Beutefrauen – Ach mein Kind ...

Wenn eine Geschichte überzeugend erzählt werden will, musst sich Erinnerung mit Einbildungskraft verdichten und umwandeln. Geschichten und die Freiheit zur Erfindung, die sie gewährt, bieten die psychische Abschirmung, durch die es überhaupt möglich ist, Themen in Angriff zu nehmen, die sonst für unzugänglich, wenn nicht für sogar unschreibbar gehalten werden. 
(Nach L. Begley - Zwischen Fakten und Fiktionen)

"All die Jahre habe ich fast nie über diese Zeit gesprochen, auch nicht mit meiner Mutter. Ich hätte gern mit ihr geredet, sie über ihre Gefühle befragt. Aber das ist leider nicht mehr möglich." (L. Biallas - Ich war Kriegsbeute)


Wir fahren durch das Dorf. "Das hier, das ist es!" Ein einsames Haus, weit draussen. Birken und Büsche, eine sandige Strasse, mehr nicht. Hier hat sie sich versteckt, meine Mutter. Damals, wenn sie aus dem Dorf zurück kam, weil niemand sie aufgenommen hatte. "Kein Platz!" Und die Türen blieben ihr verschlossen, wenn sie von ihrer Angst reden wollte, ihrer Angst vor den Russen, die immer näher rückten. So blieb sie allein in diesem großen Haus, allein mit ihren Kindern. Da war viel Platz. Und den haben sie sich genommen, "die Russen"als sie kamen, den - und meine Mutter.

"Ach mein Kind... meinst Du, ich hab sie gezählt?" Mutter sprach nicht oft darüber. Ernst blickt sie mich jetzt an, mit ihren klaren blauen Augen und erklärt mir, warum das doch so ganz selbstverständlich sei. Denn es war doch Krieg damals. Deutschland wurde besiegt. Endlich! Und die Frauen waren die Beute. Damals.

"Manchmal konnte ich nicht mehr" fährt sie fort, "dann hab ich mich versteckt. 
Dann, wenn sie wieder mal riefen ‘Fraaaau komm!!' "
Versteckt?
"Ja, auf dem Dachboden, oder, naja, im Schuppen, unter dem Stroh für das Vieh."
Wie? Was?
"Naja, tief eingebuddelt hab ich mich dann. Stroh über mir und einen Strohhalm im Mund, um Luft zu kriegen. Stundenlang. Bis wieder Ruhe war, und sie wieder weiter gezogen sind."

Sie erzählt knapp, wie unbeteiligt, meine Mutter. 
Als erinnere sie irgendeine Filmszene und nicht ihr eigenes Leben. 

Wie hast Du das alles nur ausgehalten?!
"Naja, gar nicht. Es war grausam. Es waren einfach so viele! 
Immer wieder und wieder und wieder ... . 
Aber  man entwickelt Strategien."
Strategien?
"Ja klar, ich musste doch überleben, ich hatte doch Kinder!"
Wie hast Du das gemacht?
"Man lernt sehr schnell. Man kennt die Rangabzeichen der Soldaten. 
Du guckst, wenn sie kommen und suchst dir den Ranghöchsten aus. 
Wenn du ‘deine Sache‘ gut machst, scheucht er die anderen weg, und du hast dann etwas Ruhe."

Und meine Geschwister? Wo waren die denn bei all dem?
"Ach ihr Kinder ! Ihr wart mein Segen! Und mein Fluch zugleich!
Die Russen sind sehr kinderlieb. Sie hatten ihre eigenen Kleinen lange nicht mehr gesehen. 
Ihr seid so süß gewesen, damals. Das hat sie fasziniert.
Mama, mich gab es damals noch gar nicht. 
"Ja. Und ihr habt schnell gelernt! Habt sofort eure Ärmchen nach ihnen ausgestreckt, wenn sie ankamen. Und darüber haben sie mich manchmal vergessen, oder mich dann doch mehr als Mutter gesehen und nicht so als Frau."
Und der Fluch?
"Naja, ihr seid ward klein und habt geheult und mich gesucht, wenn ich mich versteckt hab. Und die Russen warn ja auch nicht blöd, gell?! Und wenn die mich gefunden haben, das war dann hart. Dann setzte es Schläge. Oder einmal, da haben sie einfach alles aus dem Fenster geworfen, alles, was sie greifen konnten. Geschirr, Bücher, Musikinstrumente, einfach alles. Und ich durfte es nicht wieder einsammeln."

Mehr Details verrät sie nicht, meine Mutter. Und ihre Geschichte endet vor dem großen Fluss in meinem Heimatdorf, die Kinder rechts und links an der Hand:

"Ins Wasser wollte ich gehen, mit euch Beiden. Ich konnte nicht mehr. Aber irgendwas hielt mich davon ab, in letzter Sekunde.  Und heute weiß ich, wie sehr er stimmt , dieser Satz: Die Hoffnung stirbt zuletzt, denn sie hat uns alle drei gerettet."




Es ist gut, dass sie verschwimmt, die Erinnerung. Waren es drei Kinder damals, oder schon vier Kinder, oder erst zwei? Es ist unwichtig, heute, wenn sie erzählt, meine Mutter. 

Hierzu:
  • Anonyma: Eine Frau in Berlin. Tagebuchaufzeichnungen vom 20. April bis 22. Juni 1945. Frankfurt am Main 2003.
  • Biallas, L.: Ich war Kriegsbeute "Komm, Frau, raboti". Augsburg 2012.
  • Brownmiller, S.: Gegen unseren Willen. Vergewaltigung und Männerherrschaft. Frankfurt am Main 1978.
  • Eichhorn, S. & Kuwert, PH.: Das Geheimnis unserer Großmütter. Giessen 2011.
  • Sander H. & John B. (Hrsg.): BeFreier und Befreite: Krieg, Vergewaltigung, Kinder. Frankfurt am Main 2008. Dazu der Film.
  • Stiglmayer, A.: Massenvergewaltigung: Krieg gegen Frauen.  Freiburg i.Br. 1993.