiner Haltung zu bestehen?

Nein, ich denke, er hat schon bemerkt, dass er bei dem Mädchen sonst keine Chance gehabt hätte. Es ist interessant, im Grunde hat er sich einen Typ Frau ausgesucht, die ebenso stark ist wie seine Mutter. Ich dachte immer das Gegenteil, dass er sich eher einen schwachen Typ aussuchen würde, ein Mädchen, das er lenken und auf seine Ideen einschwören könne. Aber genau das Gegenteil ist passiert.

Ich glaube aber, dass sich sein Denken selbst verändert hat. Vielleicht war es ihm auch ganz willkommen, so tun zu können, als gäbe er sein Verhalten wegen mir auf. Ich hatte aber schon das Gefühl, er suchte nach einem Weg, wie er sich von dem Ganzen lösen könne. Da war ihm mein Verhalten ganz willkommen.

Du meinst er habe sein Gesicht vor den Salafisten dadurch nicht verloren, weil diese es selbst so wollten, damit Du aufgibst, gegen sie vorzugehen?

Ich denke, dass es so gewesen ist.

Meinst Du, dass er durch dieses Vorgehen zu einer wirkliche Lösung für seinen inneren Zwiespalt gekommen ist?

Nein, es war sicherlich erst einmal keine Lösung seines Zwiespaltes. Aber es war eine Entscheidung, die sich aufgrund verschiedener Umstände und Ereignisse dann so zu einer Lösung entwickelt hat. Dadurch dass er versucht hat, mich in Schach zu halten, kamen wir uns wieder näher. Er musste mich besuchen und musste mir gut zureden. Und dann hat er seine kleine Schwester ja auch wieder öfter gesehen. Das hatte ich ihm ja erst einmal verboten, nachdem mein Mann ihn rausgeworfen hatte. Ich denke, das alles hat ihn dann doch wohl überzeugt, dass die Liebe zu seiner Familie ihm wichtiger war, als seine Liebe zu den Salafisten und dem Kampf in und um Syrien.

Lass uns einem Moment bei dem Thema Liebe bleiben. Ich habe das Gefühl, wenn wir Frauen wirklich lieben, dann gibt es für uns keine Grenzen. Ich denke, wäre Dein Sohn gegangen, würdest sogar Dein eigenes Leben aufs Spiel setzen, um zu versuchen, ihn aus dieser Kriegssituation wieder herauszuholen.

Ja, das würde ich. Und dieses Liebesgefühl, das ist für mich ganz wichtig. Und ich glaube dieses Gefühl hält auch eine Familie erst zusammen. Ich habe meine Liebe niemals verheimlicht. Ich habe sie immer gezeigt, auch körperlich mit viel Zärtlichkeit und Emotionalität. Ich habe auch viel geweint, wenn mir danach war. Und ich habe auch immer versucht, alles einzuhalten, was ich versprochen habe. Ich war immer für die Familie da.

Ist das denn ein ganz spezifisch weibliches Gefühl, diese altruistische Liebe für die Anderen, das Dir die Kraft gegeben hat, so um Deinen Sohn zu kämpfen?

Ich denke schon. Ich denke die Liebe, die mein Mann gibt, ist eine andere und nicht so ausschliesslich und sichtbar. Und auch bei meinem Sohn ist Liebe etwas anderes, als nicht so ausschliesslich und auch sehr unterschiedlich zum Vater, zu den Geschwistern ... Aber die Mutter, ich glaube die Mutter die hat oberste Priorität. Das habe ich bemerkt, als mein Vater plötzlich gestorben ist. Da hatte ich überhaupt keine Kraft mehr. Und sofort hat sich mein Sohn ganz intensiv um mich gekümmert. Er hat mich nicht allein gelassen. Er hat bemerkt, ich brauche ihn. Vielleicht hat das auch mit dazu beigetragen, dass er seinen Platz wieder in der Familie gefunden hat. Wer weiss.

Ihr habt Euch also Schritt für Schritt wieder aneinander angenähert? Ist er dann auch wieder zu Euch in die Wohnung gezogen?

Nein. Wir haben eine Wohnung für ihn gesucht, in der Nähe. Ich habe ihm ganz klar gesagt, es gibt keinen Platz mehr bei uns. Du machst jetzt deinen Weg, du bist jetzt erwachsen. Und das wollte er dann auch.

Hattest Du da nicht Sorge, dass er wieder den anderen Weg einschlagen könnte?

Ich denke, eine Zeitlang war das noch so. Die Erfahrung und der Schrecken saßen doch sehr tief. Beenden konnte ich das Kapitel für mich durch zwei Ereignisse. Das erste war, als mein Sohn mir den Schlüssel zu seiner Wohnung übergab, um einen Reserveschlüssel zu haben. Das zweite Ereignis ist noch gar nicht so lange her. Eines Tages teilte mir die Polizei nämlich mit, dass das Thema für sie erledigt sei und sie meinen Sohn nicht mehr beobachten würde. Erst dann war ich glaube ich wirklich frei. Ich merke aber doch, dass durch diese Erzählung hier vieles wieder hoch kommt und ich noch einige Zeit brauchen werde, bis ich das alles wirklich verarbeitet habe.

Wenn ich jetzt auf Deine Erzählung blicke, so war es in diesem Konflikt nicht der Vater in der Familie, der nach außen agiert hat und sich in die Öffentlichkeit begeben hat und der offen um seinen Sohn gekämpft hat, sondern das bist Du gewesen. Diese Stärke wird Frauen ja oft abgesprochen und ein solches Verhalten wird ihnen untersagt. Bist anders, als die Frauen in Deiner Umgebung?

Ich denke nicht, ich denke, vielleicht scheint das nur so. Bei uns heisst es "Das Paradies liegt unter den Füssen der Mutter." Also musst du sie ehren, denn eine Mutter verflucht auch, und das wünscht sich kein Sohn. Und das gibt den Müttern auch Macht. Und die habe ich eben benutzt, diese Macht. Für mich, für meinen Sohn und für die Familie.

Du hast erzählt, Du warst nicht die einzige in der Region, die solche Sorgen mit ihrem Sohn hatte. Gab es da einen Zusammenschluss und einen Zusammenhalt unter Euch Frauen?

Eigentlich nicht. Wir sind doch sehr verschieden. Jede Mutter hat ihre eigene Strategie. Es gibt sogar Mütter, die sind stolz auf das Verhalten ihrer Kinder und unterstützen das noch. Es gibt Mütter, über die ich nur den Kopf schütteln kann, wenn sie mir erzählen, dass es richtig ist, wenn ihr Sohn für den Jihad stirbt. Es gibt Mütter die schwach sind, und die nichts bei ihren Kindern erreichen. Die würden aber auch nicht so wie ich auf die Strasse gehen, das wäre ihnen peinlich. Sie fühlen sich eher ihrer Familie und ihrer Sippschaft verpflichtet, hinter der sie sich dann verstecken, damit die Familie durch sie ja nicht negativ auffällt. Oder ich bin als Verräterin beschimpft worden, weil ich mich der Polizei anvertraut habe. Mittlerweile ist es nur noch eine Mutter, mit der ich mich noch heute regelmässig treffe und mich austausche. Die hat einen noch sehr jungen Sohn, der wieder aus Syrien zurückgekommen ist. Die ist aber auch so radikal, beim nächsten Mal würde die ihm wohl sofort hinterher reisen. Und ich glaube, das verschafft uns bei unseren Söhnen auch Respekt, dass wir so um sie kämpfen. Und sie haben irgendwo auch Angst vor uns, dass wir es öffentlich wahrmachen, was wir ihnen androhen. Und was ist heute? Heute haben unsere Jungs selbst Angst um ihre jüngeren Geschwister und passen jetzt sogar genau auf, dass denen nicht das Gleiche passiert!

Das Wichtige ist für mich nun, was gibst Du aufgrund Deiner eigenen Erfahrungen nun anderen Müttern mit auf den Weg, die sich in einer ähnlichen Situation befinden?

(wird fortgesetzt)
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Auch Väter kämpfen: 37 Grad - Verlorene Söhne, eine Dokumentation des ZDF