Der
Wahlkampf in der Türkei liegt in seiner Endphase und aus deutscher Beobachterperspektive
verläuft vieles doch sehr anders als in Deutschland. Sicherlich ist auch hier
nicht alles wahr, was im Rahmen der Wahlpropaganda verkündet wird. Auch
Wahlversprechen sind zum Teil als offensichtlich unrealistisch einzuschätzen. Was
in Deutschland in dieser Direktheit jedoch nicht zu beobachten ist, dass ist
das Angreifen des Gegners in dieser Schärfe, wie es aus der Türkei zu
beobachten ist.
Hinzu kommt dort die beispiellose Kriminalisierung der HDP mit dem Versuch ihrer Schwächung bis hin zu ihrer Ausschaltung durch die Inhaftierung einiger ihrer wichtigen Akteure. Ich überlege, ob diese Furcht vor dem Anderen – in diesem Falle der HDP – nicht weitaus tiefer geht und weitaus mehr bedeutet, als nur eine Sorge vor dem eigenen Machtverlust seitens der AKP und ihrem ideologischen Führer Staatspräsident Erdoğan.
Hinzu kommt dort die beispiellose Kriminalisierung der HDP mit dem Versuch ihrer Schwächung bis hin zu ihrer Ausschaltung durch die Inhaftierung einiger ihrer wichtigen Akteure. Ich überlege, ob diese Furcht vor dem Anderen – in diesem Falle der HDP – nicht weitaus tiefer geht und weitaus mehr bedeutet, als nur eine Sorge vor dem eigenen Machtverlust seitens der AKP und ihrem ideologischen Führer Staatspräsident Erdoğan.
Ich denke, die größte Furcht vor
der HDP ist neben der AKP bei der MHP zu finden und nicht mehr so ausdrücklich
bei der CHP, wie es vielleicht noch vor ein paar Jahren gewesen wäre. Die CHP
ist heute demokratischer ausgerichtet. Diese Veränderung im Politikverständnis
haben die anderen Parteien bislang nicht erreicht, bzw. es ist von ihnen gar
nicht gewollt.
Ist
es die inhaltliche Ausrichtung der HDP, die da solche Sorgen bereitet? Ihr
demokratischer Politikansatz mit dem Blick auf Diversity und deren Anerkennung,
auf den wir in unserem ersten Gespräch verwiesen haben? Bereitet eben diese
Offenheit solche Angst, da eine Regierungsbeteiligung der HPD eine Veränderung
des Politikverständnisses und vor allem auch eine Veränderung der politischen
Praxis impliziert?
Ja, denn genau solche Veränderungen
will die AKP eben nicht. Und insofern ist es für sie eminent wichtig, die HDP
vor den Wahlen zu schwächen. Seit Juni wurden 22 Bürgermeister aus ihren Ämtern entfernt, weitere 20 wurden verhaftet und über 1.500 Mitglieder der HDP wurden vorübergehend festgenommen oder verhaftet. Vor allem sollen dadurch auch ihre potentiellen Wähler verunsichert
und ihnen ein Weg zurück zu den herkömmlichen Parteien gewiesen werden. Dabei wird an einer
besonderen Art von "Instinkt" bei
den Türken angesetzt. Die Türken mögen die Starken. Das Wort Türke bedeutet ja stark.
Die Türken haben da so eine Art Machtfetischismus.
Sie wollen immer gerne bei den Starken sein oder sich diesen anschliessen. Die
Unterdrückung der Schwachen erweckt also nicht nur ein Mitgefühl, wie man es in
Teilen der CHP gegenüber der HDP bemerkt, sondern es gibt immer auch die andere
Seite. Das ist die Bewunderung und Anerkennung von Stärke. Die AKP will durch Unterdrückung
und Abwertung der HDP diejenigen Wähler von der Partei abziehen, die sich mehr
an einer Politik der Stärke orientieren möchten. Und das gilt auch für die MHP
mit ihrer Duldung eines solchen Verhaltens.
Man
diskriminiert die HDP um bei den Wählerinnen und Wählern ein Gefühl zu
erzeugen, man könne diese Partei doch nicht wählen, da sie nicht zu denjenigen
gehören wird, die dieses Land mit Stärke regieren würde?
Genau. Das ist wohl der Gedanke,
der dahinter steckt. Denn die Wähler werden irgendwann mal sagen, die HDP ist war eine demokratische Partei, aber
Demokratie allein reicht nicht aus, um dieses Land zu regieren. Denn leider ist
eine demokratische Tradition hier in der Türkei nicht stark ausgeprägt. Bei der
CHP ist es jedoch genau das Gegenteil. Sie hat inzwischen gelernt, dass man den
Grundlagen der Demokratie treu bleiben muss und mit einem solchen Verhalten dann
auch besser vorankommt.
Der Versuch, die HDP zu schwächen hat
übrigens zum Teil sogar Erfolg gehabt. Nach Umfragen verliert die HDP im Westen
des Landes Stimmen, die dann meist zur CHP rückwandern. Im Osten passiert jedoch
genau das Gegenteil. Dort bekommen sie immer mehr Zulauf, da ehemalige AKP-Wähler
zur HDP wechseln.
Liegt
hier nicht eine Gefahr für die HPD, dass sie durch diese Entwicklung nach außen
hin wieder mehr als eine kurdische Partei wahrgenommen wird und weniger als
eine Landespartei mit breitem demokratischen Anspruch?
Genau das ist die Gefahr und genau
das wollte die HDP eigentlich vermeiden. Die HDP ist ja als eine Landespartei
gegründet worden. Wenn sie nun durch diese äußeren Umstände dazu gezwungen
wird, eine Regionalpartei zu werden, dann ist das nicht nur für die HDP sondern
auch für die Türkei insgesamt ganz schlecht. Und nach den letzten Umfragen verliert
die HDP durch diese Entwicklung auch Stimmen. Zwar wird sie den Einzug ins Parlament
nicht verfehlen. Das wird nicht passieren, denke ich. Und das ist sehr wichtig,
denn sie wird dadurch auch Gelder von der Staatskasse bekommen, ihre finanzielle
Situation verbessert sich, und das wird sie weiter stärken.
Aber die Einschüchterungspolitik
gegenüber der HDP hat noch ein weiteres negatives Ergebnis. Wenn überall die
Bürgermeister der HDP verhaftet werden, sie physisch und psychisch bedrängt
werden, erinnert das sehr an diese verheerende Staatstradition den Kurden
gegenüber.
D.h.
die AKP hat übernommen diese Angst bei den Kurden wieder zu re-aktivieren?
Ja, man will, dass sie wieder
solche Angst haben, wie es früher war. Nur so kann man ihr Selbstbewusstsein
und ihre aufkommende Stärke eindämmen, wird gedacht. Und man will das wohl
unbedingt noch erreichen, bevor es der HDP gelungen ist, eine Landespartei,
sozusagen eine Partei "der
Türkei" zu werden. Wie weit diese Einschüchterung funktionieren wird und
ob diese klassische türkische Unterdrückungspolitik noch einmal erfolgreich
sein wird, das hängt sicherlich in großem Maße auch von der CHP ab, wie weit es
dieser gelingt, sich mit aufzulehnen und sich dem entgegen zu stemmen.
Ich
kann mir gut vorstellen, dass in der CHP verstanden wurde, dass sich hier etwas
verändern muss. Es gibt jedoch in Stellungnahmen die Erwähnung, nach den Wahlen
wolle man mit der MHP eine Koalition eingehen. Wie verträgt sich das nun
wiederum miteinander?
Naja, genau das habe ich am Anfang
ja gesagt. Natürlich hat man in der CHP auch Ängste. Man kann sagen, die HDP
ist eine völlig revolutionäre Neuigkeit in der türkischen Parteienlandschaft. Und
wenn es ihr gelingt, eine Landespartei zu bleiben, wird das auch so etwas wie
eine Revolution bedeuten in der Türkei.
Aber auch die CHP macht eine nichtethnische
Politik – und das finde ich im Grunde genommen ganz richtig – also weder türkisch,
kurdisch, armenisch usw.. Sie macht sozialdemokratische Politik. Dennoch hat
sie im Hinterkopf immer auch noch Angst vor dem Loslassen dieser
kurdisch-türkischen Differenzierung. Und das zu Recht. Vielleicht muss man den
Kurden erst einmal so etwas wie eine positive Diskriminierung entgegenbringen,
da sie so lange unterdrückt worden sind. D.h. man muss Verständnis für ihre
Situation in der Bevölkerung wecken. Zum anderen muss es aber dennoch gelingen,
die vorhandenen Ängste bei den Kurden wieder einzudämmen, man wolle sie durch
einen Putsch, durch das Militär, oder eben durch die AKP in die Zeit der neunziger
Jahre rückversetzen.
Ja,
es muss verstanden werden, dass diese Zeit vorbei ist, auch wenn Ähnlichkeiten
sichtbar sind. Aber wie kann so etwas funktionieren, wenn doch seitens der
AKP unter Beteiligung der MHP gerade Gegenteiliges vorangetrieben wird?
Ich denke, dass genau wird Aufgabe für
die CHP in der Zukunft sein. Es geht nicht mehr darum, diesen Zwiespalt weiterhin
offen zu zeigen, sondern hinüberzuführen in ein gemeinsames demokratisches
Handeln, damit sich diese neuen Ideen etablieren können. Hinderlich sind dabei alte
Ängste in der CHP selbst, die wir zu verstehen haben, denn in der CHP sind ja
immer noch viele Kemalisten. Sie sind eine große Fraktion in dieser Partei. Und
gerade das sind die Stammwähler, die es nicht zu verlieren gilt. Ebenso sind in
der MHP viele Nationalisten, wodurch dieser Koalitionswunsch dann wiederum auch
verständlich wird.
Es
wird ja nun wohl Wahlen geben, obwohl offensichtlich ist, dass auf legalem Wege
eine Mehrheit für die AKP schwerlich noch zu erreichen ist, schenkt man den
Umfragen Glauben. Wir hatten ja überlegt, ob nicht eine Tendenz vorhanden ist,
z.B. über eine Forcierung der gegenwärtigen Kriegspolitik der Regierung, eine solche
Wahl verhindern zu wollen. Dies erscheint nun nicht mehr so, die befürchtete
Eskalation – so schlimm die Ereignisse waren – ist ausgeblieben. Was sind
wohl die Hintergründe, dass diese Ideen – die ja vorhanden waren – wieder
verworfen wurden? Müssen wir hier nicht auch die Entwicklungen im Syrienkrieg
in unser Denken einbeziehen? Hat Putin Erdoğan in seine Schranken verwiesen,
was dann wiederum Auswirkungen auf sein innenpolitisches Verhalten hat? Wie
siehst Du das?
Natürlich hat diese Entwicklung
eine bedeutende Wirkung auch hier in der Türkei. Zum ersten Mal scheinen die
Russen und ihre Koalition die Islamisten doch wirklich zu bekämpfen und zwar
so, wie sie bekämpft werden müssen, nämlich nicht nur einfach aus der Luft. Dieser
strategische Ansatz der Koalition um die USA ist doch ziemlich erfolglos geblieben.
Und wir wissen heute auch, dass die Türkei es mit ihrem Engagement in dieser
Koalition gar nicht so sehr ernst gemeint hat.
In
den Kommentaren zum Syrienkrieg wird den Russen immer wieder vorgeworfen, dass
sie gar nicht den IS bekämpfen wollen, sondern alle diejenigen, die gegen
Assad kämpfen. Sie haben sich kurzerhand über diese Differenzierung zwischen
moderaten und nicht-moderaten Rebellen hinweggesetzt. Radikal-islamistisch oder
nicht, das spielt für sie nicht die primäre Rolle. Kommt das bei euch in der
Türkei auch so an?
Genau, das kommt auch hier rüber
und genau das hat auch seine Wirkung. Auf der einen Seite werden weiterhin
trotzig die moderat genannten Islamisten unterstützt, auf der anderen Seite verbreitet
sich jetzt dann aber doch in der Öffentlichkeit die Meinung, dass diese Moderaten
eigentlich gar keine solch Moderate sind, dem IS gar sehr ähnlich sind oder
mit ihm zusammenarbeiten. Und noch eines kommt hinzu, was die Stimmung im Land anheizt. Dieser Krieg wird hier sehr als ein persönlicher gesehen. Es ist Erdoğans
Krieg sozusagen.
Stop,
welcher Krieg wird hier persönlich genommen? Erdoğans Krieg gegen Assad oder sein
Krieg gegen die Kurden? Denn es ist ja nicht mehr nur ein Krieg gegen die PKK, der
da unter allen Umständen geführt werden soll und der sich angeblich "gegen
den IS" richtet. Ist der Krieg gegen die Kurden dann eigentlich nicht auch mehr
ein Krieg gegen das Assadregime? Denn die Kurden schwächen ja gerade diejenigen
Rebellengruppen, die gegen Assad kämpfen. Und verkauft wird diese kriegerische
Auseinandersetzung dann als Selbstverteidigung gegen die angebliche Bedrohung
einer Spaltung der Türkei durch die kurdische Bewegung? Somit hätte der Krieg
gegen die Kurden zwei Dimensionen – die Rebellengruppen die gegen Assad sind –
den IS mit eingeschlossen – zu stützen und über die Gleichsetzung bzw. die
beschworene Nähe der HDP zur PKK diese im Inland zu schwächen.
Ja, das kann man auch so sehen. Das
würde auch gut zu Erdoğans Politikansatz passen. In meinem Blog habe ich ja
geschrieben, seine Politik und die seiner Leute ist für mich eine "theologische Politik". Und eine solche theologische Politik kennt nur
eine einzige Wahrheit, ja, sie wird sogar als eine "heilige Wahrheit" gesehen.
Eine
"heilige Wahrheit" von deren Standpunkt aus Politik gemacht wird,
wäre dann eine von Gott so gewollte Politik und damit unangreifbar?
Ja, und wenn man so denkt, dann ist
es auch verständlich, warum keine Koalitionen möglich sind, denn dann ist diese
Politik nicht mehr heilig und einzigartig, d.h. nicht mehr von Gott bestimmt.
Somit ist es dieser Gruppierung im Grunde auch gar nicht möglich die Macht mit
einer anderen Gruppen zu teilen. D.h. alles, was von außen herangetragen wird,
muss dann auch konsequenterweise bekämpft und als Bedrohung angesehen werden:
Kurden, Assad, wer auch immer und die HDP natürlich auch.
Als
ich in Istanbul war haben wir über die Entstehung des kurdisch-türkischen
Konfliktes diskutiert. Kommt jetzt ein weiterer Aspekt hinzu, indem er sich nun
mit dem Syrienkonflikt neu verknüpft? Richtig? Und dennoch muss das ja doch auch
eine sehr alte Feindschaft sein, wenn man bedenkt, dass Öcalan im Jahr 1979 in
Syrien Zuflucht suchte, um von Damaskus aus den Kampf gegen die Türkei weiter
zu organisieren und Syrien auch nach einer Kriegsdrohung durch die Türkei diesen nicht ausgeliefert hat.
Ja, es sieht wirklich so aus. Syrien
spielt in dem ganzen Gefüge noch immer eine wichtige Rolle, was ich bisher in
diesem Zusammenhang so nicht im Blick hatte. Und weil es auch ein sehr "persönlicher" Krieg ist und
Erdoğan auch auf diese Weise ja scheinbar besiegt wird bzw. werden kann,
dadurch, dass nun auch die Russen eingreifen, werden manche Emotionen noch verständlicher.
Naja,
es ist ja auch sehr offensichtlich. Assad fliegt nach Russland und Erdogan wird
von Putin nicht informiert, jedoch alle anderen involvierten Kriegsparteien. Die
Länder der Nato wurden einbezogen, das Natoland Türkei an der Grenze zu Syrien
jedoch nicht. Das ist eine Taktik, die die Türkei auch in der Nato noch weiter
in die Isolation treibt.
Genau, das ist absolut richtig. Als
die Türkei den Stützpunkt Incirlik endlich für die Amerikaner geöffnet und
bekannt gegeben hat, mit diesen gegen den IS zu kämpfen, versuchte sie doch eigentlich
nur, ihre Isolation in der Nato durchzubrechen. Auch die Einladung der
deutschen Kanzlerin – wie immer sie auch zustande kam – ist als ein Erfolg für
die Türkei zu sehen und als ein Versuch, diese Isolation zu beenden. Die Türkei ist
mittlerweile völlig isoliert. Keiner mehr außer Katar und Saudi Arabien – wer
ist denn da noch übrig geblieben als außenpolitischer Partner? Und warum ist
das so? Weil man der Türkei nicht mehr vertraut. Wenn man kontinuierlich immer
lügt oder das Gegenteil von dem tut, was man verkündet – und das hat die Türkei
wirklich oft gemacht – dann brauchst du
dich doch nicht zu wundern, wenn du isoliert wirst.
Wie oft wurde gesagt, dass die
Türkei den IS nicht unterstützt und keine Waffen schickt. Heute weiss man in der
Türkei – und das verdanken wir auch der internationalen Presse – dass dies
nicht stimmt. Aber es gibt keine Entschuldigung von Regierungsseite, keine
Umkehr, keine Eingeständnisse. Die Doppelstrategie wird einfach weiter
verfolgt. Da wundert diese Isolation eigentlich niemanden mehr. Und das wirkt
sich mittlerweile auch sehr negativ auf die gesamte Situation im Land aus. Wenn
wir einmal sehen, wieviele Milliarden Dollar die Türkei seit dieser
Krisensituation wieder verlassen haben, das sind ebensoviel, wie das Land durch
die Privatisierungen insgesamt eingenommen hatte, und dieser Verlust geschah in
solch einer kurzen Zeit! Das Vertrauen in die Türkei ist weggeschmolzen.
Aber
bezogen auf die Aktivitäten vom IS im Land, ändert sich da nicht doch einiges? Insbesondere
seit dem Bombenanschlag in Ankara? Ist vielleicht etwas mehr Vorsicht zu bemerken,
bezogen auf die schleichende staatliche Islamisierung des Landes durch die AKP?
Ich denke nein, wenn Du die
Islamisierung von oben meinst. Im Grunde ist es ja Erdoğan der dieses Land
führt. Und er ist bekannt für seine Trotzhaltung, dass er auch bei Fehlern
nicht umkehrt oder umdenkt, sondern seine einmal eingeschlagene Richtung bis
zum bitteren Ende durchzieht. Er wird diese Islamisierung weiter vorantreiben. Aber
sie kommt in der Bevölkerung nicht mehr an und bewirkt das Gegenteil, denn in
der Bevölkerung ist eine De-Islamisierung zu bemerken. Und diese Gegenbewegung
beschleunigt natürlich den Fall der AKP-Macht an der Basis.
Lass
uns abschliessend noch an die Wahl am Sonntag denken. Nehmen wir an, es finden
reale Wahlen ohne großartigen Betrug statt, wie sie Whistleblower Fuat Avni
angedeutet und bereits dokumentiert hat. Erdoğan muss doch auch mittlerweile
begriffen haben, dass die AKP nicht mehr allein regieren wird. Das muss in den
Köpfen von ihm und in den Köpfen der AKP drin sein. D.h. alle müssen sich auf die Etablierung
einer Koalitionsregierung einstellen und wohl auch einlassen. Eigentlich müsste
Erdoğan dann doch auch begriffen haben, dass es mehr darum gehen wird, seinen
Kopf zu retten und nicht darum, Sultan des Landes zu werden, oder?
Genau. Es gibt viele Anzeichen, dass
er sich um sich selbst sorgt und weniger um das Ergebnis der Wahl und um das Wohl des
Landes. Interessant ist auch, dass aus diesen Reihen niemand über eine
Koalition ein Wort verliert. Und Erdogan selbst kann mit einer Koalition nicht existieren.
Real könnte er schon, aber – wie ich dir gesagt habe – diese Art des
theologischen Prinzips seiner Politik, er, als eine von Gott bestimmte Person,
ein gottgefallener Führer, da diese Vorstellung bei ihm fest verankert zu sein
scheint, kann er keine andere Richtung einschlagen. Er hat sie sich selbst
verstellt. Es wird wahrscheinlich über neue Tricks nachdenken, um weiterhin
alleine regieren zu können, wiederum Neuwahlen. Aber inwieweit das türkische
System das alles weiter mittragen kann oder wird, ist eine andere Frage. Ich
denke, man hat hier eine Grenze erreicht, über die man sich nicht mehr
hinauswagen sollte.
Entweder wird akzeptiert, eine
Koalition zu gründen - möglicherweise mit der MHP. Aber auch dann wird er diese
Koalition immer wieder zum Stolpern bringen. Eine Koalition der AKP-MHP wird drei,
höchstens sechs Monate überdauern. Was dann wäre? Wieder Neuwahlen? Oder
Passivisierung Erdoğans? Wir
werden es sehen. Nur eine Sache ist noch wichtig. Die jetzige Regierung ist
eine Wahlregierung. Und diesmal haben die Parteien lediglich zehn Tage Zeit,
eine neue Regierung zu gründen. Wenn sie das nicht hinkriegen, dann ...
Aber
beim letzten Mal haben sie das innerhalb von zwei Monaten nicht hingekriegt?
Genau. Aber diesmal ist eine Wahlregierung an der Macht und nach
unserer Verfassung kann der Staatspräsident, also
Erdoğan, nach zehn Tagen die Initiative ergreifen und jemanden beauftragen, eine neue
Regierung zu gründen - in dem Fall wieder Davutoğlu - und anschließend falls so schnell keine Regierung gegründet wird, erneut Neuwahlen ausrufen.
Das erlaubt eine Gesetzeslücke, die Erdoğan ausnutzen könnte, obwohl mehrere
hochgradige Akademiker und Richter sagen, dass alles wie beim letzten Mal
verlaufen müßte. Naja – in diesem Zeitraum könnte vieles passieren.
Was
meinst Du damit?
Falls Erdogan bei seiner
Trotzhaltung bleibt, könnte AKP sich spalten und könnte eine neue Partei
entstehen. Es könnte z.B. eine große Koalition aus Rest-AKP, MHP und CHP
entstehen. Falls die Wahlregierung weiter an der Macht bleibt, könnte sie gestürzt
werden. Gerade erst waren die Zeitungen voll mit einem Interview mit dem ehemaligen zweiten Mann in der Partei Bülent Arınç, der andeutete, dass nach den Wahlen
viel passieren könnte. Ich denke, dass dies ist Erdoğans letzte Wahl sein könnte. Entweder knickt er ein und bewilligt eine Koalition, was ihm schwer fallen wird, oder
er wird gezwungen dies zu akzeptieren, indem AKP sich spaltet und Erdogan de facto
entmachtet wird.
Wieso auch Deine Idee eines Sturzes der
Regierung?
Es ist gegenwärtig schwer, die
Institutionen einzuschätzen, die Armee, den Geheimdienst, die Polizei, die
Justiz. Zu wenig dringt an die Öffentlichkeit. Aber eines ist gewiss, es hat
viele Säuberungen in diesen Institutionen gegeben, das machte keinem Beamten
Freude. Es herrscht eine große Verunsicherung in den Behörden und in der Bürokratie,
aufgrund der vielen Pensionierungen, Entlassungen und Umstellungen. Ungewissheit
verstärkt nicht unbedingt die Loyalität zu denjenigen, die diese Ungewissheiten
produzieren und dadurch herrschen wollen. Ich denke, auch hier ist eine Grenze
erreicht worden. Wenn man vieles gekappt, verschleiert und viele mundtot
gemacht hat, das Wissen und die Informationen von all diesen Fällen sind immer noch
irgendwo vorhanden. Vieles deutet darauf hin, dass alles streng dokumentiert
wird - für später. Und so tauchen sie plötzlich irgendwo im Internet wieder
auf, sehr genaue Informationen und Dokumente, in Twitter zu lesen - zum
Beispiel - mit Drohungen wie, "ihr
werdet eines Tages vor Gericht stehen". So versuchen sie sich auf eine gewisse
Weise vor der Willkür der Staatsspitze zu schützen. "Passt auf", soll das heissen, "wir wissen alles über euch, und eines
Tages können wir es gegen
euch einsetzen."
Erst werden wir aber sehen, ob sich die Befürchtungen von Fuat Avni bewahrheiten,
und verfolgen, wie die Wahl ablaufen wird. Es deutet etliches darauf hin, dass es nicht
einfach werden wird.