Jugend im Netz – "Boah-eeeh! Der schneidet dem echt jetzt den Kopf ab!"

LaserZone Spiel- und Sportstätte in Essen
Einmal im Jahr stehen Studierende vor mir und stressen, sie hätten keinen Praktikumsplatz gefunden. Zu ihrem erfolgreichen Studienabschluss gehört aber der reflexive Austausch mit der Praxis. Den müssen sie nachweisen. Also müssen sie sich weiter auf die Suche begeben, bis sie irgendwann fündig werden.
Da ist z.B. A., der sich für die Jugendarbeit interessiert. Bei etlichen Jugendhäusern hat er bereits angefragt. Und immer wieder hörte er: "ja, eigentlich sehr gerne. Aber wir haben keinen Bedarf für Dich im Moment. Ganz ehrlich, es ist hier zwar alles sehr schön, aber die Jugendlichen kommen einfach nicht mehr, Du hättest hier fast immer nur leere Räume und würdest Dich nur langweilen." Und so geht die Suche nach den verlorenen Jugendlichen für A. weiter.

Vor einem Jugendhaus in Bad Vilbel

Ich begebe mich selbst auch auf die Suche. Sie sind zum Teil wirklich beeindruckend, diese Jugend-Einrichtungen. Und die Jugendlichen die sich dort aufhalten, die können auch etwas. Hier zum Beispiel haben sie einen LKW fantasievoll bemalt. "Was macht ihr alles damit?" frage ich die Sozialarbeiter im Zentrum. "Naja, wir sind da mal mit rumgefahren", bekomme ich zu hören, "und heute stehen da unsere Fahrräder drin." Es ist nicht das einzige Beispiel, das mir begegnet, wo sich gute Ideen im wahrsten Sinne des Wortes leergelaufen haben, da die Jugendlichen wegbleiben.


Jugendraum mit Kicker und Billard
Esslingen
Und da hilft auch kein Kicker und kein Billard und auch keine Toleranz gegen über extremistischen Ideologien und kein Wegschauen gegenüber weichen Drogen und Alkohol. Kistenweise schleppen Jugendliche das Bier in einem Nordhessischen Dorf in ihr autonomes Jugendzentrum, wenn sie die jährliche traditionelle Zeltkirmes planen. Mehr gibt es dort nicht. Und das Trinken, das gehört nun halt mal dazu, sagen die Älteren. Hier ist doch ansonsten nix mehr los, auf dem Land.
Jugendarbeit heute. Wo gibt es die noch? Ist sie überholt? Oder hat sie versagt? Läuft sie an den Interessen der Jugendlichen vorbei? Nicht überall. Noch immer gibt es Engagierte, die Jugendliche mit spannenden Projekten an sich binden können. Aber es sind wenige. Und so forderte der Kriminologe C. Pfeiffer bereits vor einem Jahrzehnt die Abschaffung der herkömmlichen Offenen Kinder- und Jugendarbeit, da diese aufgrund ihrer Überpädagogisierung überwiegend wie Erziehungscamps, Jugendheime oder Hauptschulen agiere und „in verschiedener Hinsicht sehr belastete Jugendliche zusammenballen“ würde, so dass benachteiligte Jugendliche weiterhin nur unter sich bleiben würden. Eine lebendige Mischung sei für ihn in diesen Häusern kaum noch gegeben. [1] Obwohl wir Pädagogen und Erzieher gegen diese Einschätzung Sturm liefen, sind seine Argumente damals wie heute nicht ganz von der Hand zu weisen, denn ein Stadtteilzentrum ist ein Stadtteilzentrum und ein Jugendzentrum auf dem Land ist eben auch dort verankert.

Wo aber finden wir die Jugendlichen heute in ihrer freien Zeit, wenn sie nicht durch Schulanwesenheitszeiten reglementiert oder durch zu erledigenden Schulkram blockiert sind? Haben sich ihre Interessen etwa gewandelt? Der Medienpädagogische Forschungsverbund Südwest (mpfs) führt in jährlichem Turnus hierzu eine repräsentative Studie durch und hofft, dass diese Daten "zur Erarbeitung von Strategien und Ansatzpunkten für neue Konzepte" in den Bereichen Bildung und Kultur dienen. Doch diese Studien sind offenbar nur den wenigsten Fachkräften in der Jugendarbeit bekannt. Dabei geben sie Hinweise, was Jugendliche gerne machen und wohin der Blick in der Jugendarbeit vielleicht einmal verstärkt gerichtet werden sollte.














Wie schon seit Jahren gewinnen im Vergleich zur Kindheit in dieser Altersphase der autonome Umgang mit Freunden und Peergroups an Wichtigkeit. Auch der Sport spielt eine nicht zu unterschätzende Rolle. Das alles hat sich kaum verändert. Aber eines ist anders geworden: Das Bild vom einsamen, unbeweglichen Jugendlichen, der vor seinem PC-Bildschirm im abgedunkelten Zimmer weltweit vernetzt in Action- und Gewaltspiele versunken ist. Dieses Bild scheint der Realität nicht mehr zu entsprechen. Die Jugendlichen haben sich heute eindeutig anderen Bereichen zugewandt.



Die Beschäftigung mit Computer- und Spielkonsolen oder Onlinespielen ist dem flexiblen Surfen durch das transportable Handy gewichen. Die Jugendlichen sind heute überall auf der Welt zu Hause. Sie vernetzen sich mit dem Rest der Welt und blicken von ihren Geräten kaum noch auf und in das Alltägliche vor ihnen hinein.
Da ist zum Beispiel das Pokémon-Go-Fieber, das gegenwärtig um sich greift. Ausgelöst durch ein virtuelles Spiel, das dazu animiert, das Virtuelle in der realen Welt zu suchen und mit ihr zu verknüpfen.


Einzeln oder auch in Gruppen laufen Jugendliche - und nicht nur die - mit dem Blick auf das Handy durch die Welt, egal ob andere Personen oder gar Fahrzeuge ihnen in den Weg kommen. Sie nehmen Unfälle in Kauf, laufen Strassenschilder um, und das nur, um bei diesem Online-Erlebnis voranzukommen und etwas zu gewinnen. Das perverseste Beispiel kommt aus Bosnien, wo Jugendliche durch vermintes Gelände stapfen, um diesen besonderen Hype des Spiels zu erleben: Ein Spiel bis in den möglichen Tod.


Kaum jemand weiss heute genau, was Jugendliche mit ihren Handys gerade so tun, was sie dort suchen und/oder finden. Eine Kontrolle findet nicht statt, weder zeitlich, noch inhaltlich und ist auch gar nicht mehr möglich. Die Jugendlichen sind zwar präsent und sichtbar, entwischen aber gleichzeitig in eine andere, in ihre virtuelle Welt. Manchmal lassen sie die Aussenwelt am Geschehen in ihren Geräten auch teilhaben.
"Boah-eeeh! Der schneidet dem echt jetzt den Kopf ab!" Es sei dem Aufschrei nicht zu entnehmen gewesen, ob es sich um Entsetzen oder um Bewunderung gehandelt habe, berichtet die Betreuerin einer Hausausgabenhilfe in einem unserer Seminare. Und sie ist nicht die Einzige, der sich wie durch Schlaglicht erhellt, was die Jugendliche denn da so treiben, wenn sie ihnen erlaubt, nach erledigten Hausaufgaben das Handy wieder aus der Tasche zu holen. Sie surfen mit den Keyboard-Jihadisten, den Fanboys und immer öfter auch Fangirls, die mithelfen, die brutalen Foltervideos der Terroristen des selbsternannten Islamischen Staates (IS) in der ganzen Welt zu verbreiten.
Das sei "doch nur Sensationslust, Nervenkitzel, action virtuell und ein Dazugehörenwollen, eine Mode, die vergeht", beruhigen die Einen. "Das gehört heute doch dazu, diese Faszination und Identifikation mit den Salafis, als Auflehnung und Hilfe zur totalen Ablehnung dessen, wie sie sein sollen" wissen die Anderen. Diese Videos – so beruhigt man – würden doch nur von Gerät zu Gerät weiterverschickt. Das wäre doch nichts Neues. Ich bin erstaunt. Ist das eine professionelle Reaktion von ausgebildeten Fachkräften zu einer Form der Auseinandersetzung von Jugendlichen mit Gewalt gegen Menschen bis hin zur Tötung?

Andere wiederum übernehmen mehr Verantwortung und machen sich auf den Weg, diese Jugendlichen, die ihnen doch face-to-face gegenübersitzen, im Netz zu suchen. Und sie finden die Videos, das Propagandamaterial und auch die Rap-Songs, die bei den Jugendlichen gerade in sind, wie z.B. von SadiQ. Hier ein Auszug aus einem seiner Songs:

"Illegal im Benz, in FFM
Komm mit der AK-Al-Qaida Slang
Schieße für Gaza, Guantanamo, Mali ich baller mit Arabern, Pariser renn'
Für Palestine Sham, leb im Ghetto
Der Khorasani wir lieben den Tod
Stürme wie Pogba, Ribery, Benzema,
doch spuck auf den Hand der Équipe tricolore
Schieße, schieße, schieße
Schieße die Kugel ne 9mm 
..." [2]

Ja, das hören sie, die Kopfhörer auf den Ohren und das rappen sie nach, bei ihren Treffs irgendwo in den Ecken und Strassen der Stadt. Doch diese Plätze sind immer schwerer aufzufinden, und auch kaum erkennbar, wenn eine Gruppe sich im Rap-Rhythmus wiegt, mit geschlossenen Augen vor sich hinmurmelnd. Dazu braucht es heute kein Jugendhaus, es reicht eine Bank, ein Handy, Kopfhörer und eine Flatrate. Aber Streetwork kann sich ebenso auch auf die virtuellen Strassen begeben. Denn hier sind die Jugendlichen wieder zu finden, als Einzelne und oder in Gruppen. In ihren Chats, auf ihren Fan-Seiten und manchmal bereits mit ihren Hilfeschreien bei einer der zahlreichen virtuellen Beratungsstellen der Sozialen Verbänden. Vielleicht ist das ein Weg, zu den Jugendlichen zu finden, die zwar körperlich anwesend sind, aber mit ihren Sinnen in einer ganz anderen Welt.

Gehen wir hinein in diese Welt und fragen  die Jugendlichen dort einmal selbst, was mit ihnen los ist. Hören wir auf mit den Workshops zur politischen Bildung, den Mediationskursen gegen Aggression. Sehen und hören wir ihnen doch erst einmal zu, was sie bewegt. Das Netz ist voll von ihren Geschichten, vom Mobbing, von Gewalt, allerorts auf vielfältige Weise erlebt, zu Hause, auf der Strasse, in den Institutionen. Es ist all das "gegen das Du dich nicht wehren darfst, weil DU dann zum Täter wirst, egal was DIR vorher widerfahren ist." 

Warum glauben wir ihnen das eigentlich nicht, oder erst immer dann, wenn es zu spät ist?

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1 Pfeiffer, Christian/ Rabold, Susann / Baier, Dirk (2008): Sind Freizeitzentren eigenständige Verstärkungsfaktoren der Jugendgewalt? In: ZJJ 3/2008, S. 258-268
2 Das zugehörige Video wurde aufgrund einer Entscheidung der Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien mittlerweile aus dem Netz genommen. Zum Thema Rap-Musik als Einstieg ins islamistische Denken demnächst mehr.