Watch - schau hin! Die Frauenbrigade des IS

Twitter – 29.2.2016
Eine kleine Notiz, kaum bemerkt: ISIS baut eine weitere Frauenbrigade im Nordosten von Syrien auf. Keinen Kommentar wert? Ich denke schon. Es kommt darauf an, aus welcher Perspektive diese Notiz betrachtet wird. Es ist Krieg in Syrien. Da ist für Frauenthemen wenig Platz. Dort geht es um die Zurückdrängung der radikalen Islamisten aus den von ihnen eingenommenen Gebieten und letztlich um die Zerschlagung dieser Gruppierung(en). Warum also zum gegenwärtigen Zeitpunkt von ISIS eine solche Notiz?

Seit der Verkündigung eines "Islamischen Staats"(IS) durch die Gruppierung radikaler Islamisten (ISIS) wurden in den westlichen Medien verschiedene Bilder von Mädchen und Frauen gezeichnet, die sich dem Jihad – dem Heiligen Krieg – verpflichtet fühlen und nach Syrien ausgereist sind. Dabei wurde auch erwähnt, dass Frauen ihren Heiligen Krieg auf andere Weise führen als die Männer. ‘Experten‘ sahen die Verpflichtung muslimischer Frauen mehr darin, ihren Körper dem "Heiligen Krieg" zu opfern, und belegten dies mit alten und neueren Fatwas zum "Jihad Al-Nikan" – dem Sex-Jihad. (1) Nicht die Waffe an sich helfe der Frau bei ihrem Jihad, so die Darstellungen, sondern ihr eigener Körper sei ihre "Waffe", den sie nach außen verhüllen solle, und der dem Jihadisten zur Seite gestellt, diesen in seinem Kampf gegen die Ungläubigen der Welt unterstützt.

Bereits im Jahr 2013 konnte man in arabischen Medien von Mädchen und Frauen lesen, die nach Syrien reisten, um ihre sexuellen Dienstleistungen den Jihadisten zur "Unterstützung ihres Kampfes" anzubieten. (2) Westliche Medien griffen den Begriff des Sex-Jihad als "Prostitution im Namen Allahs" bereitwillig auf (3) und berichten seither von Teenies auf der Suche nach einem Kämpfer als Ehemann oder von verlassenen einsamen Frauen auf der Suche nach Sex, einem neuen Liebhaber oder einem Ehemann. So entstand das Stereotyp von unreifen oder frustrierten weiblichen Personen, die ihr Land verlassen – verführt durch abenteuerliche Vorstellungen über das Leben in einem Islamischen Staat – und sich in ihr Unglück und/oder ihren sicheren Tod begeben. (4)

Zu einem späteren Zeitpunkt differenziert sich das stereotype Bild. Die Frau wird zwar weiterhin als Ehefrau und Mutter gesehen, "concentrating on the joys of jihadist family life and the 'honor' of raising new fighters for Islam." (5) Doch ihr Aufgabenspektrum erweitert sich. Sie ist Verführerin und Anwerberin. Und sie ist die Hüterin und Wächterin der Ehre im "Islamischen Staat".

Jeder Punkt steht für eine Person.
Dicke Punkte zeigen den Grad der Vernetzung.
Die Anwerberinnen locken Mädchen und Frauen aus den westlichen Ländern in den von ihnen hoch gelobten Islamischen Staat zur Verehelichung mit einem der Jihadisten. Seit Sommer 2014 expandieren die eigens zu diesem Zweck eingerichteten Online Netzwerke. (6) Westliche Frauen, meist selbst mit einem Jihadisten verheiratet, halfen und helfen bis heute ihren "Schwestern", "to marry jihadi fighters and contribute to the formation of their new society." (7) Frauen werden dringend benötigt, denn hier herrscht Notstand im IS, den dieser durch Anwerbung, aber auch durch Versklavung von "Kriegsbeute" zu decken sucht. So versucht der IS das Versprechen an seine Kämpfer einzulösen, in ausreichendem Maße für deren sexuelle Befriedigung zu sorgen.

Die Hüterinnen und Wächterinnen sind in der al-Khansaa Brigade versammelt, als Sittenpolizei und Hüterin der weiblichen Moral. Die Brigade bewacht die Frauen und wacht über deren Einhaltung der Vorschriften. Missachten Frauen diese Regeln – so die Berichte – werden sie hart bis grausam bestraft. (8) Fehlt ein Handschuh bei der Ganzkörperverschleierung - so berichtet einer der Entkommenen – wird sogar zu mittelalterlichen Folterwerkzeugen gegriffen, dem "Clipper", ähnlich einer Jagdfalle, dessen Metallspannbacken tief in das Fleisch ihres Opfer schneiden. (7)


Die erste Brigade entstand in Raqqa und wurde von Nada al-Qahtani geleitet. Diese soll nun auch den neuen Zweig im Nordosten von Syrien – in Hasakeh – aufbauen. Sie spielt eine prominente Rolle "on the level of communicating with foreign fighters". Sie beaufsichtigt diese nicht nur und leitet die Brigade, sondern sie wirbt auch unter den Frauen in der Bevölkerung "to encourage their husbands and sons to join ISIS". (10) 



Es gibt sie also auch, die Frauenbrigaden im IS, doch bisher ist kaum ausführlich über sie berichtet worden. Wenn überhaupt waren es Reaktionen auf bestimmte Ereignisse, welche die westlichen Medien aber auch die Fan-Gemeinde um ISIS veranlasste, dieses Frauen-Thema aufzugreifen und zwar um sich gegen etwas zu positionieren. 
Schon vor Jahren haben Helma Lutz und ich darauf aufmerksam gemacht, dass die Darstellung des Geschlechterverhältnisses, seine Symbolik und Interpretation oft eine weitaus größere Wichtigkeit einnimmt um Differenz abzubilden, als alle anderen sozialen Codes. (11)

Und so verwundert nicht, dass ISIS selbst auf diese Brigade aufmerksam machte, als die kurdischen Milizen YPG (Yekîneyên Parastina Gel) in den Sozialen Medien eine breite Kampagne über ihre Frauenbataillone im Kampf gegen die IS-Gruppierung begannen.

Kein Tag in den sozialen Netzwerken ohne tanzende, singende, Kinder tröstende und kämpfende Kurdinnen oder waffengewandte kurdische Grossmütter. YPG zeichnete so das Bild von seinen demokratischen Strukturen, von der Gleichstellung seiner Frauen bis hin zu deren Heroisierung im Kampf gegen den Feind.

Anders als die YPG-Frauen verschwand die al-Khansaa Brigade schnell wieder aus dem öffentlichen Bewusstsein. Zum einen zeichnen die Medienkampagnen von ISIS eher eine "Erfolgsstory" des Kampfes von Männern durch das Abbild von Waffen, Kriegsgeschehen und Grausamkeiten gegenüber dem "ungläubigen" Feind. Zum anderen hielt sich in den westlichen Medien das Stereotyp von verführten und einer Gehirnwäsche unterzogenen Mädchen und jungen Frauen. Frauen mit einer Kalaschnikow, die Angst und Schrecken verbreiten, passen nicht in ein solches Bild.

Warum erscheinen nun die IS-Frauen-Brigaden gerade jetzt wieder auf der Bühne? Etwas hat sich verändert im Verlauf des letzten Jahres. Die Erfolgsstory der radikalen Islamisten des IS hat nicht nur einen Bruch bekommen, sie scheint sich langsam in ihr Gegenteil zu verkehren. Die Verluste nehmen zu, das Geld geht aus, die Löhne werden nicht gezahlt, das Territorium schrumpft... (12) Eine langsam sichtbar werdende Schlinge scheint sich Zug um Zug um diesen gedachten und deklarierten "Islamischen Staat" zu ziehen. Denn im Unterschied zu Al-Qaida hat der "Islamische Staat" für ISIS nicht nur eine symbolische Bedeutung. Es ging diesen radikalen Islamisten immer auch um die Entwicklung eines realen Staatsgebildes mit dem Anspruch, wie ein Staat zu handeln, mit Rechten und Pflichten sowie brutaler Gewaltausübung gegenüber der Bevölkerung des besetzten Territoriums. Diesen Staat gilt es nun nicht nur nach aussen zu verteidigen, sondern auch vermehrt nach innen zu schützen. Denn ein Staat – mag er auch noch so imaginär sein – der seinen versprochenen Pflichten nicht nachkommen kann, ist doppelt angreifbar. Das bereitet Sorge. Hierzu ist viel zu lesen in den letzten Wochen. Da werden angebliche Deserteure des ISIS durch den ISIS selbst getötet. Da werden ISIS Kämpfer in Frauenkleidern aufgegriffen, beim Versuch sich abzusetzen. Da wird geklagt über ausgefallenen Lohn und Mittelknappheit. All das bleibt auch bei der Bevölkerung im besetzten Territorium nicht unbemerkt.
Muss da nicht auch ISIS verstärkt damit rechnen, dass der Traum vom "Islamischen Staat" der Wirklichkeit weichen wird, und die Realität bald eine ganz andere sein könnte, als das der Bevölkerung in Teilen von Syrien und Iraq übergestülpte Staatskonstrukt? Der mögliche baldige Fall von Mosul wird von Analysten bereits als der Anfang des Falls vom ISIS Kalifat gesehen (13) Und auch das Verhalten der Kämpfenden wird in diese Richtung gedeutet: "ISIS is no longer behaving like an 'army', neither has returned to 'hit-and-run' tactics. It is 'hit-and-die' tactic." spöttelt Elijah J. Magnier auf Twitter. (14)

Werden sie daher wieder mehr und jetzt ganz besonders gebraucht, diese Brigadistinnen, in den Gebieten, die noch nicht vom "Feind" rückerobert sind? Sollen diese meist ausländischen Frauen in den Brigaden mögliche Rückzugsgebiete für die Familien der IS-Kämpfer besser absichern?
Und wenn ja, gegen wen? Vielleicht wirklich gegen eine den radikalen Islamisten mittlerweile feindlich gesinnte Bevölkerung, die sich zur Wehr setzen könnte, je mehr sich der Machtschwund der sie beherrschenden ISIS-Kämpfer bemerkbar macht?

Was aber wird dann geschehen mit all den Frauen und Kindern und insbesondere mit den Familien der ausländischen Kämpfer, wenn sich das Blatt jetzt langsam wendet? Über 31.000 Frauen seien gegenwärtig im Territorium des IS schwanger, so beschreiben Forscher der Qulliam Foundation die Situation. (15) Und nicht alle von ihnen sind überzeugte ISIS Angehörige, viele von ihnen wurden "erbeutet" oder "überzeugt". Und was würde passieren mit den Ausländerinnen aus den Brigaden, überall verhasst und gefürchtet aufgrund ihrer Brutalität?

Es wird viel geschrieben über die "Ausländer" im IS. Welche Positionen sie im Kalifat erlangt haben, wie beispielsweise der Deutsch-Ägypter Reda Seyam, der es bis zum Bildungsminister der Stadt Mosul schaffte. (16) Aber auch, wie sie vorgeschickt werden als "Kanonenfutter" im Kampf gegen die "Ungläubigen". Was würde wohl in einer sich verändernden Situation dann mit den Ausländerinnen passieren? Ohne das Konstrukt eines IS mit seinen festgelegten Verhaltensmassregelungen wären diese plötzlich Fremde in einem ihnen unbekannten Land, dessen nationale und regionale Besonderheiten sie nicht kennen. Und ohne ihre sich in die Luft gesprengten Ehemänner wären sie mit ihren Kindern auf sich selbst angewiesen in einer ihnen plötzlich offensiv gegenübertretenden feindlichen Umwelt. Und das alles ohne einen für sie sorgenden Islamischen Staat, der sich möglicherweise bereits in Luft aufgelöst hat. Denn der IS ist ein imaginäres Staatsgebilde auf dem Territorium zweier Staaten und als seine "Angehörigen" können sie nicht darauf hoffen, weiterhin als Bewohnerinnen eines der beiden Länder gesehen zu werden.

Eines sollten die Jihadistinnen daher bedenken, implodiert dieses Staatsgebilde, kehrt die Buntheit der regional kulturellen Vielfalt der Bevölkerung zurück. Und auf der anderen Seite stehen dann "die Ausländerinnen " als Mitglieder oder Kollaborateurinnen eines unterdrückerischen religiösen Wahnsystems. Und ohne ihre schwarzen Gewänder sind sie dann plötzlich sichtbar, als Ausländerinnen, in einem Staat, dessen Bewohnerinnen und Bewohner niemals vergessen werden, was ihnen angetan wurde. Dieser Tag wird kommen. Und dann wird man ihnen sicher nicht erlauben, ihre bizarren Ideen vom einem Leben im Paradies in die Tat umzusetzen. Ich denke, man würde ihnen gebieten zu leben, unter den dortigen Bedingungen, bis nicht sie, sondern Allah das Ende ihrer Tage auf Erden bestimmt.

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Ergänzend hierzu ein Text von Jasmine Opperman: From the home front to the frontline: The role of women in Islamic State vom 17.2.2016 aus Daily Maverick

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Eine Frau kämpft – "Mein Sohn will nach Syrien!" – Teil 4


Wie ich Deiner Erzählung entnehme, hat Dein Sohn dann doch einen anderen Weg eingeschlagen, als es eine Zeitlang erschien. Er hat wieder Distanz zu den Salafisten bekommen. Wie bist Du damit umgegangen?

Naja, ich habe ihm erst einmal überhaupt nicht getraut. Keinen Meter (lacht). Es bestanden damals ja auch noch viele Kontakte zu den Salafisten. Und dann kamen ja auch immer wieder Freunde aus Syrien zurück. Diese Kontakte fand ich weiterhin sehr schwierig für mich.


Er hat also Freunde, die in Syrien gewesen und zurückgekommen sind. Hatten die denn immer noch die gleiche Einstellung wie zur Zeit ihrer Ausreise?

Ja, ich denke die meisten schon, egal, was sie dort in Syrien alles erlebt haben. Es sind nur wenige dabei, die ihre Einstellung grundlegend geändert haben. Bei meinem Sohn hat diese radikale ideologische Einstellung abgenommen, bei den anderen denke ich jedoch nicht.

Und als diese dann bemerkt haben, dass mein Sohn nicht mehr so richtig mitmacht, dann haben sie sich auch immer mehr von ihm zurückgezogen.

Ich nehme an, sie haben ihn dann etwas belächelt und als einen Weichling gesehen. Das mag kein Mann gerne hören, so dass er sich selbst dann auch von ihnen abgekapselt hat. Und hat sich wieder mehr auf seine Arbeit konzentriert und mehr mit seinen Arbeitskollegen unternommen. Es war also ein beiderseitiger Entfremdungsprozess, der da stattgefunden hat. Und es ist noch etwas passiert, von dem ich annehme, dass es ihn letztendlich gerettet hat. Er hat sich verliebt.

Das ist manchmal doch auch eine Chance. Frauen können Einfluss auf die Lebenswege von Männern haben, auch wenn das von diesen nicht so gerne zugegeben wird.

Das ging damals relativ schnell. Wir haben das Mädchen kennengelernt und auch bald in der Familie um ihre Hand angehalten und die Verlobung gefeiert.

Hat er sich in der Zeit davor denn etwas verändert? Du hast zum Beispiel davon gesprochen, dass er so sehr auf sein salafistisches Aussehen geachtet hat.

Etwas hatte sich da schon verändert. Aber seinen Bart, den hat er sich nicht abgenommen. Ich glaube, dazu war er zu stolz, das hätte nach aussen zu sehr als ein Rückzieher ausgesehen. Und seine Einstellung ist auch weiterhin sehr religiös.

Wie kommt die andere Familie mit seiner Einstellung klar?

Diese Familie ist selbst sehr religiös eingestellt, allerdings überhaupt nicht radikal. Sie haben ihn so akzepetiert. Allerdings hat das Mädchen ihm doch einige kritische Fragen gestellt und ihm zu verstehen gegeben, dass sie nicht vorhabe, mit einem Radikalen ihre Zeit zu verschwenden.

Sie hat ihm ganz offen gesagt, dass er mit seinen radikalen Ideen bei ihr keine Chance hätte?

 Genau so. Eine solche Haltung akzeptiere sie nicht.

Hattest Du nicht erst einmal die Idee, er könnte ähnlich handeln, wie zuvor? Erst einmal still zu halten, um dann nach der Hochzeit auf seiner Haltung zu bestehen?

Nein, ich denke, er hat schon bemerkt, dass er bei dem Mädchen sonst keine Chance gehabt hätte. Es ist interessant, im Grunde hat er sich einen Typ Frau ausgesucht, die ebenso stark ist wie seine Mutter. Ich dachte immer das Gegenteil, dass er sich eher einen schwachen Typ aussuchen würde, ein Mädchen, das er lenken und auf seine Ideen einschwören könne. Aber genau das Gegenteil ist passiert.

Ich glaube aber, dass sich sein Denken selbst verändert hat. Vielleicht war es ihm auch ganz willkommen, so tun zu können, als gäbe er sein Verhalten wegen mir auf. Ich hatte aber schon das Gefühl, er suchte nach einem Weg, wie er sich von dem Ganzen lösen könne. Da war ihm mein Verhalten ganz willkommen.

Du meinst er habe sein Gesicht vor den Salafisten dadurch nicht verloren, weil diese es selbst so wollten, damit Du aufgibst, gegen sie vorzugehen?

Ich denke, dass es so gewesen ist.

Meinst Du, dass er durch dieses Vorgehen zu einer wirkliche Lösung für seinen inneren Zwiespalt gekommen ist?

Nein, es war sicherlich erst einmal keine Lösung seines Zwiespaltes. Aber es war eine Entscheidung, die sich aufgrund verschiedener Umstände und Ereignisse dann so zu einer Lösung entwickelt hat. Dadurch dass er versucht hat, mich in Schach zu halten, kamen wir uns wieder näher. Er musste mich besuchen und musste mir gut zureden. Und dann hat er seine kleine Schwester ja auch wieder öfter gesehen. Das hatte ich ihm ja erst einmal verboten, nachdem mein Mann ihn rausgeworfen hatte. Ich denke, das alles hat ihn dann doch wohl überzeugt, dass die Liebe zu seiner Familie ihm wichtiger war, als seine Liebe zu den Salafisten und dem Kampf in und um Syrien.

Lass uns einem Moment bei dem Thema Liebe bleiben. Ich habe das Gefühl, wenn wir Frauen wirklich lieben, dann gibt es für uns keine Grenzen. Ich denke, wäre Dein Sohn gegangen, würdest sogar Dein eigenes Leben aufs Spiel setzen, um zu versuchen, ihn aus dieser Kriegssituation wieder herauszuholen.

Ja, das würde ich. Und dieses Liebesgefühl, das ist für mich ganz wichtig. Und ich glaube dieses Gefühl hält auch eine Familie erst zusammen. Ich habe meine Liebe niemals verheimlicht. Ich habe sie immer gezeigt, auch körperlich mit viel Zärtlichkeit und Emotionalität. Ich habe auch viel geweint, wenn mir danach war. Und ich habe auch immer versucht, alles einzuhalten, was ich versprochen habe. Ich war immer für die Familie da.

Ist das denn ein ganz spezifisch weibliches Gefühl, diese altruistische Liebe für die Anderen, das Dir die Kraft gegeben hat, so um Deinen Sohn zu kämpfen?

Ich denke schon. Ich denke die Liebe, die mein Mann gibt, ist eine andere und nicht so ausschliesslich und sichtbar. Und auch bei meinem Sohn ist Liebe etwas anderes, als nicht so ausschliesslich und auch sehr unterschiedlich zum Vater, zu den Geschwistern ... Aber die Mutter, ich glaube die Mutter die hat oberste Priorität. Das habe ich bemerkt, als mein Vater plötzlich gestorben ist. Da hatte ich überhaupt keine Kraft mehr. Und sofort hat sich mein Sohn ganz intensiv um mich gekümmert. Er hat mich nicht allein gelassen. Er hat bemerkt, ich brauche ihn. Vielleicht hat das auch mit dazu beigetragen, dass er seinen Platz wieder in der Familie gefunden hat. Wer weiss.

Ihr habt Euch also Schritt für Schritt wieder aneinander angenähert? Ist er dann auch wieder zu Euch in die Wohnung gezogen?

Nein. Wir haben eine Wohnung für ihn gesucht, in der Nähe. Ich habe ihm ganz klar gesagt, es gibt keinen Platz mehr bei uns. Du machst jetzt deinen Weg, du bist jetzt erwachsen. Und das wollte er dann auch.

Hattest Du da nicht Sorge, dass er wieder den anderen Weg einschlagen könnte?

Ich denke, eine Zeitlang war das noch so. Die Erfahrung und der Schrecken saßen doch sehr tief. Beenden konnte ich das Kapitel für mich durch zwei Ereignisse. Das erste war, als mein Sohn mir den Schlüssel zu seiner Wohnung übergab, um einen Reserveschlüssel zu haben. Das zweite Ereignis ist noch gar nicht so lange her. Eines Tages teilte mir die Polizei nämlich mit, dass das Thema für sie erledigt sei und sie meinen Sohn nicht mehr beobachten würde. Erst dann war ich glaube ich wirklich frei. Ich merke aber doch, dass durch diese Erzählung hier vieles wieder hoch kommt und ich noch einige Zeit brauchen werde, bis ich das alles wirklich verarbeitet habe.

Wenn ich jetzt auf Deine Erzählung blicke, so war es in diesem Konflikt nicht der Vater in der Familie, der nach außen agiert hat und sich in die Öffentlichkeit begeben hat und der offen um seinen Sohn gekämpft hat, sondern das bist Du gewesen. Diese Stärke wird Frauen ja oft abgesprochen und ein solches Verhalten wird ihnen untersagt. Bist anders, als die Frauen in Deiner Umgebung?

Ich denke nicht, ich denke, vielleicht scheint das nur so. Bei uns heisst es "Das Paradies liegt unter den Füssen der Mutter." Also musst du sie ehren, denn eine Mutter verflucht auch, und das wünscht sich kein Sohn. Und das gibt den Müttern auch Macht. Und die habe ich eben benutzt, diese Macht. Für mich, für meinen Sohn und für die Familie.

Du hast erzählt, Du warst nicht die einzige in der Region, die solche Sorgen mit ihrem Sohn hatte. Gab es da einen Zusammenschluss und einen Zusammenhalt unter Euch Frauen?

Eigentlich nicht. Wir sind doch sehr verschieden. Jede Mutter hat ihre eigene Strategie. Es gibt sogar Mütter, die sind stolz auf das Verhalten ihrer Kinder und unterstützen das noch. Es gibt Mütter, über die ich nur den Kopf schütteln kann, wenn sie mir erzählen, dass es richtig ist, wenn ihr Sohn für den Jihad stirbt. Es gibt Mütter die schwach sind, und die nichts bei ihren Kindern erreichen. Die würden aber auch nicht so wie ich auf die Strasse gehen, das wäre ihnen peinlich. Sie fühlen sich eher ihrer Familie und ihrer Sippschaft verpflichtet, hinter der sie sich dann verstecken, damit die Familie durch sie ja nicht negativ auffällt. Oder ich bin als Verräterin beschimpft worden, weil ich mich der Polizei anvertraut habe. Mittlerweile ist es nur noch eine Mutter, mit der ich mich noch heute regelmässig treffe und mich austausche. Die hat einen noch sehr jungen Sohn, der wieder aus Syrien zurückgekommen ist. Die ist aber auch so radikal, beim nächsten Mal würde die ihm wohl sofort hinterher reisen. Und ich glaube, das verschafft uns bei unseren Söhnen auch Respekt, dass wir so um sie kämpfen. Und sie haben irgendwo auch Angst vor uns, dass wir es öffentlich wahrmachen, was wir ihnen androhen. Und was ist heute? Heute haben unsere Jungs selbst Angst um ihre jüngeren Geschwister und passen jetzt sogar genau auf, dass denen nicht das Gleiche passiert!

Das Wichtige ist für mich nun, was gibst Du aufgrund Deiner eigenen Erfahrungen nun anderen Müttern mit auf den Weg, die sich in einer ähnlichen Situation befinden?

(wird fortgesetzt)
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Auch Väter kämpfen: 37 Grad - Verlorene Söhne, eine Dokumentation des ZDF


Eine Frau kämpft – "Mein Sohn will nach Syrien!" – Teil 3

Du hast Deinem Sohn gesagt, wenn er die Salafisten als seine neue Familie ansehen würde, dann solle er gehen und nicht mehr wiederkommen. Seine Familie habe er dann aber verloren. Wie hat er darauf reagiert?  

Er ist geblieben. Ich glaube es war die Liebe seiner Familie, die ihn hat überlegen lassen, doch wieder in die Normalität zurück zu kommen. Ich denke aber, er war noch sehr hin- und hergerissen zwischen dem Extremismus und seinem normalen Leben. Denn das war noch lange nicht das Ende von der Geschichte. Es hat ihn doch noch eine ganze Weile immer wieder zurückgezogen in diese "andere Welt". Ich habe dann aber angefangen, ihm auf eine andere Weise zu zeigen, dass mir das nicht gefällt. Ich bin ihn nicht mehr so direkt angegangen.

Was hast Du anders gemacht?

Naja, immer wenn es Proteste gegen die Salafisten in unserer Gegend gab, da war ich dann vorne mit dabei. Und das war gar nicht so einfach für mich, denn so etwas war ich ja gar nicht gewöhnt.

Bist Du da dann auch wieder alleine hingegangen?

Nein, diesmal nicht. Ich habe meinen ganzen Freundes- und Bekanntenkreis mobilisiert. Und auch die anderen Mütter, die ich mittlerweile kennengelernt hatte. Besonders mit einer, deren Sohn noch minderjährig ist, habe ich mich angefreundet. Denn nachdem die Sache mit meinem Sohn bei uns bekannt geworden war, haben mich plötzlich etliche Mütter angesprochen und mir ihre Sorgen erzählt. Es gab ja auch Mütter, deren Kinder nach Syrien gegangen sind. Die hatten ganz andere Sorgen als ich. Aber irgendwie hatten wir doch alle was Gemeinsames, nämlich die Angst um unsere Kinder.

Du sprichst immer von Deinem Kind. Aber Dein Sohn ist bereits ein erwachsener Mann, oder?

In dem Moment ist es mein Kind, wenn er so fremdgesteuert ist. Und das hab ich ihm auch immer vermittelt. Ich glaube, irgendwann hat er verstanden, was ich meine, wenn ich immer wieder gesagt habe, wage dich nicht mehr zu diesen Veranstaltungen, ich werde auch da sein, und ich krieg dich, ich hol dich da raus.

Und Du bist dann wirklich zu Protestveranstaltungen und Demonstrationen gegangen?

Ja, und solche Demonstrationen waren für mich, aber auch für die anderen Mütter eine ganz neue Erfahrung. Diese Proteste, alle Parteien waren vertreten, von den Grünen bis hin zur NPD. Das war schon ein komisches Gefühl für mich, zusammen mit der NPD gegen etwas zu sein. Ds war damals auch irgendwie merkwürdig, so als würden die Salafisten vor uns, vor den Demonstranten geschützt. Manchmal gab es richtige Absperrungen gegen uns. Und neben uns dann die NPD, man wurde richtig eingekesselt von denen und vor uns, neben uns lauter fremde Leute ... viele mit Trillerpfeifen. Ich auch (lacht).

Und wir Mütter haben dann andauernd geguckt, ob wir nicht doch unsere Kinder irgendwo sehen. Und es gab auch Mütter, die hatten Angst um ihre ziemlich jungen Kinder, wenn einer schon in Syrien war, dann hatten sie Angst, dass nun vielleicht auch noch der zweite auf diese schiefe Bahn kommen könnte. Übrigens war es interessant, dass uns besonders die Konvertiten total böse angeblickt und dumme Sprüche gegen uns von sich gegeben haben. Es gab auch manchmal aufregende Situationen, wenn eine Mutter ihr Kind dann doch gesehen hat. Da war die Polizei aber doch manchmal hilfreich und hat sie durch die Absperrung gelassen, damit sie ihr Kind da rausholen kann. Es war eine verrückte Zeit, manchmal sind wir hinter den Kindern richtig hinterher gehechtet und haben sie eingefangen. Wir haben uns verteilt und uns gegenseitig mit unseren Handys informiert, wenn jemand ein Kind gesehen hat. Und dann haben wir versucht, die zu erwischen. Einmal, das werde ich nicht vergessen, hat ein Paar auf einen jungen Mann eingeredet, er solle mit nach Hause kommen, aber er war so störrisch und hat sie beschimpft. Ich stand direkt daneben. Und irgendwann hat die Frau den jungen Mann losgelassen und hat mit Tränen in den Augen gesagt "dann geh, mach was du willst, du bist frei, aber dann komm auch nie zurück". Und der junge Mann ist dann abgehauen. Auch der Mann hat geweint. Es war eine schlimme Zeit für uns alle, die wir betroffen waren.

Und Du hast das wirklich alles durchgehalten?

Ja, überleg mal, das waren mehrere Jahre. Ich glaube mein Sohn hat auch mit deshalb irgendwann aufgegeben, weil er kapiert hat, diese Frau gibt einfach nicht auf!

Aber ist das nicht eigentlich für den anderen eine unstimmige Sache, wenn er von etwas eigentlich überzeugt ist, dies wegen seiner Mutter aufgibt und nicht aufgrund seiner eigenen Überzeugung? Vielleicht hat er dann lediglich gedacht, gegen die bin ich halt machtlos, die rennt mir ja bis nach Syrien hinterher. Ist das dann nicht eher nur ein Stillehalten und Abwarten auf die nächste Gelegenheit, um dann zu entwischen?

Ja, ich habe ihm gedroht, selbst in Syrien erwische ich dich, ich hol dich zurück! Aber damit war ich nicht allein, da waren noch mehr solche Mütter wie ich es bin. Die waren genauso radikal wie ich. Und vielleicht haben die Jungen dann auch überlegt, wenn unsere Mütter jetzt alle so zusammen sind, gegen die haben wir dann keine Chance mehr. Vielleicht war das wirklich der erste Auslöser, sich wieder etwas von den salfistischen "Freunden" zurückzuziehen. Wir Mütter haben uns gegenseitig richtig abgesprochen, was wir tun und haben uns gegenseitig gestützt. 

Ihr seid schon beeindruckend starke Frauen! Aber wie ist es dann mit Deinem Sohn weitergegangen? Du hast gesagt, er sei wieder zu Euch zurückgekommen.

Ja, ich habe ihm aber überhaupt nicht getraut. Und ich denke heute, die Moschee wollte ihn damals einfach nicht mehr haben.

Wie kommst Du darauf?

Naja, es war doch sehr offensichtlich, dass er mich davon überzeugen wollte, er würde plötzlich dort nicht mehr hingehen. Das war schon sehr merkwürdig, so plötzlich. Ich denke, die wollten ihn nicht mehr. Es war ihnen zu viel mit den Söhnen dieser radikalen Mütter. Und sie haben ihm vielleicht gesagt, geh mal nach Hause und beruhige die erstmal wieder.

Du meinst, sie wollten wieder Ruhe um die Moschee und da verlieren sie lieber Deinen Sohn als einen potentiellen Jihadisten, damit der Moschee nicht zu viel Aufmerksamkeit gewidmet wird?

Ja, genau so.

War Dein Sohn da nicht beleidigt, dass so mit ihm umgegangen wurde?

Ich denke, dass man ihm das nicht offen gesagt hat, man wolle ihn nicht mehr, sondern ihm halt als Aufgabe gestellt hat, die Mutter wieder zu beruhigen, denn bei den anderen radikalen Müttern war es ähnlich. Ich glaube, er hat es damals gar nicht begriffen, dass sie ihn nicht mehr haben wollten. Ja und dann war plötzlich alles anders, er war wieder lieb und ruhig.

Wann war das ungefähr?

Das ist jetzt schon über zwei Jahre her.

Und war dann für Dich plötzlich alles wieder in Ordnung?

Nein, überhaupt nicht. Ich hab ihm nicht getraut, und er hat auch ein doppeltes Spiel gespielt. Ich denke, er ist damals weiterhin in die Moschee gegangen. Freunde haben ihn imer mal wieder gesehen und mich natürlich sofort informiert. Und das hab ich ihm dann auch gesagt. Und da hat er wohl irgendwann die Krise gekriegt, weil er gemerkt hat, egal was er macht und tut, es kommt raus. Immer wieder hat er überlegt, wo ich die ganzen Informationen über ihn herkriege. Einmal hat er mich angeschrien, "machst du jetzt einen auf FBI oder was?!" Diese Kontrolle, die hat ihn total fertig gemacht.

Du hast ja zu der Zeit dann wohl auch nichts anderes mehr tun können, als Dich um ihn zu kümmern, oder?

Ja, bis die Tochter dann irgendwann mal gesagt hat, Mama, mich gibt's auch noch. Und unsere Ehe ist fast daran zerbrochen, da er mich gegen meinen Mann ausgespielt hat.

Wie hat er das gemacht?

Er hat einfach Dinge über mich erzählt, die ein türkischer Mann nicht so gerne hört, und wenn mein Mann nicht so viel Vertrauen zu mir gehabt hätte, dann wäre es bestimmt schief gegangen.

Hat Dein Mann Dir geglaubt? obwohl, ich denke, er hatte ja auch ein großes Interesse daran, dass die Sache mit seinem Sohn wieder in Ordnung kommt.

Ja, klar, und er hat mir vertraut, dass ich den richtigen Weg schon gehen würde. Er wusste auch, dass ich in diesem Fall als Mutter mächtiger war, als er selbst. Er kommt als Mann zwar in bestimmte Kreise eher rein und an viele Informationen eher ran als eine Frau. Aber bestimmte andere Informationen, die habe ich dann eben und er nicht. Mütter sprechen untereinander, informieren sich, geben Hinweise und helfen sich.

Aber wie kommen die Mütter denn an diese Informationen heran, wenn Du sagst, eigentlich ist es mehr der Mann, der alles erfährt?


Das sind ganz verschiedene Informationen. Beim Mann sind es mehr rationale Sachen. Bei den Frauen ist es mehr das Gespür, dem sie nachgehen und durch das sie an die Informationen herankommen. Frauen haben mehr Sensoren, um etwas zu bemerken. Sie bemerken Veränderungen weitaus schneller. Als mein Sohn zum Beispiel anfing, diese blöde Hose anzuziehen, so eine Haremshose, das hat mein Mann überhaupt nicht bemerkt, bis ich es mal laut angesprochen habe. 

Und so haben wir dann begonnen, uns nach seiner Rückkehr in die Familie langsam wieder aneinander heranzutasten, jeder auf seine Weise. Das war ein nicht einfacher Prozess.

Eine Frau kämpft – "Mein Sohn will nach Syrien!" – Teil 2

Du hast von Deiner Wut gesprochen, als Du die Entwicklung Deines Sohnes, hin zum religiösen Extremismus erkannt hast. Auf was warst Du so wütend?

Erstmal auf die Religion und natürlich auf diese Moschee. In ihr ist übrigens auch ein deutscher Imam. Und das machte mich noch wütender. Wir als die gebürtigen Moslems waren für die nicht religiös genug! Und ein Deutscher muss meinen Sohn auf die schiefe Bahn leiten! Ich hab gedacht, wieso kann der mehr Macht haben als ich, als seine Mutter, ich mit meiner vielen Liebe? Und das hat mich besonders wütend gemacht, weil der glaubte, meinen Sohn eher leiten zu können, als ich das konnte. Und ich habe natürlich auch Angst gehabt, dass mein Sohn alles hinschmeisst und wirklich ausreist. Aber Vorwürfe habe ich ihm eigentlich nie gemacht. Ich bin ganz offen damit umgegangen, nicht nur ihm gegenüber. Alle, die es wissen wollten, denen habe ich es erzählt und ihnen gesagt, passt auf eure Kinder auf! Dabei bin ich natürlich auch sehr viel angeeckt und habe auch viel Diskriminierung erfahren. Manche haben sogar die Strassenseite gewechselt, wenn sie mich sahen, weil ich ja jetzt die 'Salafistenmutter' war.

Das heisst Du hast es selbst öffentlich gemacht in Deinem Bekanntenkreis?

Ja klar, überall Schule, Verwandtschaft, Freunde ...

Wie hast Du das gemacht?

Naja, er kam ja auch oft seine kleine Schwester von der Schule abholen. Und da hat man mich dann mal gefragt, was denn mit ihm los sei, sein Bart und sein sonstiges Aussehen. Und da hab ich schon geantwortet, ja das stimmt. Und dann wussten sie Bescheid.

Stimmt, Du hast von der Veränderung seines Äußeren berichtet, klar dass das dann auch aufgefallen ist.

Ja und da hab ich dann gesagt er sei im Moment auf einer schiefen Bahn und ich hätte einen Kampf mit meinem Kind, er verleugne uns, und er verachte mich. Das hat er dann ja auch gesagt, ich bin 'ne komische Mutter und nicht wie ein Moslem, sondern wie ein Christ, also aus seiner Sicht nichtgläubig und Nichtgläubige könne man töten. Und eine Zeitlang hab ich auch wirklich darüber nachgedacht, ob er auch mir etwas antun könnte.

Was hast Du ihm denn in solchen Situationen geantwortet?

Ich? Ich bin in die Küche gegangen, hab ein Messer geholt und hab gesagt DA BITTE!
Ja, ich war wirklich richtig krass. Aber wie sollte ich denn sonst mit ihm umgehen? Mit gut zureden war da ja irgendwann nix mehr. Es war irgendwie als käme er mit einem Koffer voller Argumente nach Hause: Wenn Mutter das sagt, dann musst du so argumentieren, wenn Vater das sagt, dann musst Du damit argumentieren ... Das waren niemals seine eigenen Worte. Und einmal – mein Mann hatte noch niemals die Hand gegen ihn erhoben – einmal, als er uns wieder einmal die Scharia schmackhaft machen wollte und mich dann wieder so beleidigt hat und mir Vorwürfe gemacht hat, da hat er ihn verprügelt, aber wie! Und das vor meinen Augen. Das war für ihn wirklich entwürdigend. "Du willst die Scharia, mein Sohn", hat er ihn angeschrien, "dann fühle mal, wie sie dir schmeckt." Und dann hat er ihn rausgeschmissen, mein Mann. Das ist dann eskaliert, und dabei sind sogar einige Möbel kaputt gegangen. Die Scherben sind in der Wohnung rumgeflogen. Fenster, Balkontür kaputt ... Ja, alles zerschlagen!

Was hat er dann gemacht, als er bei Euch rausgeflogen ist?

Er ist zu einem Arbeitskollegen und hat dort mit in dessen Wohngemeinschaft gewohnt. Aber ich habe mich sehr unwohl gefühlt, weil er jetzt weg war, und ich nicht wusste, was er jetzt macht. Und dann, als ich gar nicht mehr konnte, da hab ich mir einfach Hilfe geholt.

Hilfe? Woher hast Du die bekommen?
Ich bin zur Polizei gegangen und habe erzählt, was ich wusste.

Das war sicher keine einfache Entscheidung. Was wolltest Du von der Polizei, und wie ist man dort mit Dir umgegangen?

Ich hoffte, dass sie mir Wege zeigen, wie ich mit meinem Kind umgehen soll. Ich wollte nicht, dass es immer mehr ausartet und sie ihn vielleicht irgendwann mal einsperren. Es gab dort Leute, die sind auf so etwas spezialisiert. Die haben mir Tips gegeben, wie ich mich verhalten soll. Und ich habe der Polizei eigentlich auch nur gesagt, welche Sorgen ich habe. Mehr musste ich gar nicht erzählen, die wussten selbst schon alles. Von ihnen habe ich eigentlich auch erfahren, wie es in der Moschee zugeht, dass dort versucht wird, ein ganz enges Gemeinschaftsverhältnis entstehen zu lassen, damit die Jugendlichen immer mehr an sie gebunden werden. Die Polizei hat mir Details gesagt, und da habe ich gesehen, dass die mir wirklich helfen und mir nicht schaden wollen. Das hat mir gut getan, und ich habe Vertrauen entwickelt. Ich hab dann auch andere Mütter gewarnt, von denen ich wusste, dass mein Sohn mit deren Kindern herumgezogen ist.

Du dachtest erst, dass diese staatlichen Stellen Dir eventuell schaden können?

Naja, weil ich das doch mein Leben lang so erlebt und gefühlt habe. Eigentlich überall, von der Grundschule bis ins Gymnasium und bei der Berufsausbildung, immer habe ich diese Selektion erlebt, hier die und da ich, "die Andere". Egal, wie "integriert" ich mich auch verhalten habe.

Du hast im Grunde schlechte Erfahrungen mit Behörden gemacht und hast Dich dann aber doch an sie gewandt? Da muss Deine Verzweiflung groß gewesen sein.

Ja total schlechte Erfahrungen! Zum Beispiel als ich eine Wohnung gesucht habe, da hat sich der Beamte noch nicht mal nach mir umgedreht und hat lediglich gefragt, ob ich wüsste, wie viele gerade eine Wohnung suchen, und zuerst würden die Deutschen eine bekommen, und dann kommt "ihr". Solche Aussagen musste ich mir anhören. Und zwar oft. Und immer wurde ich geduzt, egal, wie alt ich geworden war. Also, ich habe ein absolutes Misstrauen den deutschen Behörden gegenüber. Aber es war auch umgekehrt, dass ich einstecken musste. Entweder heisst es, oh, du bist aber verdeutscht, oder es heisst, Sie sprechen aber gut Deutsch. Beides ist irgendwie ausschliessend und diskriminierend. Das macht einen auf Dauer misstrauisch den Menschen gegenüber.
Genau das hat mein Kind aber auch erlebt! Ich selbst konnte damit ganz gut umgehen. Ich habe früh gelernt, dass ich immer mehr tun musste, als die anderen. Und meinen Kindern habe ich auch immer beigebracht, man kann noch so integriert ein, man kann deutsche Freunde haben, aber glaubt ja nicht, dass man dazugehört.
Und die Kinder haben ja auch gesehen, welche Erfahrungen ich gemacht habe in meinem Leben. Einiges haben sie sicher mitgekriegt. Und ich denke – und das ist auch der wunde Punkt bei meinem Sohn – diese Selektion haben sie auch erfahren, und zwar noch schlimmer als ich. Und das hat ihn so angewidert, das kam dann später immer mehr raus, in seinen radikalen Sätzen, wie "so gehen die deutschen Christen mit uns um". Er hat sich richtig ein religiöses Feindbild geschaffen.
Aber man kann gegen Diskriminierung auch Strategien entwickeln und sich dadurch auch für das Leben stärken. Man kriegt das Leben nicht auf einem Silbertablett serviert, man muss immer kämpfen. Immer! Und wenn dann etwas gelungen ist, es es umso schöner.

Ja, aber es gibt eben auch die andere Strategie, die der Abschottung und der Kultivierung des Hasses gegen die dominanten Strukturen so dass man so eben solch einen Hass bekommt und ihn so auslebt wie Dein Sohn.

Ja, seine Strategie war es, sich so ein Feindbild zu schaffen. Das waren die Christen, die Ungläubigen und gegen die könne man laut der islamistischen Ideologie nicht nur etwas tun, sondern gegen die müsse man etwas tun, nämlich diesen von der Ideologie vorgeschriebenen Kampf gegen die Ungläubigen auch wirklich führen.

Lass uns noch einmal zurückgehen zu den Hilfen, die Du Dir geholt hast. Wieso bist Du überhaupt auf die Idee gekommen, Dir Hilfe zu holen.

Naja, ich hab gedacht, ich habe keine Möglichkeit mehr, keine Macht mehr über mein Kind. Und ich hab Angst gehabt.

Hast Du nicht erst versucht, mit der Familie und den Verwandten zu reden?

Klar hab ich das, habe sie alle zusammengetrommelt, sogar die Freunde. Aber das hat ja überhaupt nix gebracht. Egal was die geredet haben, er hat niemanden mehr respektiert.

Habt ihr das alle zusammen gemacht?

Jaja, jeder für sich und alle zusammen. Der Bruder meines Mannes hat ihn zur Brust genommen und hat ihm gesagt, das gehe so nicht, er könne sich Vater und Mutter gegenüber nicht so beleidigend verhalten. Aber er hat nur geantwortet, er hätte ihm gar nix zu sagen.

Habt ihr auch so eine Art Familienrat abgehalten?

Klar, haben wir, und zwar nicht nur einmal. Der Bruder meines Mannes, der der Älteste ist und der auch mit unserer Familie am meisten befreundet ist, selbst den hat er beleidigt und ihm vorgeworfen, er hätte sich von den Deutschen den Kopf verdrehen lassen.

Und wie sind die Verwandten mit diesem Verhalten umgegangen?

Hilflos. Sehr hilflos. Weil es war ja einfach auch nichts zum Anfassen da. Er hatte ja kein Auto geklaut oder so, sondern es war halt einfach sein Denken und Verhalten und dass ich das in der Familie erzählt habe, es öffentlich gemacht habe. Und da haben sie dann halt alle gesagt, so geht das nicht, und sie hätte da schon auch ein Mitspracherecht ihm gegenüber. Das hat ihn übrigens erschreckt, als sie das gesagt haben.

Wieso hat ihn das erschreckt, das ist doch eigentlich in den Familien so. Oder?

Natürlich ist das so. Aber in der Situation war er nicht darauf vorbereitet. Er hatte keine Strategie, wie er damit umgehen wollte, und man hatte mit ihm halt wohl auch nicht über eine solche Situation geredet, was man macht, wenn plötzlich die geballte Verwandtschaft gegen einen auftritt.

Und was hat er in dieser Situation gemacht?

Er hat sich verdrückt, ist zu seinem Arbeitskollegen abgehauen. Aber während des Gespräches ist damals dann auch rausgekommen, wie genau er das im Kopf schon alles geplant hatte, und dass er weggehen wollte.

Und Du hattest dann erstmal gar keinen Kontakt zu ihm, als er weg war?

Nee, gar keinen.

Und wie hast Du das ausgehalten?

Gar nicht. Aber ich hab auch immer wieder über Freunde und Bekannte erfahren, was los ist. Hier kennt ja jeder jeden, und man kann eigentlich nix Unbeobachtes machen. Und ich bin dann oft auch heimlich zur Moschee gefahren und hab geguckt, ob ich ihn sehe. Die ganze Nacht habe ich davor gestanden in meinem Auto.

Hast Du ihn denn dann auch gesehen?

Ja.

Und?

Nix und. Ich hab da die Nacht gesessen und hab geheult. Ich konnte ja nichts machen. Freunde haben mir damals gesagt, ich sollte wegziehen mit der Familie. Aber was soll das? Dann geht er halt in die nächste Moschee, die gibt’s doch überall. Ich hab dann auch versucht, mit denen in der Moschee zu reden. Aber das ging überhaupt nicht, die haben mich noch nicht einmal reingelassen. Ach, das war eine Geschichte, die erzähle ich jetzt besser nicht! Das war eine harte Zeit, über die bin ich bis heute nicht weggekommen, damit bin ich immer noch nicht fertig.

Das heisst Du hattest dann wirklich keinen Kontakt zu ihm, hast ihn nur über diese Heimlichkeiten gesehen?

Ja. Aber irgendwann ging das halt nicht mehr, und ich bin dann eben zur Polizei gegangen.

Und was haben die Dir damals geraten?


Naja, ich soll die Finger davon lassen und mich zurück halten. Aber ich habe so eine Wut gekriegt, dass ich mich selbst radikalisiert habe. Ich bin da raus und war so wütend. Ich hatte auf einmal solch eine Kraft und hab gedacht, jetzt oder nie, entweder nehmen die mir mein Kind jetzt weg, oder ich muss was machen. Ich hab alles öffentlich gemacht, und ich hab getobt und geschrien. Das erzähle ich jetzt lieber auch nicht. Aber es hat wohl gewirkt.

Wie, es hat gewirkt?

Naja, ich denke heute, so durchgedrehte Mütter, die sind halt doch störend, das ist dann doch aufallend, wenn da jemand so vor ihnen rumtobt. Da kann man dann halt nicht so in aller Stille rekrutieren. Und dann haben sie wohl meinem Sohn gesagt, er solle seine Mutter in Schach halten. Ich hab ja nicht nur vor der Moschee gestanden, ich hab mich ja auch lautstark bei Demonstrationen gegen die in die erste Reihe gestellt und getobt!

Allein?!

Ja, allein.

Hast Du niemandem Bescheid gesagt, was Du da machst?

Nein. Niemandem. Auch meinem Mann nicht, die hätten mich ja doch nur daran gehindert. Aber es hat wohl gewirkt, denn dann kamen die Anrufe. Anonym und wieder aufgelegt. Und immer wieder. Solche Angstmacherei. Ja, und dann kam auch irgendwann mein Sohn wieder und meinte, ich solle mich da raus halten, er werde da nicht mehr hingehen. Und dann hat es mit den anonymen Anrufen auch aufgehört. Heute glaube ich, ich habe die so provoziert, dass sie meinem Sohn gesagt haben, geh nach Hause und halte bitte deine Mutter in Schach. Aber als er dann wieder kam, da habe ich ihm ganz klar gesagt, jetzt entscheidest du dich. Entweder für deine Famile oder für diese andere Familie. Und wenn du denkst, die anderen sind deine neue Familie, dann bitte geh! Dann werde ich mich aber auch von dir verabschieden und möchte das dann auch offiziell machen. Dann geh und komm bitte nicht mehr wieder. Dann hast du uns alle verloren.

Das hast Du ihm gesagt?!


Ja, was sollte ich denn tun? Es war meine letzte Chance und ich hoffte, er liebt seine Familie und er bleibt.

(wird fortgesetzt)