Teppiche I


Als ich im September 2017 neu in Jordanien ankam, wunderte ich mich über die allgegenwärtigen Teppiche. Sie hingen überall - in der prallen Sonne oder unter den Vordächern der Geschäfte in Ammans Strassen. Modisch oder kitschig, mit bunten Muster, Landschaften oder Bildern vom Meeresgrund. Wie überdimensionale Gemälde lagen sie über Stangen geworfen, undurchdringlich, als wollten sie dem Staub der heissen Wüstenwinde trotzen und ihn abhalten, in die Ritzen der Gebäude einzudringen, um dieses leicht prickelnde Gefühle feiner Sandkörner unter den Füssen der Barfusslaufenden zu verhindern.

Beim Besuch bei einer Freundin entdeckte ich sie erneut - zusammengerollt und gestapelt im Vorraum der Wohnung. "Ich habe sie noch nicht weggeraeumt. Sie wurden gerade erst von der Reinigung gebracht", erklaerte sie mir, als sie, meinen erstaunten Blick verfolgend. "Wir werden sie ja bald brauchen."


Warum diese Teppiche ueberall, und dass bei dieser Hitze? War die Tradition, den Sand der Wüste mit Teppichen zu bedecken, aus den Beduinencamps mit in die Städte eingewandert? So wie ich es aus dem Irak und Ägypten kannte - wo Teppiche den Boden der Zelte bedecken, ein Tuch darübergelegt wird und darauf die Speisen plaziert werden?

Auch in  den Häusern der Stadt sind sie allgegenwärtig. Im Empfangsraum, wo die Sitzgelegenheiten an den Wänden entlang aufgereiht sind, wird nach der Begrüssung Platz genommen. Zum Essen wird der Teppich in der Mitte des Raumes freigeräumt, ein Tuch darauf ausgebreitet, und die Speisen darauf angerichtet. Um das Mahl herum werden Kissen gelegt, auf die sich alle niederlassen. Nach dem Essen wird das übriggebliebene hinausgetragen, das Tuch zusammengefaltet und entfernt, und die Gaeste kehren auf ihre Plätze in den Sesseln an den Wänden zurueck. Die Kissen verschwinden, und der Tee wird auf kleinen Beistelltischen serviert. 
Einst von Beduinenfrauen kunstvoll gewebt, sind Teppiche heute oft maschinell gefertigte Massenware, und anstelle aus Schafwolle mit anderen Materialien hergestellt. Doch die Tradition, gemeinsam auf dem Teppich zu essen, lebt weiter - eine kulturelle Praxis, die ich bis heute in einigen jordanischen Familien erlebe.


Besonders wichtig werden die Teppiche in den kurzen, aber kalten Wintermonaten. Denn es wird kalt hier in Jordanien. Tagsüber wärmt die Sonne selbst im Dezember noch kräftig, doch sobald sie am Abend verschwindet, werden Tücher um Kopf und Schultern geschlungen und Jacken hervorgeholt. Wenn die Herbstwinde die Regenwolken herbeiziehen, dauert es nicht lange, bis es in den Wohnungen eisig wird. Zentralheizungen sind selten, stattdessen gibt es mobile Gasöfen oder Klimaanlagen, die - wie eine Wärmepumpe - auf Heizen umgestellt werden können. Doch ihr leises Surren wird begleitet vom unüberhörbaren Ticken des Stromzählers. Daher beginnt jetzt die Zeit der Teppiche. Egal wo ich hinkomme - überall sind nun die bunten Bodenbedeckungen ausgerollt, um das Frieren auf den  kalten Steinfliessen zu verhindern, denn die Schuhe bleiben vor der Tuer.

Im September eingezogen, liess der aufziehende Winter, auch die Wände langsam auskühlen. Ich sah Freundinnen mit Pudelmützen oder Plüschanzügen mit Hasenohren - alles wurde genutzt, um der schleichenden Kälte in den Wohnungen zu trotzen. Auch ich musste mich vorbereiten, für meinen ersten Winter in Jordanien, denn die Steinfliessen, die im Sommern angenehm kuehl wirken, verwandeln sich schnell in eine eisige Fläche. Flauschige Hausschuhe - 'made in China' - wurden gekauft, gerade mal haltbar für einen Winter. Und natürlich brauchte auch ich nun Teppiche und machte mich auf die Suche.

Ich lief durch die Stadt. Maschinell gefertigte Stücke in allen Grössen und Farben - doch nichts, was mir gefiel.  Aber es musste sie doch noch geben, die Teppich, wie ich sie kannte: in klassischen Farben mit den traditionellen Mustern der Region, gewebt aus Schafwolle von der lokalen Bevölkerung. Und tatsächlich - irgendwann fand ich sie, die Teppiche meiner Vorstellung, in dem kleinen Städtchen Madaba, in dem ich seit damals lebe.


(Wird fortgesetzt)






 









Al-hisan - Das Freiheits-Pferd im Lager von Jenin




Von CHH - Dezember,  2024


Die Vor-Geschichte ist schnell erzaehlt. Im März 2002 ist Dr. Khalil Suleiman während des Einmarsches der Besatzer in das Lager Jenin im Rahmen ihrer Militäroperation 'Schutzschild' (1) auf dem Weg, ein verletztes Mädchen zu behandeln. Der Krankenwagen, in dem er unterwegs ist, wird von einer Brandbombe getroffen, abgefeuert von der israelischen Armee. Dr. Khalil Suleiman wird getötet, und zwei seiner medizinischen Mitarbeiter sind schwer verletzt. Zu seinen Ehren wird das staatliche Krankenhaus später nach ihm umbenannt.

Und da ist noch dieses Pferd am Eingang von Jenin, als Mahnmal und Zeichen des andauernden Widerstandes, und zum Gedenken an die vielen helfenden Hände gegen die militärischen Zerstörungen während der andauernden Besatzung. Der deutsche Bildhauer Thomas Kepler baute es zusammen mit Jugendlichen und Bewohnern, als er 2003 das Lager besuchte. „Das Pferd, das nun hoch erhoben und stolz dasteht" beschreibt der palästinensischer Politiker Issa Qaraqe "wurde aus den vielen Kugeln gebaut, die in den Straßen und Gassen des Lagers gesammelt, sowie aus den Überresten der zerstörten Häuser, die über den Köpfen ihrer Bewohner abgerissen wurden.“ (2). Als Kepler die Statue mit Wrackteilen von den beschädigten Autos umspann, waren unter diesen auch Teile des Krankenwagens, in dem Dr. Khalil Suleiman getötet worden war. Ein Metallstück mit der Aufschrift "Red Crescent Society" soll an die andauernden Angriffe auf medizinisches Personal in ganz Palästina erinnern. Die Statue wurde an dem Ort errichtet, der als provisorischer Friedhof für die Gefallenen der damaligen Schlacht dient. Der Kopf des Pferdes zeigt in die Richtung der Stadt Haifa, aus der die meisten Bewohner des Lagers Jenin vertrieben wurden.
Zwanzig Jahre hat das Flüchtlingslager Jenin ihr Freiheitspferd behalten, bis es von den Besatzungstruppen im Oktober 2023 vom Osteingang des Lagers entfernt wurde. Bei ihrem Angriff auf Jenin griff die Besatzungsarmee das Pferd nicht nur an, sondern sie "verhaftete" es. Sie schleppte es einfach weg. Ein Bulldozer fuhr mit dem Pferd am Regierungskrankenhausgenau vorbei - und mit ihm die Überreste des Krankenwagens, in dem Dr. Khalil Suleiman ermordet wurde - und verliess mit ihm das Lager.



"Sie haben uns das Pferd gestohlen", ist von den Bewohnern in Jenin zu hören, "um die Erinnerung an ihre Taten auszulöschen." Aber man kann Geschichte nicht auslöschen. Denn das Pferd wurde genau an dem Ort errichtet, an dem im April 2002 das Massaker an den Bewohnern des Lagers stattfand. Man kann dieses Denkmal zwar stehlen, aber es wird nicht gelingen, die Erinnerung an seine schmerzhaften Mahnungen zum Schweigen zu bringen. Längst ist das Jenin-Pferd weit über die Grenze des Lagers hinaus zu einem Symbol geworden. Es "wiehert in Jerusalem, Gaza und Galiläa," schreibt Isaa Qaraqe und preist seine machtvolle Stimme "Es schützt unsere menschlichen, kulturellen und zivilisatorischen Inhalte vor Entleerung, Auslöschung und Vernichtung." (2)

Denkmäler erinnern in der Zukunft nicht nur an die Vergangenheit."Sie lehren uns auch etwas über die Gegenwart," schreibt Rana Barakat, Dozentin an der Birzeit-Universität, denn "ein Denkmal entsteht aus den Überzeugungen, der Politik und den Anliegen seiner eigenen Zeit." (3) Heute werden diese Zeugnisse „Gegendenkmäler“ genannt, da sie, "anstatt schmerzhafte Erinnerungen sicher und distanziert in gefühllosen Stein zu versenken, die Erinnerung lebendig halten." Solche "Gegendenkmäler" sollen sowohl die Opfer ehren, als auch die Verantwortung an vergangenem und/oder fortdauerndem Unrecht wachrütteln. Rana Barakat sieht das Jenin-Pferd daher als ein solches Gegendenkmal, als ein "Symbol für genau diese Art andauernder Gewalt, die noch nicht beendet ist und so keines Gedenkens oder einer Erinnerung bedarf" (4).

Weil es nicht aber gelingt, den Widerstand in Jenin zu zerschlagen, wird versucht, ein falsches Bild des Sieges zu erschaffen, indem Erinnerungen einfach aus dem Weg geschafft werden, so, als hätte das Morden in Jenin gar nicht stattgefunden. Im Grunde kann die Entfernung dieser Freiheits-Statue durch die Besatzer als das Symbol ihrer Niederlage gesehen werden und als Mahnung, dass begangenes Unrecht nicht durch Morde und durch das Verschwindenlassen ihrer Symbole zum Schweigen gebracht werden kann.


Der kleine Steine-Verkäufer in Jordanien

Von CHH - September 2024

Es ist schwer, an die Zukunft von morgen zu denken,

wenn wir heute nicht genug zu essen haben.

 

Ich laufe durch Petra. Es ist heiß und staubig. An der Seite der Straße entdecke ich einen kleinen Steinhaufen und blicke um mich, neugierig, wer diese dort wohl platziert hat. Da erscheint er, der Besitzer dieser Steine, der unter einem Busch nach etwas Schatten gesucht hat. „Guck mal, schöne Steine“, preist er seine Ware an und erklärt,“ich mache dir einen guten Preis.“



Sie sind wirklich schön, seine Steine. „Wo hast du sie her?“ „Selbst hier in Petra gesammelt,“ erklärt er stolz. „Jeden einzeln habe ich besonders ausgewählt, guck!“ Er nimmt einen in die Hand, streicht den Staub weg, poliert ihn und reicht ihn mir mit einem Blick, als sei dies ein sehr seltener Edelstein.

 

Dieser Junge berührt mich. Er sollte in der Schule sein. Aber er sitzt in der Hitze unter einem kleinen Busch und versucht, Fremde wie mich zu finden, die seine Situation traurig macht und die ihm dann einen Stein abkaufen.

 

Ich suche mir zwei Steine heraus. Neben mir bleibt eine der vorbeiziehenden Touristinnen stehen. „Schöne Steine“ sinniert sie und fährt fort, als wolle sie sich mir gegenüber entschuldigen, „er tut mir leid, der Kleine, aber ich kann ja meinen Koffer nicht mit Steinen auffüllen.‘

 

Der Junge wickelt die beiden Steine vorsichtig in ein kleines Stück zerrissenes Plastik, so, als verpacke er ein wertvolles Schmuckstück. Ich suche in meiner Tasche nach etwas Geld, finde aber nur einen 20 Dinar Schein. „Kein Problem‘, sagt der Junge jovial und holt aus seiner Hosentasche ein Bündel Geldscheine, um mir den Schein zu wechseln.




Ich gebe ihm fünf Dinar und nehme die Steine, um sie ebenso vorsichtig in meiner Tasche zu verstauen. „Gib ihm doch nicht so viel Geld,“ seufzt da die Touristin. "Wenn Du das überall so machst, dann verdirbst du ja die Preise. Von wo kommst Du denn her?! Hier im Orient musst man mit denen doch handeln! Sonst halten sie dich für dumm und hauen dich übers Ohr. 50 Cent wären doch wirklich reichlich gewesen für diese beiden Steine! Du bist wohl das erste Mal hier in Jordanien. Hier musst Du aufpassen. Sie nennen dir hohe Preise und ziehen dir so das Geld aus der Tasche.“ Kopfschüttelnd zückt sie ihre Kamera und zieht weiter.




Mir hat noch niemand das Geld ‚aus der Tasche gezogen‘ in den sieben Jahren, die ich mich nun schon in diesem Land aufhalte, an einer Deutsch-Jordanische Universität (GJU) arbeite und mit den Studierenden Projekte für diejenigen Kinder aufbauen will, die keine Schule in der Nähe haben und auch von keiner staatlichen oder humanitären Organisation eingesammelt werden, um dann mit Bussen in die nächstgelegenen Schulen gebracht zu werden (1).

 

„Er wird bestimmt ein guter Edelstein-Händler,“ erklärt mir sein Vater, der sich in der Zwischenzeit zu uns gesellt hatte. „Alle müssen mithelfen, in der Familie. Es ist nicht einfach, das Leben hier,“ fügt er etwas verlegen hinzu, wohl wissend, dass der Platz seines Sohnes eigentlich in einer Schule sein sollte. „Er liebt Steine, kann mit Geld umgehen und kennt die Gepflogenheiten der Touristen.“ Der Vater strahlt. “Er braucht keine Schule für diesen Handel, das haben sie mir gesagt. Er muss das aber von klein auf lernen. Dann schafft er das schon!“

 

 

Der Tee ist doch hier im Garten





Vor Monaten bin ich eingezogen, in das Haus. “Können wir sehen, wie es bei Dir aussieht?“ fragt der Hausherr, der die Wohnung nur im Rohbau kennt. Zu Besuch aus Kuwait steht er mit seiner Ehefrau erwartungsvoll vor der Wohnungstür.  Allein, ohne sie, würde er niemals die Wohnung betreten. Die Beiden durchstreifen die Zimmer. Ja, es ist schön geworden, mit den Teppichen auf dem Boden und an den Wänden, mit den Kannen und Töpfen aus Kupfer und Messing und den alten, großen Tonvasen, sagen sie, nicken und gehen in die Küche. 

Die ist groß und geräumig, der Backofen fasst einen Braten für mindestens zwanzig Personen. Familienküche halt, wie hier so üblich in Jordanien. Sie öffnen die Küchenschränke. "Alles da?! Du hast ja alles gekauft!" Neben dem Wasserkocher ein Glas Nescafé und weitere solche Gläser, neu gefüllt mit verschiedenen Teesorten. Sie öffnen alle Gläser, riechen, reden miteinander in ihrer Sprache und lächeln. 

Am Nachmittag führt mich der Hausherr durch seinen Garten. Er lässt mich an den Blättern der Bäume und Büsche riechen. "Tee", sagt er und bricht mir einige Zweige ab. "Der Tee ist doch hier im Garten."

Warum erzähle ich diese Geschichte?
Das Fremde zu verstehen ist nicht immer einfach.
Sich im Fremden zurechtzufinden noch schwieriger.
Das erfahre ich hier in Jordanien täglich. 
Und so mancher steht dann plötzlich vor einer verschlossenen Tür.

Eine deutsche Austauschstudentin kommt überraschend an unsere Hochschule zurück. Ihr wurde die Praxisstelle in Palästina gekündigt. Sie hat sich dort nicht an die Regeln gehalten und musste innerhalb von 24 Stunden das Land wieder verlassen. Nun sucht sie einen Job in Jordanien, sagt sie. Sie kann erst einmal bei mir wohnen, sage ich. Dort angekommen, trifft sie im Garten den Hausherrn. Wir erklären ihm, was passiert ist. Freundlich lädt er sie zum abendlichen Iftar ein, zum Fastenbrechen mit seiner Familie. Die junge Frau bedankt sich und verabschiedet sich mit den Worten „… dann bis später“, taucht jedoch am Abend nicht wieder auf. „Wo ist das Mädchen?“ werde ich von den Gästen gefragt, denn es hat sich blitzschnell herumgesprochen, Doctora bringt jemanden aus Deutschland mit. Ich weiss keine Antwort. „Sie ist nicht gekommen.“  Schweigen. Vielsagende Blicke. „Sie nimmt meine Einladung nicht an, aber sie will in meinem Haus wohnen,“ kommentiert der Hausherr mit hochgezogenen Augenbrauen. Sie wird sich nach einer anderen Wohnmöglichkeit umsehen müssen.

Das Verwundern darüber, dass etwas so ganz anders interpretiert und gesehen wird, als man das selbst tut. Das Bemerken von ganz klaren Grenzziehungen: Ihr seid zwar willkommen hier im Land, aber die Grenze des für Euch Erlaubten, die setzen wir, die bestimmt nicht Ihr. Dies alles ist Kolleginnen und Kollegen aus Deutschland nicht immer leicht zu vermitteln.

Ein Forscherteam aus Deutschland führt ein Projekt mit Jugendlichen aus Deutschland und Jordanien durch. Es hat unsere Hochschule als Kooperationspartner angefragt. Das Projekt ist von deutscher Seite bereits durchgeplant und in Deutschland so genehmigt. Wir stellen jedoch sehr differierende Vorstellungen fest und bitten um ein Gespräch. Wir halten einen  Workshop für Mädchen und Jungen mit gemeinsamer Übernachtung der Gruppe für problematisch und schlagen ein Tagungshaus in der Nähe des Wohnortes vor, damit die Jugendlichen zu Hause übernachten können. Des Weiteren bestehen wir darauf, das Thema Sexualität als absolut tabu zu betrachten. Warum? Weil so etwas in Jordanien halt nicht geht.  Lediglich letzterem stimmt die Forschungsgruppe aus Deutschland mit Kopfschütteln zu. Sie finden eine Schule mit Tagungshaus, dessen Direktor sich bereit erklärt, eine gemischte Jugendgruppe für das deutsche Team zusammenzustellen.

Der Workshop soll die vorhandene Fremdenfeindlichkeit und den zum Teil vorfindlichen Hass auf Andere in Deutschland behandeln. Ich treffe mich mit den jordanischen Pädagoginnen, die angefragt wurden, um den Workshop durchführen. Sie planen, nicht die Ablehnung von Fremden, sondern die Willkommenskultur in Jordanien zu thematisieren, so, wie sie überall im Land praktiziert wird, und ich bin sehr neugierig auf die Ergebnisse.

Nach dem Ablauf des Workshops dann plötzlich ein Anruf, wir müssen sprechen, unbedingt, es gab Probleme, mit dem deutschen Team, mit den Jugendlichen, mit dem Ablauf, ja, eigentlich mit Allem. Wir vereinbaren ein Treffen. Die beiden Frauen sind sehr zurückhaltend, sehr zögerlich. Doch dann bricht es aus ihnen heraus: Es war so respektlos, so unhöflich. Und vor allem hätten die Deutschen einen Film mit Szenen gezeigt, die mit der Kultur des Landes nicht vereinbar seien. Ich bin erstaunt, denn ich kenne den Film und habe ihn selbst oft mit Jugendgruppen zusammen angesehen. Es sind unsittliche Szenen, wird mir erklärt. Noch immer verstehe ich nicht, worum es geht. Nach meiner Ansicht gibt es in dem Film keine 'unsittlichen Szenen'. Eine der Pädagoginnen öffnet ihren Laptop und zeigt mir ihre Screenshots. Küssende Paare; eine von einem Mann an die Wand gedrängte Frau, halb ausgezogen, eine Szene 'mit eindeutigen Absichten'; Jugendliche - Mädchen und Jungen – auf einer Party, Bierflaschen schwenkend. Dialoge, die, falls in den arabischen Untertiteln so übersetzt, als Fäkal- oder als sexualisierte Sprache zu beschreiben sind. Was war geschehen? Nicht die Originalversion aus dem Jahr 1981 war gezeigt worden, sondern eine Neuverfilmung, "angepasst" mit stereotypen Bildern "DER Jugend von Heute".

Die jordanischen Jugendlichen waren schockiert. Solche Szenen gibt es nicht in den Spielfilmen, die im Lande ausgestrahlt werden. Ja, sie sind sogar verboten und werden von der Zensurbehörde herausgeschnitten. Einige der Jugendlichen verliessen sogar den Vorführraum. All das wurde vom deutschen Team in seiner Tragweite offensichtlich so überhaupt nicht wahrgenommen. Man versuchte sich im anschliessenden Gespräch auf die Story zu konzentrieren und aus einzelnen Szenen Verhaltensstrategien der Jugendlichen im Film zu beschreiben. Mit den jordanischen Betreuern hingegen thematisierten die Jugendlichen ihren Schock über diese sexuellen Szenen im Film und diejenigen mit den alkoholtrinkenden Jugendlichen. Das waren für sie nun die bleibenden Bilder 'der' Jugendlichen in Deutschland. Niemand vom deutschen Team erfuhr von diesen Debatten, sie fanden in Arabisch statt und unter Abwesenheit der Deutschen.



Hier war offensichtlich das geschehen, was während meiner Ausbildung als der "Huhn"-Effekt bezeichnet wurde, basierend auf einer Geschichte, die in fast jedem Ethnologie Seminar irgendwann einmal auftaucht. Ein Europäer zeigt einen Film in einem Dorf irgendwo auf dem afrikanischen Kontinent. Es geht um den Bau eines Brunnens. Im Anschluss ist er verwundert, als ihm der Übersetzer immer und von dem "das Huhn" berichtet, welches die Dorfbewohner stundenlang beschäftigte. Er wollte einen Brunnenbau erklären, aber dann war da da das mit dem Huhn. Nichts anderes ging mehr. Und er selbst verstand nichts, rein gar nichts von dem, was sich da abspielte. Erst nach mehrmaligem Abspielen des Filmes entdeckte er es dann irgendwann, das Huhn, wie es über die Leinwand lief. Das war es, das, was die Dorfbewohner beschäftigt hatte.

Als Fremde in einem Land machen wir Fehler, die wir selbst gar nicht bemerken. Zum Verstehen braucht es halt doch etwas mehr, als nur eine Reise in das Land eines Anderen.