Vor Monaten bin ich eingezogen, in das Haus.
“Können wir sehen, wie es bei Dir aussieht?“ fragt der Hausherr, der die Wohnung nur im Rohbau kennt. Zu Besuch aus Kuwait steht er mit seiner Ehefrau erwartungsvoll vor der Wohnungstür. Allein, ohne sie, würde er niemals die Wohnung betreten. Die Beiden durchstreifen die Zimmer. Ja, es ist schön geworden, mit den Teppichen auf dem Boden und an den Wänden, mit den Kannen und Töpfen aus Kupfer und Messing und den alten, großen Tonvasen, sagen sie, nicken und gehen in die Küche.
Die ist groß und geräumig, der Backofen fasst einen Braten für mindestens zwanzig Personen. Familienküche halt, wie hier so üblich in Jordanien. Sie öffnen die Küchenschränke. "Alles da?! Du hast ja alles gekauft!" Neben dem Wasserkocher ein Glas Nescafé und weitere solche Gläser, neu gefüllt mit verschiedenen Teesorten. Sie öffnen alle Gläser, riechen, reden miteinander in ihrer Sprache und lächeln.
Am Nachmittag führt mich der Hausherr durch seinen Garten. Er lässt mich an den Blättern der Bäume und Büsche riechen. "Tee", sagt er und bricht mir einige Zweige ab. "Der Tee ist doch hier im Garten."
Warum erzähle ich diese Geschichte?
Das Fremde zu verstehen ist nicht immer einfach.
Sich im Fremden zurechtzufinden noch schwieriger.
Das erfahre ich hier in Jordanien täglich.
Und so mancher steht dann plötzlich vor einer verschlossenen Tür.
Eine deutsche Austauschstudentin kommt überraschend an unsere Hochschule zurück. Ihr wurde die Praxisstelle in Palästina gekündigt. Sie hat sich dort nicht an die Regeln gehalten und musste innerhalb von 24 Stunden das Land wieder verlassen. Nun sucht sie einen Job in Jordanien, sagt sie. Sie kann erst einmal bei mir wohnen, sage ich. Dort angekommen, trifft sie im Garten den Hausherrn. Wir erklären ihm, was passiert ist. Freundlich lädt er sie zum abendlichen Iftar ein, zum Fastenbrechen mit seiner Familie. Die junge Frau bedankt sich und verabschiedet sich mit den Worten „… dann bis später“, taucht jedoch am Abend nicht wieder auf. „Wo ist das Mädchen?“ werde ich von den Gästen gefragt, denn es hat sich blitzschnell herumgesprochen, Doctora bringt jemanden aus Deutschland mit. Ich weiss keine Antwort. „Sie ist nicht gekommen.“ Schweigen. Vielsagende Blicke. „Sie nimmt meine Einladung nicht an, aber sie will in meinem Haus wohnen,“ kommentiert der Hausherr mit hochgezogenen Augenbrauen. Sie wird sich nach einer anderen Wohnmöglichkeit umsehen müssen.
Das Verwundern darüber, dass etwas so ganz anders interpretiert und gesehen wird, als man das selbst tut. Das Bemerken von ganz klaren Grenzziehungen: Ihr seid zwar willkommen hier im Land, aber die Grenze des für Euch Erlaubten, die setzen wir, die bestimmt nicht Ihr. Dies alles ist Kolleginnen und Kollegen aus Deutschland nicht immer leicht zu vermitteln.
Ein Forscherteam aus Deutschland führt ein Projekt mit Jugendlichen aus Deutschland und Jordanien durch. Es hat unsere Hochschule als Kooperationspartner angefragt. Das Projekt ist von deutscher Seite bereits durchgeplant und in Deutschland so genehmigt. Wir stellen jedoch sehr differierende Vorstellungen fest und bitten um ein Gespräch. Wir halten einen Workshop für Mädchen und Jungen mit gemeinsamer Übernachtung der Gruppe für problematisch und schlagen ein Tagungshaus in der Nähe des Wohnortes vor, damit die Jugendlichen zu Hause übernachten können. Des Weiteren bestehen wir darauf, das Thema Sexualität als absolut tabu zu betrachten. Warum? Weil so etwas in Jordanien halt nicht geht. Lediglich letzterem stimmt die Forschungsgruppe aus Deutschland mit Kopfschütteln zu. Sie finden eine Schule mit Tagungshaus, dessen Direktor sich bereit erklärt, eine gemischte Jugendgruppe für das deutsche Team zusammenzustellen.
Der Workshop soll die vorhandene Fremdenfeindlichkeit und den zum Teil vorfindlichen Hass auf Andere in Deutschland behandeln. Ich treffe mich mit den jordanischen Pädagoginnen, die angefragt wurden, um den Workshop durchführen. Sie planen, nicht die Ablehnung von Fremden, sondern die Willkommenskultur in Jordanien zu thematisieren, so, wie sie überall im Land praktiziert wird, und ich bin sehr neugierig auf die Ergebnisse.
Nach dem Ablauf des Workshops dann plötzlich ein Anruf, wir müssen sprechen, unbedingt, es gab Probleme, mit dem deutschen Team, mit den Jugendlichen, mit dem Ablauf, ja, eigentlich mit Allem. Wir vereinbaren ein Treffen. Die beiden Frauen sind sehr zurückhaltend, sehr zögerlich. Doch dann bricht es aus ihnen heraus: Es war so respektlos, so unhöflich. Und vor allem hätten die Deutschen einen Film mit Szenen gezeigt, die mit der Kultur des Landes nicht vereinbar seien. Ich bin erstaunt, denn ich kenne den Film und habe ihn selbst oft mit Jugendgruppen zusammen angesehen. Es sind unsittliche Szenen, wird mir erklärt. Noch immer verstehe ich nicht, worum es geht. Nach meiner Ansicht gibt es in dem Film keine 'unsittlichen Szenen'. Eine der Pädagoginnen öffnet ihren Laptop und zeigt mir ihre Screenshots. Küssende Paare; eine von einem Mann an die Wand gedrängte Frau, halb ausgezogen, eine Szene 'mit eindeutigen Absichten'; Jugendliche - Mädchen und Jungen – auf einer Party, Bierflaschen schwenkend. Dialoge, die, falls in den arabischen Untertiteln so übersetzt, als Fäkal- oder als sexualisierte Sprache zu beschreiben sind. Was war geschehen? Nicht die Originalversion aus dem Jahr 1981 war gezeigt worden, sondern eine Neuverfilmung,
"angepasst" mit stereotypen Bildern
"DER Jugend von Heute".
Die jordanischen Jugendlichen waren schockiert. Solche Szenen gibt es nicht in den Spielfilmen, die im Lande ausgestrahlt werden. Ja, sie sind sogar verboten und werden von der Zensurbehörde herausgeschnitten. Einige der Jugendlichen verliessen sogar den Vorführraum. All das wurde vom deutschen Team in seiner Tragweite offensichtlich so überhaupt nicht wahrgenommen. Man versuchte sich im anschliessenden Gespräch auf die Story zu konzentrieren und aus einzelnen Szenen Verhaltensstrategien der Jugendlichen im Film zu beschreiben. Mit den jordanischen Betreuern hingegen thematisierten die Jugendlichen ihren Schock über diese sexuellen Szenen im Film und diejenigen mit den alkoholtrinkenden Jugendlichen. Das waren für sie nun die bleibenden Bilder 'der' Jugendlichen in Deutschland. Niemand vom deutschen Team erfuhr von diesen Debatten, sie fanden in Arabisch statt und unter Abwesenheit der Deutschen.
Hier war offensichtlich das geschehen, was während meiner Ausbildung als der "Huhn"-Effekt bezeichnet wurde, basierend auf einer Geschichte, die in fast jedem Ethnologie Seminar irgendwann einmal auftaucht. Ein Europäer zeigt einen Film in einem Dorf irgendwo auf dem afrikanischen Kontinent. Es geht um den Bau eines Brunnens. Im Anschluss ist er verwundert, als ihm der Übersetzer immer und von dem
"das Huhn" berichtet, welches die Dorfbewohner stundenlang beschäftigte. Er wollte einen Brunnenbau erklären, aber dann war da da das mit dem Huhn. Nichts anderes ging mehr. Und er selbst verstand nichts, rein gar nichts von dem, was sich da abspielte. Erst nach mehrmaligem Abspielen des Filmes entdeckte er es dann irgendwann, das Huhn, wie es über die Leinwand lief. Das war es, das, was die Dorfbewohner beschäftigt hatte.
Als Fremde in einem Land machen wir Fehler, die wir selbst gar nicht bemerken. Zum Verstehen braucht es halt doch etwas mehr, als nur eine Reise in das Land eines Anderen.